Berufstätigkeit und Selbstverwirklichung
Ich will es einmal drastisch formulieren: gibt es ein „Selbst“, das sich als Kassiererin „verwirklichen“ kann? Als Buchhalter? Als Sachbearbeiter für Beihilfefragen? Ich will auf Folgendes hinaus:
Selbst bei menschenwürdiger Entlohnung und bei menschenwürdigen Arbeitsbedingungen gibt es Tätigkeiten, die gesellschaftlich unvermeidbar ausgeübt werden müssen, die aber wenig bis gar nicht mit „Selbstverwirklichung“ in Kongruenz zu bringen sind (apropos: ein prima Kapitalismus wäre das, der ein solches Tätigkeiten-Tableau in seiner Arbeitswelt hingekriegt hätte!). Und dieser Mangel ist schlicht deshalb zu konstatieren, weil der Mensch mehr ist als das, was er von sich selber in seiner Berufstätigkeit realisieren kann. Anders gesagt: weil noch die meisten Beschäftigungsarten, die uns der weltweite Arbeitsmarkt anbietet, den Menschen in die Selbstverengung zwingen. Mal mit etwas kühner Assoziation formuliert: jenem „Zauber“, der Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ zufolge noch „jedem Anfang“ innewohnt, diesem Anfangszauber bereitet noch fast in jedem Leben allerspätestens die Berufstätigkeit, zu der die Menschen genötigt sind, ein rasches und gründliches Ende. Wessen Arbeitsleben sähe schon so aus, dass es dem Menschen erlaubte, die Anfangsfülle seiner Wünsche und Interessen, seiner Fantasien und Fähigkeiten dort realisieren zu können? Gemessen an diesem Maßstab, ist noch fast jeder Lebensweg Verlustgeschichte.
Doch an dieser Stelle gleich auch ein Seitenhieb gegen bestimmte „Marxisten“:
Weil dem so ist, weil es nur eine begrenzte Anzahl von Tätigkeiten gibt, denen man ganze Selbstverwirklichungspotentialität zuschreiben kann, ist auch jedes Verständnis vom Menschen falsch, das den Menschen ausschließlich als Arbeitswesen definiert – „im Stoffwechselprozess mit der Natur“, wie es bei Karl Marx leicht aufgedonnert heißt. Weder für den Müllwerker trifft dieses zu noch für die Sekretärin, weder für den Klempner noch die Wurstverkäuferin. Der Mensch ist – wie an früherer Stelle bereits ausführlich dargelegt worden ist – primär kein Arbeitswesen (und ist dieses auch später nicht), sondern vor allem (mit bleibendem Charakter) ein Beziehungswesen. Und diese angeborene und niemals im Menschen ganz zu vernichtende Tatsache heißt: Selbstverwirklichung hat immer auch mit Beziehung zu anderen Menschen zu tun, nicht aber ausschließlich mit irgendeinem Verdauungsprozeß, der sich etwa beim Bäumefällen oder Kohleabbau realisieren ließe (um mit diesem Begriff „Verdauungsprozess“ den sogenannnten „Stoffwechselprozess“ von Marx zu paraphrasieren, eine Metaphorik, die mehr an Peristaltik denken lässt als an das Wesen oder Selbst eines Individuums.
Doch keine Missverständnisse hier: ich wünsche noch jedem Mitbürger und jeder Mitbürgerin von ganzem Herzen eine gute Magen- und Darmarbeit, einen guten „Stoffwechselprozess“ mithin, und dieses nicht nur im eigenen Körperinnern, sondern auch untertage oder draußen im Wald!). Der Marxist Ernst Bloch, der sich auf die Anfänge und die Fülle des Menschen sehr gut verstand, auf deren „Noch-Nicht“ (= eine zentrale Deutungskategorie von ihm), hat das zu Beginn seines „Prinzip Hoffnung“ so ausgedrückt: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Also werden wir erst.“ „Wir“, nicht „ich“! Der Mensch wird von Bloch bei seiner Selbstbefreiung und Selbstrealisierung als Mensch unter Menschen gesehen, als Mensch in Verbundenheit mit anderen Menschen. Als Beziehungswesen, um es nochmal in meiner Terminologie zu betonen. Und Bloch breitet, geradezu enzyklopädisch, in seinem Großwerk „Prinzip Hoffnung“ unendlich vieles an menschlichen Wünschen und Interessen, an Fantasien und Fähigkeiten aus, die ausschließlich mit Arbeit wenig oder gar nichts zu tun haben.
Doch ich will noch einen ganz anderen Blick auf diese Frage werfen, auf die Frage, ob „Mensch“ sich nur in „Arbeit“ verwirklichen könne. Mal unterstellt, dieses entspräche der Realität: stünden dann Kinder und Jugendliche (die noch nicht in den „Arbeitsprozess eingetreten“ sind) deswegen prinzipiell und real erst vor den Toren der Selbstverwirklichung, und nichts in ihnen – wohlgemerkt: in Kindern und Jugendlichen –, nichts in ihren Selbstverwirklichungswünschen, drängte auf anderes hin als bloß aufs Arbeiten später? Da fallen mir, sorry, doch erstmal einige andere wichtige Dinge im Leben ein. Dieser merkwürdigen These zufolge – nur in der Arbeit komme der Mensch ganz zu sich selbst – lebten Kinder und Jugendliche ergo so lange an sich selber vorbei, an ihrem „Selbst“ mithin, als sie noch nicht das große Vergnügen haben, an einem Fließband stehen zu dürfen oder sich in der glücklichen Situation wiederfinden zu können, als rechte Hand des Chefs demselben permanent nach dem Munde reden zu müssen. Und weiter:
Alle jene Menschen, die „in Rente gehen“, gehen diese dadurch schlagartig, von einem Tag auf den anderen, aller Selbstverwirklichungs-Chancen verlustig? Dass für manche Menschen dieser Verrentungstag durchaus so erlebt wird: wer wollte das bestreiten? Dass für viele Menschen die ewig-lange Reihe der ewig-langen Tage, Wochen, Monate und Jahre danach nur noch ein Dahinexistieren auf das Ende hin ist: wer kennte solche todtraurigen Beispiele nicht? Aber: wird bei diesen „Diagnosen“ nicht oft übersehen, daß es keinesfalls der Mangel an Arbeit ist, der diesen Menschen ein derart leeres Altern beschert, sondern dass es gerade die Beschränktheit der Arbeit vorher war, die bei diesen Menschen die innere Leere vorprogrammiert hat? – Deshalb nämlich, weil den meisten Menschen ihr „Selbst“ schon lange vorher ausgetrieben und abtrainiert worden ist, gleichsam untergepflügt von ihrer jahrzehntelangen Berufstätigkeit zuvor, und zwar unabhängig davon, ob sie für diese Arbeit guten Lohn erhielten oder nicht, unabhängig davon auch, ob diese Arbeit unter schlechten Bedingungen abgeleistet werden musste oder nicht. Mit Selbstvereinseitigung, mit Selbstaufgabe, mit Selbstnichtrealisierung wurde oft sogar Bestbezahltsein oder Gutbezahltsein bezahlt, und deswegen geht es selbst manch begüterten Menschen nach ihrer Verrentung oft schlecht (was nicht heißen soll, daß es egal wäre, ob man als reicher Armer oder als armer Armer die letzten Jahre seiner irdischen Existenz verbringt, da sei nun wirklich Gott vor oder auch Karl Marx!).
Dass für nicht wenige Menschen am Tag der Verrentung der reale Abstieg ins Nichts beginnt, geht also darauf zurück, dass psychologisch dieser Abstieg ins Nichts längst schon vorher vollzogen worden war. Diese Menschen waren sich bereits vorher abhanden gekommen – gerade aufgrund ihrer Berufstätigkeit! Was umgekehrt bedeutet: für manche Menschen beginnt erst am Tag der Verrentung endlich ein Leben in Freiheit – potentiell jedenfalls (heißt: wenn noch Restbestände des eigentlichen, des eigenen Wesens erhalten geblieben sind und die materiellen Voraussetzungen, dessen Wünsche zu stillen), ein Leben in Freiheit, das ihnen vorher verwehrt war, eine Phase der Selbstbestimmung, von der sie zuvor nicht einmal mehr zu träumen wagten – eine Phase des wiedererwachenden und sich in der Selbstverwirklichung realisierenden Selbstbewusstseins.
Was ist eigentlich die „Wirklichkeit“, die man sich vorstellt, wenn man dieses Wort verwendet in dem Begriff „Selbstverwirklichung“ – und was ist dieses „Selbst“?
Ich mache es an dieser Stelle einmal kurz: dass wir als Kinder bereits geboren werden mit dem „Selbst“ eines Eisenbahnschaffners oder einer Kfz-Mechanikerin, einer Angestellten bei C&A oder eines Schuhmachermeisters (als Tendenz, später dann in der Gestalt innerer und äußerer Realität), solches uns Menschen zu unterstellen, ist idiotisch, weil es uns Menschen zu Idioten macht, und es ist zynisch, weil es uns Menschen herunterdefiniert auf unsere bloße Wirtschaftsfunktion und reduziert auf eine Schrumpfvariante unserer selbst. Das hat mit Marxismus gar nichts zu tun, sondern eher mit einer linken Variante des vollkommenen Bescheuertseins. Oder: des Beschränktseins – ein Begriff, der vermutlich sogar noch besser zu unserem Thema hier passt, zum weltweiten Alltagsgeschehen der Menschenreduktion auf ein Fast-Nichts durch Berufstätigkeit! Und diese berufstätigen Menschen – ich verkenne es nicht – sind unter den Unglücklichen der Welt, unter den Arbeitslosen und Hungernden auf unserem Erdball, noch die privilegierteren Menschen, sind noch die Menschen mit dem kleineren Unglück.
Zusatz zum Thema „Grundeinkommen“:
Nach wie vor stehe ich der Idee des „Bedingungslosen Grundeinkommens (= BGE)“ offen, aber doch eher skeptisch gegenüber. So sympathisch mir die Vorstellung ist, dass alle Hartz-Vier-Gedemütigten, AbgrundsicherungsempfängerInnen und Niedriglöhner dadurch befreit würden vom Willkürhandeln und von den permanenten Sanktionsdrohungen wildgewordener Behörden, so problematisch erscheint mir nach wie vor die Entlastung der Wirtschaft, das an die arbeitenden Menschen zurückgeben zu müssen, was diese arbeitenden Menschen für die Wirtschaft an Mehrwert geschaffen haben. Dass den mir bekannten BGE-Modellen zufolge auch Best- und Gutbetuchte diese Mindestsicherung bekämen, einfach mal so – der in Zeiten der IT-Entwicklung ja so dringend erforderlichen Verwaltungsvereinfachungen wegen (Vorsicht: Ironie!) -, kommt da nur noch hinzu.
Dennoch setze ich mich mit Fragezeichen kritisch an dieser Stelle mit einem Argument der linken BGE-GegnerInnen auseinander, mit einer These, die ich wenig bis gar nicht überzeugend finde: mit der Aussage nämlich, nur Menschen, die arbeiteten, hätten auch Anspruch auf Geldzahlungen (Kinder, Kranke, Alte usw. ausgenommen), und: nach marxistischer Auffassung „verwirkliche“ sich der Mensch doch erst in Arbeit ganz und wirklich. Tatsächlich? Dieser zuletzt erwähnten These, die ich als höchst kapitalismusnah empfinde, gelten die folgenden Überlegungen vor allem. Könnte es sein, daß linker Denkautomatismus in diesem Falle zu sehr viel Realitätsentfremdung führt?