Wie lange noch die Angst um Arbeitsplätze? (1/2)

 In Politik (Inland), Wirtschaft
Arbeiter – Szenenbild aus "Metropolis"

Arbeiter – Szenenbild aus “Metropolis”

Auf der einen Seite Menschen ohne Arbeit, demoralisiert, psychisch am Boden, gedemütigt und drangsaliert von den Behörden. – Auf der anderen Seite, Millionen, die sich gehetzt fühlen, genötigt in der gleichen Zeit immer mehr Arbeit zu leisten, diszipliniert auch durch die grausame Angst vor Arbeitslosigkeit. Die Lösung läge auf der Hand – und wird von interessierten Kreisen doch bis heute wirksam verhindert. Rainer Thiels engagierter und gut recherchierter Aufsatz macht deutlich: Angst, Druck und Demütigung sind keine Naturkonstanten. Sie können von Menschen verändert werden, wie sie von Menschen geschaffen wurden. Zeit, das Thema “Arbeitszeitverkürzung” ganz oben auf die politische Agenda zu nehmen. (Auszug aus dem Buch “Kaltes Land: Gegen die Verrohung der Bundesrepublik für eine humane Gesellschaft”, Hrsg.: Holdger Platta und Rudoph Bauer, Laika Verlag)

 

Die Lage

Wie viele Bundesbürger sind noch ohne Arbeitsplatz? Meistens pendelt die Zahl um die 3 Millionen, nach offizieller Statistik. Nach Insider-Statistik sind es um die 10 Millionen, denn man darf Leute nicht aus der Statistik nehmen, die schon über 58 Jahre alt sind. Viele andere darf man auch nicht aus der Statistik nehmen: die Mini-Jobber, die Genießer von Fortbildung, die Ehepartner und Lebensgefährten von Besser-Verdienenden, und schließlich diejenigen, die es müde sind, sich vergeblich zu melden. Die Autoren Bontrup, Niggemeyer, Melz analysierten, was sich ergibt, wenn man die Statistiken hinterfragt (in ihrem Buch „Arbeitfairteilen“ Seite 31–36). Da fanden die Autoren sogar die Regel des Statistik-Schwindels: Nach der International Labor Organization ILO gilt man schon dann als erwerbstätig, wenn man pro Woche eine (!) Stunde bezahlte Arbeit leistet. Unterm Strich ziehen die Autoren den Schluss: Es fehlen ca. 10 Millionen Arbeitsplätze.

Fast alle 10 Millionen sind verarmt, gezeichnet von Schikanen der Ämter, frustriert, die meisten haben allen Mut verloren und liegen seelisch am Boden. Zu den Familien der Verarmten gehören auch Millionen Kinder. Im Bundesdurchschnitt leben etwa 20 Prozent aller Kinder unter drei Jahren in armen Verhältnissen, in vielen Landkreisen Ostdeutschlands mehr als 40 Prozent (Studie der Bertelsmann-Stiftung, Auszug in „Neues Deutschland“, 2. Februar 2012).

Ein Teil der 10 Millionen armen Mitbürger arbeitet trotzdem noch, im Mini-Job oder für 5 Euro pro Stunde oder weniger. Auch das ist eines Menschen unwürdig. Man spricht von „prekär“ Beschäftigten. Dass deren Lage so ist, widerspricht unserem Grundgesetz, in dem es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen und zu achten ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (GG Artikel 1).

Nun zu den anderen, den Glücklichen: Viele Glückliche fürchten, sie könnten ihren Job verlieren. Wie schlimm „Hartz IV“ ist, haben sie noch nicht erkannt. Doch Angst beeinflusst ihr Verhalten trotzdem: Nur nicht den Arbeitsplatz verlieren! Deshalb lassen sie sich antreiben, heftiger und länger zu arbeiten, weil es von Vorteil für den Chef zu sein scheint: Der Chef wünscht es, ich bin ihm Untertan, also füge ich mich, so bewahre ich meinen Arbeitsplatz. Die Märkische Oderzeitung veröffentlichte am 25. Januar 2012 auf ihrer Wirtschafts-Seite:

„Zeitbombe Arbeitsstress. (…) Produktionsausfälle nach psychischen Erkrankungen von Mitarbeitern verursachen in Deutschland jährlich Kosten von 26 Milliarden Euro. Die Aufwendungen eingerechnet summierten sich die Kosten psychischer Erkrankungen von Arbeitnehmern auf jährlich rund 40 Milliarden Euro.“ Die Zahl wird wohl noch steigen, denn es dauert immer eine Weile, bis Überanstrengung zum burn out geführt hat. Dann aber müssen die Kollegen der Betroffenen noch heftiger roboten, um die Ausfälle zu kompensieren. Dann droht auch ihnen burn out. Wir spüren Mitleid mit ihren Chefs, denn sie brauchen viel Gewinn, um auf dem Markt im Wettbewerb zu bestehen.“

Der DGB veröffentlichte im März 2012 eine Studie „Arbeitshetze, Arbeitsintensivierung, Entgrenzung“, (im Internet unter DGB Gute Arbeit – Veröffentlichungen – Publikationen – Arbeitshetze). Die wichtigsten Abschnitte sind überschrieben: 1. Arbeitshetze: Bundesweit jeder zweite Beschäftigte fühlt sich bei der Arbeit sehr häufig oder oft gehetzt – Arbeitnehmerinnen sind in besonderem Maße betroffen. 2. Arbeitsintensivierung, Arbeitsverdichtung: 63 Prozent der Beschäftigten machen die Erfahrung, dass sie seit Jahren immer mehr in der gleichen Zeit leisten müssen. 7. Überstunden und Arbeitshetze: 20 Prozent der Beschäftigten leisten 10 und mehr Überstunden pro Woche (…) 8. Krank zur Arbeit: 49 Prozent der Beschäftigten sind innerhalb eines Jahres wiederholt auch dann zur Arbeit gegangen, wenn sie sich richtig krank fühlten.

Das ist schon lange so, doch der DGB hat es sich gefallen lassen, und nun pfeifen es die Spatzen von den Dächern:

Wir haben einen Überfluss von Arbeitshetze. Das ist ein Überschuss von Leistung pro Person. Jedenfalls hofft das der Unternehmer, denn er muss im Konkurrenzkampf bestehen. Den Überfluss an Leistung pro Person stellen wir uns mal vor als einen Berg. Und wir haben ein Defizit an Arbeitsplätzen, summiert aus nicht genutzter Arbeitsfähigkeit von 3 bis 10 Millionen Menschen, je nach Statistik. Sozusagen Arbeitsleistung mit Minus-Vorzeichen. Das Defizit stellen wir uns als Grube vor. Aber neben der Grube haben wir einen Berg von überzogener Arbeitsstunden-Leistung, also von Leistung, die zum Burn-out führt und zu Schlimmerem. Minus und Plus, Defizit und Berg – könnte das nicht jeder Sechst-Klässler verrechnen? Warum wird der Berg nicht abgetragen, um das Defizit zu überwinden? Um die Grube zuzuschütten? Um den Ausgleich herbeizuführen?

Auf dem Berg liegen reale Wochen-Bilanzen der Beschäftigten, gemessen in Zeit mal Stress-Faktor. Mit diesen Arbeitsstunden wird die Grube ausgefüllt, wo es an Arbeitszeit-Stunden der Erwerbslosen fehlt. Das ist schon 1984 das Thema von Jakob Moneta, damals Chef der IG-Metall-Zeitung. In seinem Buch „Die Streiks der IG Metall“ zitiert er den damaligen Chef der Bundesanstalt für Arbeit Dieter Mertens. Dieser hatte in der Frankfurter Rundschau am 18. 11. 1978 bekannt gegeben „daß eine Stunde weniger (für alle abhängig Beschäftigte) etwa 650 000 freie Arbeitsplätze ergibt. Unternehmensbefragungen zeigten, dass die Industrie etwa 50 Prozent davon über Einsparungen <!!!> auffangen könnte. Das bedeutet, dass aber immer noch gut 300 000 Arbeitsplätze zur Verfügung stünden“ (siehe Moneta, Seite 69!).

Das Klügste wäre: Wer einen Job ausübt, reduziert seine Arbeitszeit von 40 auf 30 Stunden pro Woche, bei vertretbarer Mühe pro Stunde. Das ist für jeden Reduzierenden von Vorteil, und zugleich werden Erwerbslose eingestellt. Wo bisher 120 Arbeitsstunden von 3 Leuten geleistet wurden, werden sie dann von 4 Leuten geleistet. Das einstellende Unternehmen kann pro Woche mit konstanter Arbeitsstundenzahl der Belegschaft rechnen und mit vertretbarer Mühe in jeder Stunde. Die Arbeit wäre fair geteilt. Sein Beitrag für die Arbeitslosenversicherung könnte sinken. Und ein sicherer Arbeitsplatz wäre Gewinn an Freiheit.

Freiheits-Gewinn durch Arbeitszeit-Verkürzung würde heißen:

Bewahrung der Gesundheit. Freizeit für Familie und Freundschaft, Freizeit für Hobby, Bildung und Erholung, Freizeit auch für Politik, sonst wachsen uns die Politiker über den Kopf. Trotzdem braucht das Einkommen pro Woche oder Monat nicht zu sinken, es gibt Geld genug für einen satten Ausgleich: Pro Jahr ca. 45 Milliarden Euro, die gegenwärtig anfallen, um Erwerbslose vorm Hungertod zu bewahren, 40 Milliarden Euro für die Folgen von Burn-out (siehe oben!), 50 Milliarden Euro für die Folgekosten des Mangels an Kinder-Fürsorge und für die Nachfolgekosten des Frusts bis hin zur Unlust am Lernen in der Schule und zur Kriminalitätsrate. So kommen wir schon auf über 100 Milliarden Euro. So viel Geld wird frei für den Entgelt-Ausgleich bei reduzierter Arbeitszeit.

Sollten die 100 Milliarden nicht genug sein, kann der Staat die Steuern für Millionäre wieder hochschrauben, sie waren ja schon mal bei 53 Prozent. Der Staat kann auch hohe Vermögen besteuern, wie es früher üblich war, bei Helmut Kohl. Schließlich kann der Staat Steuerschlupflöcher schließen, zugunsten der Moral und der Staatsfinanzen. Für die Großbanken kann der Staat die Finanz-Transaktions-Steuer einführen, die sogenannte Tobin-Steuer. Obendrein kann der Staat die Militärausgaben senken. Da würden weitere zweihundert Milliarden Euro zusammenkommen. Mindestens dreihundert Milliarden Euro pro Jahr würden für den Entgeltausgleich verfügbar sein, der den kürzer arbeitenden Stundenlohnempfängern zugute käme. Das wären ungefähr zehntausend Euro pro Stundenlohnempfänger im Jahr. Der Staat könnte friedlich klotzen und sich beliebt machen. Das Problem des branchenübergreifenden Mindestlohnes würde gleich mitgelöst: Wenn heute jemand 40 Stunden robotet für 6 Euro pro Stunde, könnte er sich bei Mindestlohn von 10 Euro bei 30 Stunden Wochenarbeitszeit verbessern: von 240 Euro pro Woche auf 300 Euro. Zwei Probleme im Verbund zu lösen kann leichter sein als zwei Probleme einzeln. Und weil die Ärmsten sich mehr kaufen könnten, würde dies auch den Konjunkturaufschwung befördern.

Der Staat könnte noch viel mehr. Die aktivierbaren Milliarden würden helfen, Bildung und Kultur zu fördern. Dann würde die wachsende Freizeit aktivierbar, um dem Staatsbürger die Kultur zu erschließen, die Welt der Mitmenschen, die als Schwestern und Brüder begreifbar würden, wenn Bildung und Kultur die Chance zum Wachsen bekämen. Ein solches Wachstum wäre sinnvoll.

Vorteile für bisher Erwerbslose

Erwerbslose kämen zu einem menschenwürdigen Einkommen. Sie wären nicht mehr den Ämter-Schikanen ausgesetzt. Ihre Menschenwürde würde wiederhergestellt. Sogar für den Staat wäre das von Vorteil. Er brauchte sich nicht mehr vorwerfen zu lassen, das Grundgesetz zu verletzen. Und bisher Erwerbslose würden wieder Kollegen unter Kollegen sein. Sie würden ihre Sozialbeziehungen wiederherstellen. Sie könnten das Gefühl wiedererlangen, als Mensch für andre Menschen nützlich zu sein, als Industrie-Arbeiter, Bau-Arbeiter, Fahrzeug-Führer, als Gärtner, Krankenschwester oder Sozialarbeiter. Was kann es Schöneres geben als das Empfinden: Ich werde geachtet, weil ich anderen Menschen nützlich bin? Diese Chance darf den Erwerbslosen nicht geraubt bleiben. Dann würden sie auch den Frust überwinden, der sie psychische tot macht. Wer sinnvolle Arbeit leistet, verwirklicht sich selber als Individuum. Dann, aber auch erst dann könnte man von Freiheit reden.

Blick auf die sogenannten Teilzeit-Arbeiter

Vor allem Frauen mit Familie empfinden 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche als übertrieben. Sie würden gern auf einer Vollzeit-Arbeitsstelle tätig sein, aber nicht 40, sondern 30 Stunden pro Woche. Doch was geschah stattdessen? Von Unternehmensführungen wurden Vollzeit-Stellen halbiert: Halbiert wurde die individuelle Arbeitszeit, und halbiert wurde das Gehalt. In einem Supermarkt, in dem ich meinen Proviant einkaufe, sprach ich mit Angestellten: „Früher waren Sie vier Frauen in der Schicht, jetzt sind Sie nur noch zwei. Aber ich sehe, wie Sie von der Kasse zu den Regalen rennen und von den Regalen wieder zur Kasse. Die Arbeit ist dieselbe geblieben, doch Sie müssen jetzt für zwei Personen arbeiten. Nur das Geld für zwei Arbeitskräfte kriegen Sie nicht.“ Die Frauen freuten sich, dass sich ein Kunde für ihr Schicksal interessierte. Ich fragte sie auch, was sie verdienen. Antwort: „Das darf ich Ihnen nicht sagen.“ Doch als ich ihnen sagte, für Ihre Arbeitsleistung bekämen sie jetzt nur noch die Hälfte, widersprachen sie nicht. Aber 30 Stunden mit Entgeltausgleich – das hätte ihnen gut getan.

Stattdessen wurde die sogenannte Teilzeitarbeit forciert. Das war vor ca. zehn Jahren. Da hatte ich längst begonnen, für allgemeine Arbeitszeitverkürzung zu werben, in der Hoffnung, von der Linkspartei – damals PDS – würde das Thema aufgegriffen. Die Forcierung der Teilzeit wäre ein neuer Anlass gewesen, öffentlich über allgemeine Arbeitszeitverkürzung zu sprechen. Doch nichts geschah. Eine verheißungsvolle Leserbrief-Reihe in der sozialistischen Tageszeitung „Neues Deutschland“ wurde mit Hilfe eines Ökonomie-Professors aus der SED abgebrochen. Deshalb schrieb ich über mein Konzept: „Fangt endlich an mit Politik“. ( www.thiel-dialektik.de Publikationsfeld 8) Dabei ist das ganze Thema schon uralt. Gewerkschaften haben gekämpft um Arbeitszeitverkürzung. Und die Unternehmen – wenn auch widerwillig – sind nicht schlecht gefahren dabei. Zwei Gegensätze waren im Klinch, und beide haben – recht und schlecht – einen modus vivendi gefunden, jahrzehntelang. Das sollten wir uns auf der Zunge zergehen lassen:

Arbeitszeitverkürzung zwischen 1840 und 1990

Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren achtzig Stunden Arbeitszeit pro Woche üblich, in der Industrie, im Bergbau, in der Landwirtschaft, im Handwerk und im Handel. Selbst Unternehmer spürten – so geht das nicht mehr lange. Die abhängig Beschäftigten begannen, um menschliche Arbeitszeit zu ringen. Heute ist Literatur darüber gut zugängig. Professor Heinz Bontrup und seine Gefährten Lars Niggemeyer und Jörg Melz veröffentlichten 2007 in der Reihe AttacBasisTexte ein Büchlein mit dem Titel „Arbeitfairteilen“. Daraus entnehme ich: „Erste Hoffnungen in Sachen Arbeitszeitverkürzung (…) beruhten (…) auf gesetzlichen Maßnahmen. Diese wurden aber durch die Frankfurter Nationalversammlung während der 1848er-Revolution nicht erfüllt. Erst viel später, im Mai 1889, konnten westfälische Bergarbeiter durch einen längeren Streik eine neunstündige Schicht (…) erkämpfen (…)“ (Seite 15) Weiter auf Seite 17: „Die internationale Arbeiterbewegung erkannte (…), dass der Achtstundentag (…) eingeführt werden müsse. Auf dieses Ziel arbeitete die internationale Sozialdemokratie hin. Der Internationale Sozialistenkongress, der 1889 zur Jahrhundertfeier der Französischen Revolution in Paris tagte, beschloss, am 1. Mai jeden Jahres für den Achtstundentag zu demonstrieren. Am 1. Mai 1890 wurde zum ersten Mal in allen größeren Städten (…) für die Einführung des Achtstundentages demonstriert.“

Von hier ab trete ich in Dialog mit Bontrup, Melz und Niggemeyer. Als erstes ergänze ich: Schon 1866, kurz nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg, hatte der allgemeine Arbeiterkongress zu Baltimore erklärt: Ein Gesetz zum 8-Stunden-Normalarbeitstag sei notwendig. Ebenfalls 1866 forderte der Internationale Arbeiterkongress zu Genf „8 Stunden als legale Grenze des Arbeitstags“ (Gefunden bei Karl Marx, „Das Kapital“ Erster Band, Achtes Kapitel „Der Arbeitstag“, Abschnitt 7).

Doch zurück zu Bontrup, Niggemeyer, Melz: „In Deutschland wurde vor dem Hintergrund der Novemberrevolution von 1918 (…) der Achtstundentag bei einer 48-Stunden-Woche eingeführt. (…) Dies aber nur deshalb, weil die Kapitalseite am Ende des Ersten Weltkriegs (…) den Kapitalismus in Deutschland retten wollte.“ Da rufe ich „hört hört“: Weil die Kapitalseite den Kapitalismus retten wollte. Doch Bontrup und Mitautoren setzen fort: „1923 war für die Hälfte der Arbeitnehmer (…) der Achtstundentag bereits wieder abgeschafft (…) um aus den dadurch resultierenden Lohnsenkungen Vorteile erzielen zu können. Die bereits bestehende Arbeitslosigkeit nahm daraufhin deutlich zu“ (Seite 19). Ergänzung von mir: Aus der zeitweiligen Verlängerung des Arbeitstages resultierten also höhere Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen. Nun wieder Bontrup und Mitautoren: „Erst ab 1925 konnten die Gewerkschaften wieder Arbeitszeitverkürzungen, allerdings ohne Lohnausgleich, durchsetzen“ (Seite 20).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in beiden deutschen Staaten die 48-Stundenwoche angestrebt, in der DDR lag für Frauen und Jugendliche die Grenze noch darunter. In der DDR war das kein politisches Problem, es war Staatsräson. Ich war DDR-Bürger und habe das erlebt. Bontrup kennt die BRD besser. In der BRD war „zentrales Thema in den 1950er Jahren (…) die Kampagne des DGB zur Einführung der Fünftagewoche mit acht Stunden täglicher Arbeitszeit. Der 1. Mai 1956 stand unter dem Motto: ´Samstags gehört Vati mir´. (…) Zwischen 1955 und 1970 ging die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 auf 40 Stunden zurück.“ Einschub von Thiel: Das ging schneller als in der DDR, die als kleinerer Staat den größten Teil der deutschen Reparations-Leistungen zu tragen hatte. Die BRD verweigerte sich, mit Rückendeckung der Westmächte. Bontrup, Niggemeyer, Melz verweisen darauf, dass schon in den 60er Jahren die allmähliche Durchsetzung der 40-Stundenwoche „die Entstehung eines Millionenheeres von Arbeitslosen (bzw. von durch Rationalisierung ´Freigesetzten´ verhindert hat“ (Seite 22). Doch mit der Wirtschaftskrise 1974/75 stiegen die Arbeitslosenzahlen wieder „drastisch an“ (Seite 21). Zeitlich verschoben, stiegen auch wieder die Warenpreise auf dem Markt. Da begannen die meisten Gewerkschaften, primär um höhere Löhne zu ringen und nicht so sehr um Arbeitszeitverkürzung. Frage von Thiel: Haben da die Gewerkschaften vielleicht zu kurz gedacht?

Ab 1980 wird es dramatisch. Gewerkschafter rangen um Tariflöhne. Doch sie dachten nicht weit genug. Schon 1977 gab ihnen Professor Fritz Vilmar von der Freien Universität (West-)Berlin zu bedenken, wegen der „industriellen Reserve-Armee“, die aus den Erwerbslosen gebildet wird: „Das Vorhandensein einer industriellen Reservearmee erzeugt Existenzangst auch bei den (noch) nicht Arbeitslosen, schwächt die Organisations- und Kampfbereitschaft der Arbeitnehmer und erzeugt unaufhörlich die demagogische Forderung nach gewerkschaftlicher ´Lohndisziplin´, da sonst (…) noch weitere Zehntausende von Arbeitsplätzen wegrationalisiert würden. Warum auch Gewerkschaftsführungen hierzulande bislang meist nur relativ zaghaft die Strategie der Arbeitszeitverkürzung befürwortet haben (…)“ (zitiert von Bontrup u.a. Seite 22). Und auf Seite 23: „Der erste Streik um die 35-Stundenwoche wurde 1978/79 in der Stahlindustrie geführt.“

Davon erzählt Jakob Moneta. In seiner Zeitung war 1978 auch informiert worden: Allein schon wegen technischer Fortschritte ist 1985 „jeder dritte Stahlarbeiterplatz in Gefahr. (…) Jeder dritte Stahlarbeiter wird (…) seinen Arbeitsplatz verlieren, wenn (…) die Arbeitszeit nicht drastisch reduziert wird“ (im Buch von Moneta Seite 70). Die Tarifkommission der IG Metall rang mit den Stahl-Industriellen. 40 000 Arbeiter und Angestellte aus 9 Betrieben traten in den Streik, das erste Mal seit 50 Jahren. Die Stahl-Barone reagierten mit Aussperrung und lehnten Arbeitszeitverkürzung ab.

Später können Bontrup, Niggemeyer, Melz feststellen: „1995 wurde die 35-Stunden-Woche endgültig in der Metall- und Druckindustrie eingeführt.“ Ein Intermezzo gab es zeitweilig bei VW: Arbeitszeitverkürzung von 35 auf 28,8 Stunden bei 18 Prozent Lohnsenkung. Schon in den Jahrzehnten zuvor waren die Unternehmensführungen sehr tüchtig gewesen: Sie hatten Arbeitsabläufe bei jedem Wandel meisterhaft neu organisiert, bei Senkung der Arbeitszeit und auch bei Verlängerung, als sie den Krieg vorbereiteten. Da ging es besonders schnell. Wenn sie wollen, können sie tüchtig sein.

Seit 1995 allerdings sind sie wieder „Meister“ eines anderen Prozesses: Als Erzwinger längerer Arbeitszeit.

(Am kommenden Dienstag lesen Sie an dieser Stelle den zweiten Teil des Artikels)

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