Wird Deutschland jetzt in der Ukraine verteidigt?
Der stellvertretende deutsche Regierungschef Sigmar Gabriel hat sich gegen eine Vernehmung des NSA-Enthüllers Edward Snowden in Deutschland ausgesprochen. Er habe die Sorge, so heißt es, dass Snowden dann Gefahren ausgesetzt wäre, die auch die Bundesregierung nicht überschauen könnte. Offenbar meinte er damit eine unkontrollierbare Aktion des US-Geheimdienstes gegen den von Washington als Staatsfeind mit Haftbefehl gesuchten ehemaligen NSA- und CIA-Mitarbeiter. Erwägt Gabriel also die Möglichkeit einer Entführung oder sogar eines Mordes an einem vom NSA-Untersuchungsausschuss vorgeladenen Zeugen mitten in Deutschland? Zugespitzt: Hat er womöglich Angst vor einem Drohnenangriff des in Ramstein stationierten US-Militärs?
Das wirft unabweisbar nicht nur die Frage nach der Zuverlässigkeit der deutschen Staatsschutzorgane auf, sondern überhaupt danach, ob Deutschland der souveräne Staat ist, als der er sich in der Weltöffentlichkeit präsentiert. Darüber hinaus ist zu fragen, ob die deutsche Regierung entsprechend ihrer Verpflichtung, die ihre Mitglieder durch Eid auf die Verfassung eingegangen sind, wirklich und ausschließlich das Wohl der Bevölkerung vertritt. Daran ist erst recht zu zweifeln, wenn man sich die Haltung der Regierung in dem Konflikt mit Russland wegen der Krise in der Ukraine vor Augen führt. Die Chronologie der Ereignisse, die zur momentanen höchstgefährlichen Situation geführt haben und die nur allzu schnell verdrängt worden sind, gibt erschreckenden Aufschluss.
Begonnen hat es damit, dass die Verhandlungen der EU und Deutschlands mit der Ukraine seit drei Jahren stets mit der Forderung nach einer Haftentlassung der kriminellen Politikerin und Multimillionärin Julia Timoschenko verknüpft waren. Timoschenko war 2004 nach erwiesenen Wahlfälschungen aus der von den USA organisierten und finanzierten „Orangenen Revolution“ (http://www.freitag.de/autoren/hans-springstein/5-milliarden-dollar-fuer-den-staatsstreich)an die Macht gekommen und 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Wegen ihr, die in der Haft medizinisch von Ärzten der Berliner Charité versorgt wurde, ist die Unterzeichnung des bereits ausgehandelten Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU 2011 auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Erst nachdem sie in einem mitgeschnittenen Telefongespräch äußerte, dass sie Putin in den Kopf schießen und die russischsprachige ukrainische Bevölkerung umbringen möchte, hat sie im Westen ihren Status als ukrainische Lieblingsoppositionelle verloren.
Weiter ging es nach einigen fragwürdigen politischen Intermezzos und Einmischungen in die innerstaatlichen Angelegenheiten der Ukraine mit der sogenannten Maidan-Bewegung, an der nicht nur demokratisch-oppositionelle Kräfte beteiligt waren, sondern maßgeblich auch Nationalisten und ausländische Geheimdienste. Letzteres wurde publik durch ein Telefonat der EU-Beauftragten des US-Außenministers John Kerry, Victoria Nuland(„Fuck the EU“), mit dem US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt (http://www.nachdenkseiten.de/?p=20781#more-20781). Danach plante Washington bereits das Szenario für die Zeit nach dem lange vorbereiteten Staatsstreich und favorisierte seinen Günstling, den Oligarchen Arsenij Jazenjuk, der dann auch Ministerpräsident wurde. Seine Stiftung Open Ukraine pflegt intensive Beziehungen zum US-Außenministerium und der NATO und wird von einflussreichen westlichen Organisationen gesponsert. Schon am 13. Dezember 2013 renommierte Victoria Nuland in Kiew damit, dass die USA mehr als fünf Milliarden Dollar für den Regime Change in der Ukraine investiert hätten.
Aus einem anderen Telefongespräch, das die Außenbeauftragte der EU, Catherine Ashton, mit dem estnischen Außenminister Urmas Paet führte, geht hervor, dass der EU Ende Februar 2014 Informationen vorlagen, wonach die Todesschützen am Maidan-Platz nicht im Auftrag des gestürzten Präsidenten Victor Janukowitsch gehandelt haben sollen, sondern im Auftrag einer Gruppe, die der neuen Koalitionsregierung angehört. Und gerade wurde bekannt, dass der CIA-Chef John Brennan auf geheimer Mission in Kiew war. Natürlich ist das, wie auch die übrigen Hintergrundinformationen für die deutschen Leitmedien, deren Chefredakteure zum großen Teil US-Netzwerken angehören, nicht weiter von Bedeutung. Keiner von ihnen fragt, was Brennan in der Ukraine zu suchen hatte, was er mit wem besprochen hat. Stattdessen werden Putin und „die Russen“ weiter verteufelt, Hintergrundinformationen zurückgehalten.
Jetzt marschiert die NATO an den Grenzen Russlands auf, Armeeeinheiten werden von der Kiewer Regierung in die Ostukraine geschickt, wo als Terroristen bezeichnete prorussische Demonstranten öffentliche Gebäude besetzt haben (wie es vorher von den als Freiheitskämpfern bezeichneten Aktivisten in der Westukraine geschah). Deutschland entsendet Kampfjets ins Baltikum und Kriegsschiffe in die Ostsee; zugleich warnen der amerikanische Präsident wie auch die deutsche Bundeskanzlerin den russischen Ministerpräsidenten vor einer Eskalation. Sie fordern von Wladimir Putin Mäßigung in der Krise, für die Russland die Hauptverantwortung trage und sie verlangen einen Rückzug des an den Grenzen stationierten russischen Militärs.
Kein Wort mehr zu der denkwürdigen Rede Putins vom 18. März 2014 im Kreml, aus der die deutschen Leitmedien ihrem Publikum lediglich dem Westen genehme Zitate mitgeteilt haben. Umso wichtiger erscheint es, eine besonders eindrucksvolle Passage daraus zu zitieren:
„Wir werden es mit Sicherheit auch mit äußeren Gegenmanövern zu tun bekommen, doch wir müssen für uns selbst entscheiden, ob wir dazu bereit sind, unsere nationalen Interessen konsequent zu verteidigen, oder ob wir sie mehr und mehr aufgeben und uns wer weiß wohin zurückziehen. Manche westlichen Politiker schrecken uns bereits nicht nur mit Sanktionen, sondern auch mit der Perspektive einer Verschärfung der inneren Probleme. Es wäre interessant zu erfahren, was sie damit meinen: Aktivitäten einer gewissen ‘Fünften Kolonne’ – also verschiedener ‘Vaterlandsverräter’ – oder rechnen sie damit, dass sie die soziale und wirtschaftliche Lage Russlands verschlechtern können und damit eine Unzufriedenheit der Menschen hervorrufen? Wir betrachten solche Verlautbarungen als unverantwortlich und offen aggressiv, und werden entsprechend darauf reagieren. Dabei werden wir selbst niemals nach einer Konfrontation mit unseren Partnern – weder in Ost, noch in West – streben; ganz im Gegenteil, wir werden alles Notwendige unternehmen, um zivilisierte, gutnachbarliche Beziehungen aufzubauen, so, wie es sich in der heutigen Welt gehört.“
Es wäre vernünftig und existenziell wichtig gewesen, das zu überdenken. Doch CDU/CSU wie auch die SPD schließen sich als willfährige Vasallen der Konfrontations- und Lügenpolitik der USA an, anstatt sich auf eigene Grundsätze zu besinnen, vielleicht auch auf Willy Brandts These vom „Wandel durch Annäherung“ (dazu Albrecht Müller in http://www.nachdenkseiten.de/?p=21147#more-21147). Aber was ist von einer Regierung zu halten, die ständig die eigene Verfassung bricht, um die hochbrisante Kriegstreiberei der USA mitzumachen?
In Artikel 26, Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Soll Deutschland jetzt, wieder unter Umgehung des Grundgesetzes, statt am Hindukusch weiter in der Ukraine „verteidigt“ werden? Oder im Baltikum? Oder in Polen? Steht uns etwa wieder ein „humanitärer Einsatz“ ins Haus, in den die NATO unter Führung der USA Deutschland hineinzieht?
Aktuell geht es darum, den Lügen und der fast einhelligen Medienhetze etwas entgegenzusetzen – vielleicht gelingt das den Ostermarschierern und der deutschen Friedensbewegung, was zu hoffen wäre. Was über den von den USA organisierten und finanzierten Staatsstreich in der Ukraine gebetsmühlenartig berichtet wird, ist jedenfalls eine Schande und ein Armutszeugnis für die deutschen Medien. Erst recht wirft die jüngste politische Entwicklung bis hin zur Kriegsgefahr ein bezeichnendes Licht auf die politischen Dilettanten, Schwätzer und Renegaten in der deutschen Regierung, die offenbar nicht willens oder in der Lage sind, die gravierenden Folgen ihrer Handlungen abzuschätzen.
Deutschland hat nach den bitteren Erfahrung aus dem vergangenen Jahrhundert jede Berechtigung verwirkt, anderen Völkern zu drohen, und die amerikanische Regierung hat seit Langem ihre Glaubwürdigkeit verloren. Lügen, Hetze, Drohungen, Mobilisierung des Militärs, statt Deeskalation. Was ist das für eine Hybris? Soll das wieder einmal auf Kosten der Bevölkerung gehen, die – wenn man die letzten Konsequenzen bedenkt – in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen hineingezwungen würde?
Zuerst wird ein Land aufgemischt, wobei man sich noch dazu militanter nationalistischer Kräfte bedient (http://www.hintergrund.de/201402273006/politik/welt/todeslisten-und-molotow-cocktails.html), und wenn die beabsichtigten Ziele nicht erreicht werden, lamentiert man über die Folgen, die zu erwarten waren. Oder haben westliche Militärs wirklich geglaubt, dass Russland die Einkreisungspolitik der NATO und der USA tatenlos hinnehmen und jetzt auch noch seinen Flottenstützpunkt auf der Krim aufgeben würde?
Nach allem, was bisher geschehen ist, erscheint Putin jedenfalls glaubwürdiger als Obama und seine Kriegstreiber, die nach und nach die ganze Welt verwüsten (jetzt zündeln sie schon wieder in Venezuela). In Kiew sind Ministerämter und hochrangige Militär- und Polizeiposten mit Faschisten besetzt, die offensichtlich vor Verbrechen nicht zurückschrecken. Die deutschen Politiker und ihre Medien sollten sich schämen, diese nicht legitimierte Regierung und die Konfrontationspolitik der USA zu unterstützen.
Zu fordern ist von den Verantwortlichen in Europa und in den USA eine sofortige Deeskalation, damit sich der lokale Krisenherd in der Ukraine nicht zu einem Flächenbrand ausweitet. Die weitaus überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung will keinen Krieg, viele haben Angst. Die Älteren haben die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs noch nicht vergessen.
Immerhin wurde am 17. April auf dem Krisengipfel in Genf, wo Vertreter der USA, Russlands, der Ukraine und der EU zusammenkamen, ein „Friedensplan“ beschlossen, der die Entwaffnung aller illegalen Kräfte in der Ukraine vorsieht. Weiter verurteilten die Teilnehmer alle Formen von Extremismus, Rassismus und religiöser Intoleranz. Alle Seiten – so heißt es – hätten sich jeglicher Gewaltanwendung, Einschüchterung und Provokation zu enthalten.
Ein Lichtblick und eine Perspektive für die zerrüttete Ukraine? Es bleibt abzuwarten, in wieweit sich die Vereinbarungen durchsetzen lassen und ob die Drohkulissen in den nächsten Tagen und Wochen abgebaut werden. So wünschenswert das wäre, bestehen nach allem Vorhergegangenen doch erheblich Zweifel an der Lauterkeit der Beteiligten. Aber vielleicht ist der Plan von Genf ein Anfang und ein Zeichen dafür, dass Vernunft und der Wille zum Frieden trotz aller Expansionsbestrebungen, militärwirtschaftlicher Einflussnahme und Omnipotenzfantasiendoch noch die Oberhand gewinnen.
Wolfgang Bittner ist Jurist und Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Roman „Hellers allmähliche Heimkehr“ (http://www.hintergrund.de/201208292222/feuilleton/literatur/hinter-der-buergerlichen-fassade-wolfgang-bittner-erzaehlt-eine-exemplarische-geschichte-aus-der-provinz.html)