Von Opfertätern und Täteropfern

 In Politik (Inland)

WartezoneIn Rothenburg wurde vor wenigen Tagen ein externer Mitarbeiter des Jobcenters von einem “Kunden” durch eine Messerattacke getötet. Es ist der jüngste, aber nicht der erste Fall dieser Art. Politiker und Presse zeigen wie immer kein Interesse daran, über die Pathologisierung des Täters hinaus, nach (kollektiven, politischen) Ursachen solcher Tragödien zu suchen. http://www.fr-online.de/panorama/gutachter-erstochen-tod-im-jobcenter,1472782,29231620.html Wie Selbstmord ist Mord an Vertretern des “Systems” eine äußerste Konsequenz aus einer Situation unerträglichen emotionalen Drucks durch Hartz IV. Die ganze Gesellschaft sollte in höchstem Maße alarmiert sein – und scheint doch wieder allenfalls die Konsequenz ziehen zu wollen, die Sicherheitsvorkehrungen zu verschärfen. (Ellen Vaudlet)

Da ist kein Erschrecken mehr, keine Fassungslosigkeit, kein Entsetzen. Diese Emotionen sind weg. Sie sind einem – ich nenne es jetzt einmal so – rationalen Erklärenkönnen in bedauernder Resignation gewichen. Natürlich fühle ich mit den Angehörigen des Getöteten, so er welche hat. Einen geliebten Menschen zu verlieren, ist immer schlimm, noch schlimmer, wenn es durch eine solch sinnlose Tat geschieht. Den Getöteten zu betrauern, steht mir jedoch nicht zu, und es wäre zudem ziemlich heuchlerisch.
So bleibt es letztlich bei meinen grundsätzlichen Gedanken, denen, dass niemand das Recht hat, einem anderen, fühlenden Wesen Leid zuzufügen. Dass es durch nichts zu rechtfertigen ist, einem Menschen das Leben zu rauben.

Genau das aber geschieht in jeder Sekunde, ständig und überall auf dieser Welt. Der Getötete Rothenburger ist somit lediglich ein weiteres Opfer “der Umstände”, welche ich eher als Geistesgifte bezeichnen möchte. Diese “Umstände” mögen zwar auf den ersten Blick die unterschiedlichsten Gesichter haben, die ihnen zugrunde liegenden Ursachen aber sind immer dieselben und so alt wie die Menschheit selbst: Gier, Neid, Verblendung und Hass.

Opfertäter/Täteropfer

Mich widert, mit Verlaub, die heuchlerische Stellungnahme einer Frau Nahles genau so an, wie seinerzeit die von Frau von der Leyen nachdem 2012 ein Mitarbeiter des Jobcenters in Neuss erstochen worden war. Damals drückte ich meine Gefühle und Gedanken in einem offenen Brief an Letztgenannte aus. https://erbendertara.wordpress.com/2012/09/30/tod-im-jobcenter-offener-brief-an-ursula-von-der-leyen/ Ich flehte förmlich darum, Lehren zu ziehen aus der Bluttat. Ich appellierte an Mitgefühl (wie lächerlich, so im Nachgang betrachtet) und Verstand.

Jedem denkenden Menschen musste bereits weit vor den ersten Bluttaten, welche im Gegensatz zu den “stillen Opfern” (Suizide im zumindest mittelbaren Zusammenhang mit Hartz IV) medial entsprechend ausgeschlachtet wurden, klar sein, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis die durch Hartz IV ausgeübte strukturelle Gewalt ihre Opfer fordert. Auf beiden Seiten.
Das ist einfachste Physik: Druck erzeugt Gegendruck. Das ist biologisches Wissen: Fühlt sich ein Tier bedroht, in eine aussichtslose Situation gedrängt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit aggressiv. All das, was geschieht – und noch geschehen wird –, war und ist vorhersehbar. Nur: Die, die den Druck aus dem Kessel nehmen könnten, interessiert es nicht!

Kollateralschäden – auf beiden Seiten! – werden billigend in Kauf genommen, so einfach ist das. Ob erschossene Leistungsbezieherin oder toter SB, diese “bedauerlichen Einzelfälle” gehen den lobbygesteuerten Politdarstellern ganz gediegen am A**** vorbei. Anderslautende Lippenbekenntnisse sind Heuchelei, enthielten sie auch nur Fünkchen Wahrheit, also echtes Mitgefühl, würde man dieses Sozialgesetzbuch längst auf den Scheiterhaufen der Geschichte befördert haben!

Die Verantwortung des Einzelnen

Zusätzlich zu Inge Hannemanns Ansicht, dass die Schuld im System zu suchen sei (ja sicher, aber nicht ausschließlich) oder der Stellungnahme Martin Behrsings, dass solche Taten auf den (zweifellos herrschenden) “Klassenkampf von oben nach unten” zurückzuführen sind, sehe ich die Verantwortung aber auch bei jedem einzelnen Mitarbeiter der Jobcenter. Dies ausblenden zu wollen, wäre aus meiner Sicht sowohl töricht als auch fatal. Stellen wir uns vor, alle Mitarbeiter würden künftig “menschlichen Anstand” zeigen und ihre persönlichen Befindlichkeiten nicht am (schwachen) Gegenüber ausleben. Dies würde natürlich Zufallsopfer nicht generell ausschließen – leider. (Der Hass auf das System ist nicht eben klein seitens vieler Betroffener). Es würde aber die Gefahr mindern. Jeder Mitarbeiter hat daher zumindest – aus meiner Sicht – die Pflicht, dieses ohnehin entwürdigende, unter Generalverdacht stellende, unsägliche SGB2 so einzuhalten, dass “man” das daraus entstehende Leid ausschließlich eben diesem Gesetz resp. den Gesetzgebern anlasten kann.

Die Realität sieht aber völlig anders aus! Milgram lässt grüßen. Da werden Sympathie-und Antipathieentscheidungen getroffen. Da werden persönliche Befindlichkeiten ausgelebt bis zum Exzess. Es wird aus Freude schikaniert. Es werden Menschen mit verächtlichen Worten (denen meist auch Taten folgen) tituliert. Es wird jemandem ins Gesicht gelächelt und hinterrücks das Messer gewetzt.

Von der ständigen Angst der Betroffenen in Bezug auf Leistungsentzug – verschlampte und falsche, zu geringe monetäre Leistungen –, von der Angst um das Überleben also, schreibe ich hier nichts. Dies ist nur ein weiterer Mosaikstein im großen Puzzle. Der “Kunde” wird, ich bedaure diese harten Worte, oftmals behandelt wie ein Haufen Scheißdreck. Mieseste Unterstellungen ohne Substanz werden den Betroffenen ins Gesicht geschleudert. Mit einem Handstreich wird ihnen die Zukunft versaut. Selbst anwesende Zeugen werden (wenn sie Derartiges thematisieren) der Lüge bezichtigt. Übergriffigkeiten, ausgelebte Allmachtsphantasien, Anbrüllen, Hinterfotzigkeiten, Lächerlichmachen, Belügen, Pathologisieren usw. – all das ist (dreckiges) Tagesgeschäft. Ist es jetzt unangemessenes “Nachtreten” (der Getötete war Honorarpsychologe im Jobcenter), wenn ich schreibe, dass es sog. Psychologinnen im Jobcenter gibt, die sich in üblem, pathologisierenden und übergriffigem Gebaren üben? Vielleicht – und doch ist es Fakt.

Für das persönliche Verhalten sind weder das Gesetz noch der Gesetzgeber verantwortlich. Diejenigen, welche ihr Mitgefühl noch nicht verloren haben, sind in der Minderheit und haben vermutlich unter den Kollegen nicht den besten Stand. Diejenigen, welche unkritisch alles “Vorgegebene” abnicken und umsetzen, bilden die Mehrheit. Die Autorität gibt vor, der SB/AV/pAp setzt um – oder, um bei Milgram zu bleiben, dreht den Schalter. Die oben geschilderten Verhaltensweisen beim “Umsetzen” sind dann charakterabhängig.

Was bleibt? Ich gebe es offen zu: In weiten, und mir ehemals wichtigen, Teilen habe ich resigniert. Es war ein liebevoller Traum, eine Seifenblase, die zerplatzte. Die eher hilflosen denn wirkungsvollen Versuche, in meinem Amts-Gegenüber den Menschen anzusprechen und damit für die Betroffenen künftig etwas mehr empathisches Eingehen auf sie zu bewirken, sind gnadenlos gescheitert. Somit bleibt mir nur noch ein weiteres “Herumdoktern an Symptomen”: einschreiten, wenn etwas nicht gesetzeskonform läuft und somit “helfen”, wenn ich es denn vermag.

Diejenigen Mitarbeiter (ja, trotz des Aufschlags auf dem Boden der Realität und der teils sehr persönlichen Enttäuschung über eine gewisse Spezies gibt es sie noch immer), welche ihre Empathie noch nicht eingekerkert haben, die zwar dem System zuarbeiten (das tun nun mal alle), aber dennoch nicht zu “emotionalen Amöben” mutierten, hatten meine Versuche, den inneren Menschen zu beleben, niemals nötig. Diese Menschen hätten den Milgram-“Schalter” ohnehin niemals gedreht. Die anderen hingegen habe ich nicht “erreicht” und werde ich nicht erreichen, ergo versuche ich es auch nicht mehr. Das wäre töricht und “Perlen vor die Säue geworfen”.

Vielleicht begreifen sie irgendwann die Tragweite ihres persönlichen Handelns. Wie viele Tote es bis dahin noch geben wird, sollte denn tatsächlich einmal ein Umdenken stattfinden, steht in den Sternen.

Nachtrag:
Ich schrieb von Täteropfern und Opfertätern. Dies schließt die mir so gerne unterstellte (gehässige) Haltung des “die Mitarbeiter sind doch selbst schuld, wenn ihnen etwas zustößt” aus. So einfach, wie es manch promovierter Soziologe gerne und häufig unterstellt, mache ich es mir nicht…

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