Schlagt sie!

 In Buchtipp, Friedenspolitik

EmpörtEuchEine Replik von Mladen Savic auf das Buch “Empört euch!” von Stéphane Frédéric Hessel, vom Autor dankenswerterweise für HdS zur Verfügung gestellt.

Schlagt Sie!

Mladen Savic

33 Jahre, das Alter, als Jesus Christus gekreuzigt worden ist, nach römischem Brauch, wie Spartacus vor ihm. Ich befinde mich vor einer anderen Art von Kreuzung. Fast die Hälfte des Lebens ist schon vorüber, um genauer zu sein, die aktivere Hälfte, in der man endlos Kraft und große Pläne hat. Immer schneller vergehen die Tage und Wochen, immer öfter ziehen die Monate und Jahre unvollendeter Dinge dahin. Wie viel Leben noch? Und was für eines? Dies ist noch nicht entschieden. Also eine Gelegenheit mehr, sich Gedanken zu machen, wo man genau steht und wie es weitergehen soll mit mir und der Welt. Weder kann ich von ihr weg, noch wird sie mich so einfach los! Ob der Wahl, eines Tages den Palast der Schöpfung zu erleben oder am Planeten der Affen weiterleben zu müssen, muss ich selbst die Seiten wählen: das Erhoffte schaffen helfen oder das Aufgezwungene geschehen lassen. Eine solche existenzielle Verantwortung, auch eine für die Generationen nach mir, muss früher oder später wahrgenommen werden. Der Augenblick ist, selbstverständlich – jetzt. Erklärt man sich dazu bereit, eröffnet sich eine historische Dimension. Noch ist die Zukunft nicht fertig geschrieben worden. Dies ist denn eine Replik zu Stéphane Hessels als Buch erschienene Rede „Empört Euch!“, gedacht für die Sympathisanten des Umbruchs und der Erneuerung.

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Die Zukunft ist offen, wie gesagt, aber die Zeit vergeht. Inzwischen welkt die Jugend in mir, zumindest das Gewaltige und Kraftstrotzende daran, verblüht und schwindet, aber nichts hat sich derweil ereignet, was darauf hoffen ließe, dass ich Veränderungen zum Besseren, soziopolitische Änderungen von Grund auf, nachhaltig neue Weichen auch zu Lebzeiten noch erfahren würden, im Gegenteil. Das System ist inert, die Masse ‘dumm’. Ich werde höchstwahrscheinlich eines Tages sterben, ohne das Glück eines so genannten goldenen Zeitalters, eine Ära jenseits finanzieller Zwänge, den gemeinschaftlichen Ausbruch aus einem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit je kennengelernt zu haben. Überall spukt der Geist des Niedergangs herum: die anhaltende atomare Bedrohung und die wachsende Elektronikdependenz, der Elektromüll und die Ressourcenknappheit, die Fossilfalle und die Erderwärmung, das Kulturpflanzenproblem und das Bienensterben, etc. Katastrophenfilme erfreuen sich auf den Kinoleinwänden solcher Beliebtheit, dass sie Kassenschlager werden. Zeitungsberichte kritzeln in sensationalistischer Manier in allen möglichen Bereichen eifrig den Kollaps herbei. Die Menschen wünschen sich, dialektisch gewendet, insgeheim den Untergang, jenen jedoch, den sie aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus auf keinen Fall absolut wollen können und daher selten zu artikulieren imstande sind – dass nämlich eine bestimmte Gesellschaftsform untergeht, die bestehende, die ihrige. Daher stammt wohl die populäre Faszination mit der Apokalypse. Die kulturelle Fäulnis wächst, wenn man sie nährt, letzten Endes aus dem Inneren. Unsichtbar wie der Wind, aber spürbar wie seine Kälte, braut sich ihretwegen ein Unwetter zusammen. Allseits wartet man bereits auf einen solchen Wendepunkt der Geschichte, auf ein grandioses Gewitter sozusagen, auf eine Rebellion womöglich, Reinigung im Geiste Thomas Jeffersons, jedenfalls auf den entscheidenden Einschnitt.

Indessen hocken unwichtige Personen auf wichtigen Positionen. Unsinnige Prozesse beherrschen den Alltag. Unzählige Menschen und Völker sind zu Spielbällen von Banken, Korporationen und Regierungen geworden, ihnen gegenüber machtlos, sich selbst nicht treu. Unverschämte Ungerechtigkeit brüskiert in den Leitindizes der Börse und auf den Arbeitstischen der Generalstäbe. „Kein Pfeifchen Gras, aber eine ganze Giftgasfabrik kann man sich kaufen“, heißt es salopp in einem Lied von Reinhard Mey, das zur Wachsamkeit mahnt. Paradoxa über Paradoxa! Die Umweltverschmutzung wird aus dem Winkel des Wirtschaftsschadens gedeutet. Arbeitslosigkeit wird nur auf den Warenabsatz und die Handelsbilanzen bezogen. Man führt, ohne von der eigenen Bevölkerung bedrängt zu werden, seelenruhig Krieg und spricht währenddessen von Weltmarktpreisen. Man bombt und marschiert und mordet angeblich auf humanitäre Weise, heuchlerisch bis zum Erbrechen, mit so widersprüchlichen Vorwänden, dass sogar ein Kind sie errät, bloß der Erwachsene nicht. Erwachsenwerden eben: von aufgeweckt zu abgestumpft! Man führt Drohnenangriffe aus, ohne Gerichtsverhandlungen über Schuld und Unschuld, und schafft auf diese Weise rechtsfreie Räume im Gesetz. Die Amerikaner sind darin Meister, aber Dollar drucken können sie auch. Geheimdienste wissen mehr als deren gewählte Regierungen. Man spioniert, kontrolliert und attackiert im Namen des Friedens und der Sicherheit. Die Namen der Dissidenten sind bekannt. Paolo Gabriele, Bradley Manning, Julian Assange und Edward Snowden, ihnen allen haben Hausarrest, Haft oder Todesstrafe gedroht, allein dafür, ungemütliche Wahrheiten bekannt gemacht zu haben. Steht nun die Staatsräson über der Demokratie? Wer hat das wann mit wem beschlossen?! Und rein theoretisch: kann es derlei wie die demokratische Hinrichtung wegen aktiver Moral tatsächlich geben? Wer dies für Normalität hält, ist selbst nicht ganz normal, sondern entweder zwielichtig oder zynisch, aber keinesfalls ganz gesund.

Die Welt hat den Kopf verloren und spielt verrückt. Niemand wird verschont werden. In Summe ist man mit seinen Nöten und Sorgen, wenn man alles zusammenzählt, recht allein. Finden sich auch Gleichgesinnte, führt man keinen gemeinsamen Kampf. Nach der Arbeit kommen: Familie, Freunde, Freizeit. Füllt sich das Fass, regt sich Unmut, bevor es überläuft. Nur Protest – nie auch Widerstand! Und wo er passiert, haben alte Mächte und nach alten Mustern organisierte Einheiten bald wieder ihre Finger im Spiel und ihre Hände an den Hebeln. Das Volk geht leer aus, das Theater weiter. Es wäre in der Geschichte nichts Neues. Ich kann und darf nicht daneben stehen und so tun, als hätte ich nichts von alledem bemerkt und würde kommentarlos alles akzeptieren. Mein Verstand verbietet es mir, nicht zuletzt, weil auch mein Gefühl mir vermittelt, ich sei in Wirklichkeit betroffen, der Idiotie überdrüssig, über jede Versöhnlichkeit hinaus. Denn ich habe genug von fremd fabrizierten Krisen, von Energieversorgungs-, Börsenmarkt-, Diplomatie- und Umweltkrisen, von einer Krise zur nächsten – genug davon, permanent mittendrin sein zu müssen. Manche Dinge beleidigen schlichtweg die Intelligenz. Deren Rechtfertigungen verletzen jedes Feingefühl. Gar den Mars will man ab 2023 kolonisieren, und zwar mit der Erklärung, dass wir einfach einen zweiten Planeten bräuchten, da wir unseren bislang zu sehr zugerichtet hätten. Ist das eine passable Lösung? Aus wessen Sicht eigentlich? One-way-tickets zum Mars um 38 Dollar und weltweite Fernsehübertragungsrechte werden schon zum Verkauf angeboten. Der Wilde Westen wandert auswärts ins Vakuum der kosmischen Strahlung, während sich zu Hause, auf der Erde, die Hausaufgaben der Menschheit stauen.

Mein Freiheitswunsch ist innig und stolz! Frei will ich sein, kein fressendes Zahnrad, denn ich bin weder Tier noch Maschine, befreit von Rollenbildern und Fremdbestimmung, frei von Unternehmertum und Lohnsklaverei, von Banken und Monopolen, von Mekka, vom Vatikan, von Amerika, China, Russland, Europäischer Union und anderen Hexenkesseln der Weltpolitik. Als Machtapparate stellen sie eine Bedrohung für das letzte bißchen Humankultur dar. Sie knechten die Menschen und zerstören außerdem den Planeten. Ökologisch gesprochen, ist die gesamte Menschheit ihr Opfer. Wenn ich ihre Vertreter in den Nachrichten sehe, bin ich mehr als nur empört. Kein Wörtchen Wahrheit aus deren Kehlen! Kein bißchen Mitgefühl für ihre Scharaden! Und ich merke meine eigene Entsensibilisierung, in dem Maße, als ich mir leichten Herzens und immer öfter denke: Schlagt sie doch, macht endlich Schluss mit ihren Intrigen und Machenschaften, schlagt sie einfach, erinnert die Pharaos daran, dass sie keine Götter sind, sondern wie alle anderen Menschen auch nur bluten, bitte, schlagt sie! Wer soll diese selbstherrlichen Wichtigtuer, die Silberrücken der Moderne, schon besiegen? Wie wäre es mit einem Zeitplan?! Über die Modalitäten könnte man sich ja einigen. Wo denke ich hin! Jeder möchte ihnen lieber die Hände schütteln, sich mit ihnen ablichten lassen, ihnen die Tür aufhalten, den Teppich ausrollen, kurz, ihren Speichel lecken, um ihre bestens bezahlte Hure sein zu dürfen. Ist das zu emotional, oder zu derb und dreckig? Würdelos – aus Geldgier. Alle leugnen sie und verneinen, bis sich ihnen ein persönlich opportuner Augenblick, die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg bietet und das große Geld winkt. Hat wirklich jedermann seinen Preis? Wenn die Korruption ins Innere sickert, wie das heute der Fall ist, sollte man auf der Hut sein. Eine starke Urteilskraft hilft. Worte des Widerstands werden dann aus dem Winterschlaf geweckt. Anfangs sind es nur Worte…

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„Empört Euch!“, sagt Stéphane Hessel ganz oratorisch. Man schreibt den 17. Mai 2009 auf dem Plateau des Glières im Departement Haute-Savoie. Seiner Rede, die notwendigerweise imperativisch beginnt, wird weniger durch die dortigen Argumente als durch seine Person Gewicht verliehen. Er ist Berliner und Jude, Franzose und Weltbürger, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und Kämpfer der Résistance, Mitverfasser der Menschenrechtserklärung und Intellektueller. Inhaltlich ist seine Rede im wahrsten Sinne des Wortes improvisiert. Sie handelt von verlorenen freiheitlichen Grundsätzen, von globalen Problemen und gelebten marktwirtschaftlichen Werten, vom westlichen Maximierungsdenken – und davon, dass man darauf nicht zu reagieren scheint! Das Weltübel löst keinen unmittelbaren Widerwillen mehr aus. Anders ausgedrückt: man atmet Reaktion. Ein einzelner erhebt das Wort, unerschrocken. Die Fähigkeit zur Empörung ist im Lichte eines Unrechts das, was uns menschlich macht. Wer sich empört, setzt sich mit den Dynamiken des Lebens auseinander und lernt die Welt verstehen. Der Empörte will die Transformation aus einem inneren Antrieb; er muss geradezu handeln. Deswegen ruft Hessel auf: „Empört Euch!“ – Es ist die Aufforderung eines Greises, ein heiserer Zuruf an die taube Jugend, das Abschiedsstänzchen eines Todgeweihten. Nicht nur er als Geschichtszeuge stirbt, sondern seine Geisteshaltung, die damit verbundenen Lehren aus der Geschichte: wer sich mit einer vorübergehenden Gesellschaftsformation arrangiert, arbeitet an ihrer Stagnation, und wer sich der sozialen Kämpfe nicht bewusst ist, wird unvorbereitet sein und muss sie daher bewusstlos, sozusagen blind ausfechten.

Vielfach werden die Vorbedingungen vernachlässigt: zur Empörung braucht man Einfühlungsvermögen und eine natürliche Vernünftigkeit, kurz, eine selbständige Persönlichkeit, fühlend wie denkend. Hessel erwähnt da zum Beispiel “Grundsätze und Werte“ und bezieht sich auf jene des Nationalen Widerstandsrats (CNR) vom 15. März 1944. Die Bedrohung humanistischer Kultur durch den Kapitalismus, wie seinerzeit physisch durch den Faschismus, verlange laut Hessel eine Abwehrhaltung über ideologische Differenzen hinweg. Ist nicht die allgemeine Wahrnehmung aber anders und weicht bereits von diesem zentralen Ausgangspunkt ab? Die Gegenwart hat das Denken medial entmachtet und das Gefühl zum Handelsartikel gemacht. Intersubjektiv verwahrlost, erkennt man sich längst im anderen nicht mehr. Logisch unterernährt, begreift man Zusammenhänge nur mit Müh und Not. Vorbei sind die Zeiten der Anteilnahme und der großen Überzeugungen! Bestenfalls sind sie ehrenamtliche Freizeitbeschäftigungen oder Jugendsünden geworden, vorab schon als solche konzipiert. Vom Individuum hat sich bei aller Austauschbarkeit bloß die etymologische Unteilbarkeit (lat.: in-dividuum) erhalten, denn die Individualität selbst ist nicht mehr als ein Massenprodukt. Dieses sprachliche Überbleibsel, auch da noch in den Schatten gestellt gestellt durch die Erscheinung der juristischen Person, das Individuum als Sozialversicherungsnummer und Adresse besitzende Restvariable, das bürgerlich urbane Sozialatom, sprich, der moderne Mensch ist heute an der Sozietät kaum interessiert – außer zweckmäßig und instrumentell, das heißt, hinsichtlich individueller Aufstiegchancen und Erfolgsaussichten. Wer soll sich also wobei empören? Kann man an ein menschliches Sentiment appellieren, für das der Mensch unter Umständen gar nicht erzogen worden ist? Man kann es versuchen. Ob es etwas gebracht hat, weiß man erst im nachhinein! Hessel tut das in aller Klarheit.

Mit 93 erfahrungsreichen Jahren auf dem Buckel erlebt er in seinen späten Tagen das eigentliche postmoderne Absurdum: ein Alter muss plötzlich die Jungen bitten, sich vor dem Unrecht und Widersinn dieser Welt zu empören, um dagegen vorzugehen, für ein „Ideal der republikanischen Schule“, wie er meint. Dort sei die Macht des Geldes in ihre Schranken verwiesen, damals habe es ein „System der sozialen Sicherheit“ gegeben, freie Information, denn die Medien hätten nicht nur den Reichen gehört, ein Altern in Würde, denn die Pensionen hätten es gestattet, Ansätze zur Wirtschaftsdemokratie, denn Wohlstand hat gerecht verteilt werden müssen, ein Interesse am Gemeinwohl, etc. Hessel beschwört Anlässe, die sich die Jugend zu ihrem Engagement suchen solle, wenn sie sich schon nicht von selbst durch dieses oder jenes konkret veranlasst sieht. Die innere Distanzierung der Jugendlichen von ihrer jeweiligen Gesellschaft, der sie gleichgültig gegenüberzutreten scheinen, diese Tendenz der Indifferenz und Depolitisierung deutet er nicht als verdächtig jugendlichen Versuch der Entkoppelung von ihrer bestimmten Gesellschaftsformation. Reaktionäre Revolten wie diese sind in ihrer Eigenschaft, Fluchtverhalten und Verdrängung zu erleichtern, in Wahrheit ein neurotisches Arrangement. Die jugendliche Gefügigkeit entschuldigt Hessel vielmehr. Ihm zufolge sei nun alles versteckter, verworrener, undurchsichtiger geworden und die Wahrnehmung dessen entsprechend zerstreuter, gebrochener, schwächer. Ob dies die auffallende Passivität der Jugend, ihren Mangel an Engagement richtig herleitet? Die Situation ist gleich in mehrfacher Weise absurd, vor allem deswegen, da für gewöhnlich die Alten ihre Bitten, Warnungen oder Drohungen an die Jungen richten, nicht so stürmisch, nicht so radikal, weniger grundsätzlich und weniger empört zu sein. Hier ist es umgekehrt: der feurige Pensionist fordert die lahme Jugend zum Kampf auf! Man müsste aus Holz sein, um nicht zu erkennen, dass an der Sache selbst, deren Absichten schön und bewundernswert sind, doch etwas Falsches festklebt, eine völlige Verkehrtheit der Zustände, die sich im Akt als solchem niederschlägt.

Hessel kann einem leid tun, und mit ihm – wir uns inklusive. Nicht etwa, weil er irren oder sich zum Clown machen würde, das nicht im geringsten, auch nicht, weil das Publikum ganz grünschnabelig und naiv wäre, das lässt sich ebenfalls bezweifeln, sondern aus der Situation heraus, die an und für sich bedenklich ist. Was kann Empörung überhaupt ausrichten? Als alter Widerstandskämpfer versteht er vielleicht schwerlich, warum der Widerstand auf sich warten lässt, obwohl man ihn angesichts der ‘neoliberalen Wende’ durchaus erwarten könnte. Eine Autoritarisierung und Dehumanisierung sind sichtlich im Gange. Missbilligung gibt es genug. Die Militärausgaben explodieren seit Ende des Kalten Kriegs. Die Unterrichtsministerien schaffen seit dem Bolognaprozess die freie universitäre Bildung ab, zertifiziert kostenfreies Wissen – seinen demokratischen Kern. Spätestens seit der letzten Finanzkrise, gleichbedeutend mit der Plünderung der Staatskassen zugunsten des privaten Großkapitals, sollte es verwundern, dass die Reaktionen in der Bevölkerung niemals über den Protest hinaus gegangen sind und sich nirgends in aktiven Widerstand verwandelt haben. „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“, lautet Hessels kämpferische Parole.

Man hat den Unmut geäußert, beispielsweise über Lohnkürzungen, oder ihn in gefilterter Form gleich der Presse überlassen, ohne aber das Unglück fürderhin, also institutionell verhindert zu haben. Dem Pazifismus der protestierenden Massen ist überall dort, wo sie sich zeigten, früher oder später eine rohe und unbeugsame Staatsgewalt entgegengetreten. Demokratisch nicht legitimierte Technokratenregierungen kursieren seither problemlos in den Nachrichten über gescheiterte Koalitionen und internationale Kreditpflichten. Der Volkssouverän verflüchtigt sich infolge der scheinbar gottgegebenen Wirtschaftsdogmatik. Von der Politik bleibt nur noch konzentrierte Ökonomik übrig, blankes Profitmanagement, die Technik des Aubeutens und die Bündelung realer Macht. Hessel würde einer klaren Strategie entbehren, wenn er bloß zur Empörung aufgerufen hätte. Mehrmals spricht er ausdrücklich von Widerstand. Es ist doch so, dass, wenn man etwas fundamental ablehnt, man von Natur aus zum Protest neigt. Man protestiert intuitiv gegen das, was einem aufgezwungen wird, und wo es einem schadet. Sieht man es bei Anderen, fühlt man mit und fühlt ’empört’. Widerstand leistet man, wenn überhaupt, erst dann, wenn man dafür sorgt, dass der Zwang nicht wiederkommt und das Schädliche sich nicht wiederholt. Vorausdenkend, entwurzelt man ein Problem. Die moralische Empörung, als innere Frage, ‘was das denn soll’, hat sich alsdann zu einer rationalen Wut entfaltet, nämlich zur Frage, wie man den Mächtigen die Stirn bieten könnte. Die Überlegungen, die sich daraus ergeben, sind dementsprechend praktischer, organisatorischer Natur.

Frage à propos: Wie lange soll man warten, bis es alle endlich erkennen und auch einsehen, doch nicht bis es zu spät ist? Oder beginnt die Eule der Minerva, wie Hegel die Weisheit nennt, ihren Flug immer erst mit der einbrechenden Dämmerung? Die Menschheit muss nicht in ihrer letzten Stunde, erst am Sterbebett einsichtig werden! Das ist ein Hegelscher Irrglaube, grau in grau. Wahr daran ist, dass vor dem großen Erwachen der Massen, vor dem Wecken ihres Gattungsbewusstseins die Bedingungen reif sein müssen, und selbige reifen nur mit der Zeit und im Schoße der Klassenunterschiede. Vom weltumspannenden Handel, der sie unter der Knute des Kapitals einander näher bringt, ist diesbezüglich mehr zu erwarten als von staatlichen Organen. Hessel jedoch glaubt noch an den politischen Primat in einer bürgerlichen Republik. Ist das empirisch nachvollziehbar? Dabei hat sie selbst, eingezwickt zwischen politischer Demokratie und Wirtschaftsdiktat, solche krummen Verhältnisse hervorgebracht, das Leben irgendwie härter und eintöniger gemacht. Hessel hat seine guten Gründe; wer den Faschismus persönlich erlebt hat, lernt eine bürgerliche Verfassung sehr wohl schätzen. Die bürgerliche Republik ist trotzdem bis dato ein Staat für das Bürgertum, unternehmerisch geeicht, auf die Bedürfnisse des Kapitals ausgerichtet, und nicht für alle Menschen da, das heißt, in erster Linie nicht für den Arbeiter, nicht für die Bäuerin, nicht für den Einwanderer oder Flüchtling. Hessel erkennt es an, obwohl er es sanfter ausdrückt. Die so genannte Sozialpartnerschaft mag diesen Umstand maskieren, aber niemals überdecken, geschweige denn überwinden. Klassenkämpfe seien der Motor der Geschichte, so Marx. Revolutionen seien deren Lokomotiven, laut Lenin. Und was sagt Hessel?

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„Empört Euch!“, sagt er. Das reicht einerseits nicht als Generalansage, wo doch die Lage schon nach Taten drängt, nach einem organisierten Gegenschlag gegen die neoliberale Willkür, gegen die Illusion der Allmacht des Kapitals, gegen seine menschenverachtende, unsichtbare Hand. Andererseits stört die Skandalkonnotation, jener kleinbürgerliche Mundgeruch, der sich durch die Aussage ausbreitet. Der gute Wille sei dem alten Mann hoch angerechnet. Allerdings geht, wie gesagt, einer authentischen Empörung eine Wertehierarchie voran, ein System an Grundsätzen, die Hessel gleich anfangs bitter vermisst. Wie weiter? Was nun?! Entweder fehlen die Voraussetzungen – oder man hat das Thema unpässlich eingeläutet, zu locker gestaltet, analytisch verfehlt. Dinge zu skandalisieren bedeutet im Endeffekt: die Gemüter zu beruhigen, indem man Entrüstung zeigt; die Massen zu verschonen, indem man bequem den moralistischen Zeigefinger schwingt; schließlich die gesellschaftliche Form zu wahren, indem man, nach dem Prinzip eines Instantproduktes, im Volk ein Bedürfnis nach Kritik befriedigt, das danach erlischt. Der Skandal, ein nicht vollwertiger Ersatz für das kritische Bewusstsein, erfüllt insofern eine regulative Funktion im System.

Angewidert vor lauter Empörung wenden die Menschen in der Folge den Blick ab, ohne sich allzu viel mit den Ursachen beschäftigt haben zu müssen. Sie fällen ihr Urteil schnell und verurteilen dies und das, meist nur Einzelphänomene, doch stets ohne die Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären. Das verwandelt den Staatsbürger in einen Kleinbürger: er gibt sich mit dem Gefühl, gehört worden zu sein und Dampf ablassen zu dürfen, schon zufrieden und kehrt anschließend in sein trautes Heim, zu seinem klimatisierten Arbeitsplatz, zu seinem Alltag zurück. Bewährt sich etwas nicht sofort, lässt er es überanstrengt fallen. Er geht vielleicht zu einer Demonstration, natürlich nur ‘alle paar Jahre’ einmal, aber er steigt sicherlich auf keine Barrikaden, ‘das muss nicht sein’. Der Unterschied zum engagierten Bürger und klassenbewussten Arbeiter ist gewaltig und auch wesentlich. Zwischen Jakobinerclub, Résistancebrigade und revolutionärer Partei einerseits und Bürgerrechtsplattformen, Gewerkschaftssektionen und Umweltschutzverbänden andererseits gähnen Abgründe. Da liegen ganze Welten dazwischen. Von den letzteren, Zivilgesellschaft genannt, wünscht sich niemand einen politischen oder ökonomischen Systemwechsel oder beides, ganz im Gegenteil. Mitunter muss man sich als vereinsverbundener Zivilgesellschafter ziemlich anstrengen, um neben dem System auch seine Krankheitssymptome und Kehrseiten zu akzeptieren – abzüglich jeder Vorstellung seines Sturzes und seiner kollektiven Demontage. Voilà, das ist wahre mentale Akrobatik! Darüber hinaus wird die Bereicherung durch fremde, in Gang gesetzte Hände nicht länger als Ausbeutung gewertet und diese selber als Begriff nicht mehr verstanden. Unternehmerische und betriebswirtschaftliche Werte gehören zum schulischen und werktätigen Alltag, kurz, zur furchtbaren Normalität, über die noch nicht feststeht, ob sie selbst normal sei. Zivilgesellschaftlich ist deswegen nicht dasselbe wie kleinbürgerlich. Dienste an die Gesellschaft und Empörung sind prinzipiell nichts Schlechtes.

Die ‘Bedingungen der Möglichkeit’ einer Sache zu bedenken aber schließt erst einen ernsthaften Handlungsbedarf ein, der dazu führt, dass für die nachfolgenden Generationen in der Tat Verantwortung übernommen wird – indem man die Welt verändert. Was haben sie, die Nachkommenden, morgen unter den heutigen Bedingungen zu erwarten? Ein und dasselbe, da capo al fine! Warum sollen Kinder entweder verschuldet oder reich und privilegiert geboren werden, und was kann das Kind dafür?! Täglich hungern 35% der afrikanischen, 18% der asiatischen und 14% der lateinamerikanischen Bevölkerung, global jeder fünfte Mensch, darunter Millionen an Kindern und Jugendlichen. Die technische Rückständigkeit und der objektive Gütermangel, übrigens beide ein moderner Mythos, können die Schuld dafür nicht tragen. Die FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) geht bei Beibehaltung der aktuellen Produktivkräfte von zwanzig Milliarden ernährbarer Menschen aus (mit einer täglichen Ration von 2400 bis 2700 Kalorien). Auch Jean Ziegler vermisst die Empörung auf die ‘grauenvollen Bilder’ von Hungerleichen, die man im Westen bloß ‘zur Kenntnis’ nimmt, ohne die geringste Erschütterung. Hessel ist mit seinen Anliegen nicht allein. Definiert sich die Postmoderne also über die Sozialperversion des Geburtsprivilegs in einem Zeitalter der Technik? Nur eine Menschheit, wie technologisiert auch immer – und dennoch Klassen, die sie teilen und trennen, obere und untere, erste und letzte. Ökonomische Ober- und Untermenschen also? Nicht postmodern, sondern vormodern, antik, neolithisch mutet dieser Aspekt an.

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Die „Macht des Geldes“, stellt Hessel fest, war „niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch“, noch nie „wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates“. Ist das wahr? Viele Herrscher der Vergangenheit haben sich Geld geliehen, sind ohne es verloren gewesen, umso deutlicher seit der Erschließung eines Weltmarkts. Die Fugger, die Medici, und Konsorten. Banker und Industrielle haben da immer schon beträchtlichen Einfluss genossen und die Politik gelegentlich in ihren Dienst gestellt. Aber die totale Abwesenheit von Widerstandsgruppen bringt erst einen neuen Drall. Diese Schande, geschichtlich ist das die wahre Neuheit! Der wahre Widerstand ist tot. Das Kapital, absoluter, totalitärer, diktatorischer denn je, hat gewonnen. Das ist nicht alles. Tatsache ist, dass die Menschheit eine einzigartige Höhe an Produktivität erreicht hat, mit einem enormen Güterüberschuss, mit solchen Handelsvolumina, dass man permanent Ausschau hält nach Absatzmöglichkeiten, mit unglaublichen Mengen an entäußertem Mehrwert, der sich und seine Effizienz in den astronomischen Summen privaten Kapitals wiederspiegelt. Millionen an Millionären existieren verstreut über aller Herren Länder, in vollkommener Trennung von Arbeit und Belohnung, von Leistung und Besitz. Hauptberuflich kann man mittlerweile Societydame und Kameraschönheit, Aktionärserbe und Königssohn, Nebelverkäufer und Investor sein. Die Leistung, schön oder wohlgeboren oder wenigstens skrupellos zu sein, ist zwar keine, jedoch allgemein anerkannt. Das Geld ist demnach nicht mächtiger geworden, wie Hessel vermutet, sondern die Bevölkerung ohnmächtiger! Das Volk ist überdies von der Macht des Geldes infiziert; geistig hat es sich seiner sozusagen bemächtigt. Von der inneren Korruption, wenn man die eigenen Ideale allmählich verrät und im Job gelegentlich bei der Moral ein Auge zudrückt, von jener charakterlichen Korrumpierbarkeit, wenn Geschwister sich wegen Eigentums vor Gericht zerren und Freunde einander in Geldnöten plötzlich nicht mehr kennen, ist bereits die Rede gewesen. Eine schlechte Vorbedingung für Zusammenhalt! Parallel dazu hat sich die Abhängigkeit des Werktätigen vertieft, allein im bezug auf das Lebensnotwendigste, die Ernährung. Wer essen will, muss mitspielen. Der Börsenhandel mit Weizen bestimmt den Preis des täglichen Brotes, das man kaufen muss. Wo ist Chicago? – Die kapitalistische Infektion der Seele erscheint bloß als Reflex jener vielseitigen, zivilisatorischen Abhängigkeiten, die man willig eingeht, da man nicht anders kann.

Mit einem Hinweis auf die Komplexität dieser hoch spezialisierten Welt, auf die Verflochtenheit der Wertschöpfung, auf die Undurchsichtigkeit dieses Netzes aus Finanz und Politik, fragt Hessel rhetorisch: „Wer befiehlt, wer entscheidet?“. Die Frage richtet sich an die Lokalisierung sozialer Macht, die heute irgendwie schwieriger zu sein scheint als früher. Über Anspielungen geht sie jedoch nicht hinaus. Es ist weise, die Interdependenzen bzw. „Kreuz- und Querverbindungen“, wie er selbst sagt, hervorzustreichen. Und er diagnostiziert, zumal Analyse und Argumentation fehlen, immerhin das Übel „der internationalen Diktatur der Finanzmärkte“, gefährlich für den Frieden wie auch für die Demokratie. Worauf fußt diese Macht? Er verrät es nicht. Die Höhe der Arbeitsteilung in der Produktion und im Welthandel, die dadurch verursachte Länge der Kommandokette darin, die administrative Größe und das Management eines solchen Ablaufs, zuletzt die Streuung des privaten Besitzes in Form von Kapital in Aktiengesellschaften verschleiern allesamt die nicht unmittelbar wahrgenommene Herrschaft des Kapitals. Man müsste sie somit in jener Klasse von Besitzenden bzw. von Privatpersonen lokalisieren, in der das meiste Kapital sich ansammelt. Wäre das nicht wenigstens logisch? Die Alternative wäre, anzunehmen, dass man zwar um einen Kapitalismus weiß, aber um keine Kapitalistenklasse. Wäre das nicht unlogisch? Das System kann man wissenschaftlich untersuchen. Die Zirkulationsformen des Kapitals (von Ware=Geld=Ware zu Mehrwert und Profit) und die historisch juristischen Verankerungen des Privateigentums (vom Herrschaftsverhältnis zum Individualrecht) kann man studieren. Hessel lässt die obige Frage offen, nicht aber die Antwort: jemand befiehlt, und jemand entscheidet…

Er geißelt die Finanzmärkte. Das Wort „Diktatur“ fällt in diesem Kontext. Für das 21. Jahrhundert – eine Überraschung! Anstatt nun Formen des konkreten Kampfes gegen die Hochfinanz oder eine institutionelle Demokratisierung des Ökonomischen thematisch zu eröffnen, wenn schon nicht zu erörtern, begnügt er sich mit der Empörung und einem nicht näher definierten Engagement, mit einer Art Hegelscher Teilnahme am Pathos des Weltgeschehens. Das Ganze hat, wenn man recht bedenkt, eine Harmlosigkeit an sich, die einem ein Lächeln abringen muss: „Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen – zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des Fuchses im Hühnerstall“. Ganz harmlos ist Hessel offenbar auch wieder nicht. Der Liberalismus vertritt nämlich traditionell jene füchsische, unbändige Freiheit des Unternehmers, der Neoliberalismus als sein ideologisches Update die Deregulierung der Finanzmärkte. Wenn von Freiheit die Rede ist, sollte man hellhörig werden. Wem nützt sie? Interessant ist jedenfalls, dass Hessel sich traut, die Bedrohung durch den Neoliberalismus bzw. Monopolkapitalismus mit der einstigen faschistischen Zersetzung der Kultur zu vergleichen, wenn auch nur indirekt. Man brauche die Grundsätze des Nationalen Widerstandsrates, sagt er, Ansätze nach Pierre Villon; sie seien „heute nötiger denn je“. In ihrem Egoismus erklärt er die Angst der Besitzenden vor einer Revolution zum Hauptgrund für den Aufstieg des Faschismus. Die Erklärung als solche, Bilanz einer geschichtlichen Erfahrung aus erster Hand, ist relevant. Der Besitz bringt die Angst, ihn zu verlieren, und die Angst füttert das Autoritäre im Menschen, wodurch das Böse wächst. Und wie weit geht das Bürgertum politisch, um seine soziale Vormachtstellung zu sichern? Weit, wie man sieht. Die Revolution ist nicht gekommen. Dafür hat der Faschismus sechzig Millionen Menschenleben ausgelöscht.

Gewissermaßen hat Hessel recht, wenn er betont, dass die Fronten heute nicht mehr so eindeutig verlaufen wie seinerzeit. Generation: 1917. Faschismus und Kolonialismus sind für ihn der Feind gewesen und haben besiegt werden müssen, „das war eine relativ klare Sache“. Auch 1968 ist als Jahr des Widerstands allgemein in Erinnerung geblieben. Hessel überspringt es einfach. Die Zeiten hätten sich eben geändert, die Welt wäre nun „zu komplex“. Die Jungen von heute nimmt er daher in Schutz: „Für euch liegen die Anlässe, euch zu engagieren, nicht mehr so offen zutage“. Hessel hat Taktgefühl – dem Wesen nach ein Gentleman. Bloß, auf den ominösen Komplexitätsüberschuss hätte er ruhig näher eingehen können. Alles zu komplex? Inwiefern eigentlich? Die Realität ist doch nicht über Nacht unerfassbar oder zur Kabbala geworden!

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Verlassen wir Hessel kurz und wenden uns einem Abstecher in die Geschichte zu. Die revolutionäre Arbeiterbewegung hat einen sozialdemokratischen Weg eingeschlagen – sie selbst zur Konsumentenschicht werdend und ihre Sozialdemokratie zum Herrschaftsinstrument. Mit Jubelschreien hat sie den Ersten Weltkrieg empfangen, dem Imperialismus dabei gedient und die Münchner Räterepublik gewaltsam niedergeschlagen. Kautsky hat daraufhin behauptet, dass eine Arbeiterklasse, die unfähig sei, den Krieg aufzuhalten, auch nicht in der Position sei, den Kampf zum Umsturz der Bourgeoisie zu führen. Später, nachdem die Bernsteinsche Streichung jedweder Perspektive auf eine Revolution zum Programm geworden, ist die Arbeiterschaft in Scharen zu den Faschisten übergelaufen und hat bewiesen, dass das Proletariat kein Patent auf die Moral gehabt hat, ebensowenig in der autoritär ausgearteten Sowjetunion wie in Nazi-Deutschland. Inzwischen ist aus den Mittelschichten, zweifelsohne auch wegen der Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden, ein gut Teil Bildungsbürgertum als Träger kultureller Werte ausgedünnt worden, so dünn, dass es bedeutungslos in seinem Kulturauftrag geworden ist. An dessen Stelle hat die amerikanische Kulturindustrie, ein großes Kapital, den Bildungsauftrag der Erziehung der Massen übernommen und hier vortreffliche Arbeit geleistet, in erster Linie propagandistisch. Im Westen leben die Guten – soweit die Quintessenz. Man hat so lange gegen den Osten gehetzt, wo vormals zaristische, dann bolschewistische, stalinistische und schlussendlich oligarchische Ungeheuer sitzen und die Messer wetzen würden, dass mit dem Ende des Kalten Krieges niemand so recht zu wissen scheint, wer denn auf einmal ‘der Feind’ ist. Der internationale Terrorismus etwa? Wer ist Terrorist, wer Freiheitskämpfer, und wovon hängt das wiederum ab? Protestierten einst die Intellektuellen gegen Schauprozesse und die Studenten gegen den Vietnamkrieg, sind beide, Intellektueller wie Student, gegenwärtig in ihren Forderungen bestürzend bescheiden, in ihren Analysen perspektivelos, meistens systemkonform und politisch entweder phantasielos oder gleich im Prostitutionsmodus. Von illegalem Widerstand und Résistance ganz zu schweigen!

Offensichtlich ist das Verantwortungsgefühl irgendwie angeknackst, wie es auch Hessel auffällt. „Aber wir müssen hoffen, immerzu hoffen.“ – das unerschütterliche Credo seines Engagements. Irgendwann erwähnt er die sozial involvierte Person schlechthin, den Bohème, Philosophen, Schriftsteller und Widerstandskämpfer Sartre, und fasst in seinem Geiste „eine fast schon anarchistische Botschaft“, wenn man so will: „Verantwortung des Einzelnen, ohne Rückhalt, ohne Gott“. Der alte Mann hat immer noch Mut zur Wahrheit; furchtlos stellt er sich dem Leben und seinem Kampf. Anarchismus im Sinne von Herrschaftslosigkeit kann nicht funktionieren ohne eine hohe Bewusstheit, ohne ein tief verankertes Verantwortungsgefühl, ohne Anstrengungen um den respektvollen, bewussten, ‘neuen Menschen’, auf der einen Seite. Schon dem Begriffe nach lautet sein oberstes Postulat: Mensch über Mensch darf nicht herrschen! Auf der anderen Seite äußert sich in der Tat ein gewisser Anarchismus in der Geschichtslosigkeit der Hesselschen Anschauung, die bestehende Gesellschaft nicht als eine vergängliche, als eine Formation unter vielen zu erkennen, von der alles abhängt, auch die Befreiung aller als Vorbedingung der Freiheit des einzelnen, sondern das allgemeine Sozialproblem auf das Ich als Sozialatom zurück zu werfen, welches sich dann in aller Nacktheit entscheiden muss.

Der Ansatz ist psychologisch wertvoll, weil man es in der realen Welt mit fühlenden Wesen, also mit nicht nur rationalen Subjekten zu tun hat. In ihnen muss sich etwas ändern, damit sich um sie etwas verändert. Dieser innere Wandel muss sich gefühlsmäßig verankern, einen Weltanschauungscharakter und Moralkodex erhalten. Die Subjektivierung und Individualisierung der Sichtweise stellt aber auch ihre Fallen. Man verliert den Überblick, übersieht die Korrelationen, erkennt den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Organisatorisch, die Struktur und Methode des Widerstands gegen den geschichtlichen Rückschritt betreffend, ist der anarchistische Ansatz – Einer gegen alle – ein Desaster, kurz, ein Akt des politischen Selbstmords. Hessel lenkt die Aufmerksamkeit auf eine überzeitliche Sinnhaftigkeit, ähnlich dem Hegelschen Geschichtsbegriff (von der stufenweisen Höherentwicklung im Geiste der Freiheit), und verpasst ihr den Ausdruck einer privaten Ethik, aus der gleichsam axiomatisch, ohne Rückgriff auf höhere Ziele oder Verbündete, Engagement entsteht: „allein aus der Verantwortung des Einzelnen“. Keine Organisation, geschweige denn der Widerstand, kann auf dieser subjektivistischen Grundlage kontinuierlich arbeiten und ihre Interessen durchsetzen. Und dennoch muss man zugeben, dass es Sympathien weckt zu hören, wenn sich das Gewissen über das Reglement zu stellen weiß, und dass der feste Charakter vor dem persönlichen Vorteil kommen kann. Applaus! (– Ich meine das auch so, und nicht ironisch.) Die empörenden Unterschiede, die die Menschen jeweils zu Tätern und zu Opfern machen, unterliegen hingegen bestimmten Bedingungen für deren Fortbestand. Sollten dann nicht diese Bedingungen maximale Priorität haben, die Bedingungen der Befreiung aller Menschen? Einzelverantwortung ohne Rückhalt oder Gott, heißt es bei Hessel stattdessen. Der Kapitalist ist doch der Einzelne, der sich bloß vor sich selbst verantwortet; er hat im Geld und im Staat seinen Rückhalt und ist überstaatlich ohnehin eine Art Gott. Der reichste Mensch ist am ‘gottähnlichsten’. Ein kleines Missverständnis?

Alles darf Hessels Hoffnung scheinbar sein, Hegelianisch, subjektivistisch, extravagant, nur nicht brutal! Brutalität ist für ihn Tabu. Auch wenn, streng genommen, Revolutionäre niemals in Pension gehen, so setzt die Vorstellung von Tumult und Gewalt, von der physischen Abrechnung mit den Herrschenden und ihren Machtapparaten dem alten Mann ziemlich zu. Es wundert wohl niemanden, dass ihm beim heutigen politischen Bewusstsein der Massen dieser Gedanke eine Schweißperle auf die Schläfe treibt. Wem nicht?! Kategorisch lehnt er Gewalt ab, aus „der Hoffnung, dass die Gesellschaften unserer Zeit Konflikte durch gegenseitiges Verständnis in wachsamer Geduld werden lösen können“. Es ist ein hoffnungsvolles Bild, das er zeichnet. Dem gegenüber steht die Wirklichkeit zierlos da, wie eine verschwitzte Bühne zur Ausfechtung von Wirtschaftsinteressen mit allen Mitteln, mithilfe von Arbeitsrecht und Handelsgesetz, mithilfe von Privatpresse, Industrie und Bank, notfalls mit Finanzfrisierungen, Regierungskauf, Ausnahmezustand oder überhaupt mithilfe eines Militärschlags unter welchem Vorwand auch immer. Wie von einem westlichen „Maximierungsdenken“, das Hessel mit einem Rausch des Zusätzlichen und einer Mentalität der Nimmersattheit vergleicht, übergegangen werden soll zu einer Neubesprechung des wirtschaftlichen Herr-Knecht-Verhältnisses (zu seinem „Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht“), ist ungesagt, sozusagen ein Geheimnis. Bleibt nur: immerzu hoffen! Hessel empfiehlt den Gewaltverzicht, konterkariert durch ein Zitat Sartres, wo selbiger die Gewalt in jeder Form ein Scheitern nennt: „Aber es ist ein unvermeidbares Scheitern“, sagt Sartre, „weil wir in einer Welt der Gewalt leben; und wenn es wahr ist, dass der Rückgriff auf Gewalt gegen Gewalt sie zu verewigen droht, so ist auch wahr, dass sie das einzige Mittel ist, sie enden zu lassen“. Die Meinungen gehen hier auseinander.

Den physischen Widerstandsakt setzt Hessel mit Terrorismus gleich, der für ihn inakzeptabel ist. Gleichzeitig nimmt er eine apologetische Haltung ein, wenn er ihn kurzerhand als „einen bedauerlichen Kurzschluss“ darstellt und als „eine Erscheinungsform von Verzweiflung“ verharmlost. Diese angebliche Waffe der Hoffnungslosen lässt sich beispielsweise aus den Aktionen der Hisbollah, der Partei Gottes, eines libanesischen ‘Staates im Staat’, nicht herauslesen und wohl kaum als Verzweiflungstat deuten. Dschihadisten sind keinesfalls hoffnungslos und erliegen keinerlei Kurzschluss, sondern wissen genau, was sie tun. Denn sie planen ihre heimtückischen Aktionen mit der ganzen Kraft und Ausdauer ihres Hasses. Es sind Klerikalfaschisten; ihr Terrorismus hat System und kann darum kein nervöser Reflex sein. Dass zudem die Nazis in den Nachrichten die slawischen Partisanen und französischen Résistancekämpfer durchwegs als Banditen und Terroristen bezeichnet haben, kann Hessel ja nicht unbekannt sein. Im Grunde genommen, sind es Widerstandskämpfer; ihr Terrorismus ist die reinste Propagandaphrase und umso mehr eine ‘heilige Pflicht’. Wenn schon die Empörung deren Grundmotiv, so ist der bewaffnete Aufstand ihr schmerzlichster Stachel gewesen. Die Empörten haben sich mit der bestehenden Ordnung, die als Faschismus ganz Europa terrorisiert hat, wörtlich im Krieg befunden. Aber das sind schließlich andere Zeiten und Umstände gewesen, und man hat sich unter viel ungünstigeren Vorzeichen adäquater gewehrt. Man merkt: das Konzept variiert.

Hessel wagt sich weit hinaus: „Wenn es gelingt“, sagt er, „dass Unterdrücker und Unterdrückte über das Ende der Unterdrückung verhandeln, wird keine terroristische Gewalt mehr erforderlich sein“. Allerhand! In zweifacher Hinsicht ist der Satz problematisch, einmal von der Vorannahme her, ein andermal von den Implikationen her. Zwangsfolgend stellt sich die Frage nach der Konkretisierung, die wichtigste aller Fragen nämlich, unter welchen bestehenden Bedingungen solche Verhandlungen freiwillig, gewaltfrei, fair und wahrscheinlich wären. Da kommt der erste Konjunktiv ins Spiel. Oder man muss rätseln, ob man sich den Umkehrschluss erlauben sollte, dass terroristische Gewalt nötig wäre, solange Unterdrücker und Unterdrückte nicht miteinander in einen Dialog treten würden, und zwar über das Ende der Unterdrückung überhaupt. Hier meldet sich der zweite Konjunktiv, noch spekulativer als der erste. Das Nicht-Lösen der ‘sozialen Frage’ würde in diesem Nečajevschen Modell für so lange zu gewaltsamen Antworten führen, bis eines Tages endlich über die Abschaffung der Unterschiede und Klassen verhandelt werden könnte, aber auf Augenhöhe. Das kann nicht gemeint worden sein, denn Hessel lehnt den Terrorismus ab, sondern – dass man seine Ursachen bekämpfen muss, um ihn zu beseitigen.

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„Wer heute etwas erreichen will, muss gut vernetzt sein und sich aller modernen Kommunikationsmittel bedienen“, rät Hessel. Den Anschluss an seine Zeit zu finden, ist unerlässlich. Den technischen Fortschritt nicht zu missachten, gebietet die Intelligenz. Wer die Wissenschaft nur als Feind erlebt, hält über kurz oder lang Erkenntnis für schädlich und Wissen für gefährlich. Derlei Denker, seien sie nun esoterisch oder akademisch, sind allem voran aufklärungsfeindlich und tummeln sich philosophisch im rechten Eck. Hessel gehört nicht dazu. Seine republikanischen Ideale, freilich etatistisch, dem Staat verhaftet, sind geknüpft an ein Bekenntnis zur sozialen Sicherheit: „Das Gemeinwohl sollte über dem Interesse des Einzelnen stehen, die gerechte Verteilung des in der Arbeitswelt geschaffenen Wohlstands über der Macht des Geldes“. Die Gegenwart ist gegenteilig. Zum gegebenen Zeitpunkt diene man, wie er sagt, „zu sehr einer Gesellschaft des Gelds“, was wiederum „nicht genügend Raum für Kreativität und kritisches Denken“ hinterlasse. Geld scheint der Scharnier zu sein, an dem die Tür zur kapitalistischen Hölle hängt.

Leider unterscheidet Hessel nicht zwischen Geld und Kapital, wie viele Andere auch. Aus der Warenproduktion entstanden und als Wertmaßstab, Zirkulations- und Zahlungsmittel anerkannt (zunächst als Münzgeld antiker Reiche seit Krösus, seit dem Verschwenderkönig Louis XV als Banknote, seit dem Quäkerpräsidenten Nixon auch ohne Deckung durch den Goldwert), wird Geld zu Kapital, ab da, wo es in den Produktionsprozess einsteigt und Arbeitskraft als jene Ware ankauft, die mehr Wert zu produzieren imstande ist, als ihre Instandhaltung an sich abverlangt – den Mehrwert. Wer nichts besitzt, verkauft am Markt seine Arbeitskraft, kurz, sein Leben. Marx hat dies als das grundlegendste Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus beschrieben, aus dem sich der teils stille, teils offene Klassenkampf ergebt. Lenin, der erste Globalisierungskritiker, hat aus der marktbedingten Tendenz zum Weltmonopol unter ungleichen Voraussetzungen das Theorem der ‘ungleichmäßigen Entwicklung’ abgeleitet; sie bedingt, dass der Monopolkapitalismus in eine Phase des Imperialismus eintrete und er sich fortan durch Krisen und Kriege entwickeln werde. Hessel vermeidet solche Synthesen. Ihm genügt es, das Endresultat dieser Produktionsweise, nämlich, die sozialen Missstände der Marktwirtschaft zu verurteilen. Daher identifiziert er die „immer weiter sich öffnende Schere zwischen arm und reich“ als eine der großen „Menschheitsaufgaben“. Zu Beginn ist es noch um das Scheitern der sozialen Republik gegangen, zum Schluss schon um eine Aufgabe für die ganze Gattung! Der Artikel 22 der ‘Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte’ garantiert das Recht auf soziale Sicherheit, sagt Hessel. In keinster Weise streitet er ab, dass dieser „bloß deklaratorischen Charakter“ habe. Nichtsdestotrotz sei er hernach „nicht ohne Wirkung geblieben“. Ein guter Mann hat also etwas zu Papier gebracht, es Artikel für Artikel aufgebaut wie ein Architekt: Pierre Villon, geborener Ginsburger. Das kann passieren, wenn ein Rabbinersohn zum Kommunisten wird! Die zweite Aufgabe der Menschheit sieht Hessel im Umstieg von der Theorie in der Implementierung der Menschenrechte, wie sie am 10. Dezember 1948 von der UNO verabschiedet worden ist. Sein Motto: man solle sich daran orientieren und sich empören und sich einzeln engagieren. Mann soll sich zum Widerstand aufraffen und Neues erschaffen, „Neues schaffen“ und „Widerstand leisten“. Diese beiden Dinge sind für ihn, wie gesagt, äquivalent.

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Ich habe riesigen Respekt für einen Menschen seines Kalibers: er selbst ist alt, aber sein Geist ist jung und wendig; er hat sein Leben gelebt, aber er sorgt sich um das Leben aller nach ihm; er plädiert zwar für die Gewaltlosigkeit, aber er lässt Argumente für die Gegengewalt zu Wort kommen; er ist Jude, aber er nennt den Gaza-Streifen „ein Gefängnis unter freiem Himmel“; er ist nicht ein bißchen prätentiös, sondern gepanzert mit der Erfahrung der Jahre aus der Spanne eines ganzen Jahrhunderts, jedoch lebendig, noch immer wachsam und reflektiert, voller Mut, voller Stolz. Hessel ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Verglichen mit ihm, bin ich oft ohne Maß, hitzig, züngig und zügellos, eine winzige Figur im Weltgeschehen, nur ein Zwerg, der auf die Schultern von Riesen klettern muss, um etwas weiter zu sehen und etwas besser zu verstehen. Ich will sein Engagement deswegen nicht in Abrede stellen, bloß die Stoßrichtung des Diskurses ändern. Die Schuldigen im Kapitalismus, die Ausbeuter und deren zivile, klerikale und militärische Handlanger, kommen in der Regel davon. Sie müssen irgendwann wieder zur Verantwortung gezogen werden können – spätestens, wenn wir als Empörte und als Menschen zusammenkommen. Es ist Zeit, es in die Welt hinauszuschreien: empört euch nicht nur über sie, schlagt sie!

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