Wovor hat Obama Angst?

 In Politik (Ausland)
"Onkel Toms Hütte" war früher, heute sind Schwarze in den USA voll gleichberechtigt!

“Onkel Toms Hütte” war früher, heute sind Schwarze in den USA voll gleichberechtigt!

Joachim Gauck machte gleich bei Amtsantritt deutlich, dass er an einer besseren Meinung der Deutschen über ihr Land arbeiten wolle, nicht an einem besseren Land. Alles eben eine Frage der Psychologie. Im selben Sinn betrachtete es Präsident Obama als Problem, wenn sich Menschen in den USA nicht gleich behandelt “fühlen“. Wir kommen die auch darauf? Nur wegen der paar Morde weißer Polizisten an Schwarzen in jüngster Zeit? Oder wegen der überragender Bedeutung farbiger Insassen für die US-Gefängnisindustrie? Manche hofften unter Obama würde das besser werden – nicht nur wegen dessen Hautfarbe, sondern auch wegen seiner Biografie und den “Change”-Idealen seiner Anfangszeit. Fakt ist: der Präsident agiert, selbst kurz vor Ende seiner Amtszeit, zaghaft und unsolidarisch, verspielt das letzte Stück Vertrauen. (Holdger Platta)

Heute in unserem Lokalblatt: Der US-amerikanische Präsident Obama wird nach der Entscheidung des New Yorker Geschworenengerichts, gegen den weißen Polizisten Daniel Pentaleo wegen Erwürgens eines Farbigen k e i n e Anklage wegen Tötung zu erheben, mit dem Satz zitiert: „Wenn sich Bürger unseres Landes nicht vor dem Gesetz gleich behandelt fühlen, dann haben wir ein Problem.“

„Nicht gleich behandelt f ü h l e n “? – Da haben wir mal wieder das ganze Kompromisslertum der Politik. Selbst der erste schwarze Präsident der USA greift bei einem furchtbaren Rassenkonflikt in die verbale Trickkiste und modelt bitterböse Fakten um zur bloßen Emotion. „Nicht gleich behandelt f ü h l e n “? – Mit diesem Satz werden schlimme Tatsachen in den USA einfach mal so wegpsychologisiert und abgeschoben in einen Bereich, in dem es womöglich nur um Wahrnehmungsirrtümer geht.

Und noch verdrückter und verschwiemelter liest sich die folgende Äußerung des US-amerikanischen Präsidenten: „Wir sehen zu viele Fälle, in denen Menschen kein Vertrauen haben, dass die Leute fair behandelt werden.“ Wie bitte, worin besteht das Problem? Dass es zu wenig Vertrauen gäbe, nicht darin, dass es zahlreiche tödliche reale Anlässe für diesen Vertrauensschwund gibt? Man fasst es nicht! Irgendetwas in den Köpfen der betroffenen Menschen soll nicht stimmen, das Land hingegen soll völlig in Ordnung zu sein. Befindlichkeiten seien das Problem, nicht die realen Tötungsdelikte. Schlussfolgerung also: einen systematischen und brutalen und menschenvernichtenden Rassismus gibt es in den USA nicht, nur ein in der Empörung aufschreiendes falsches Bewusstsein.

Dabei sprechen die Fakten eindeutig eine andere Sprache, und ich greife hier nur einen klitzekleinen Teil der entsprechenden Tatsachen auf:

• In den USA warten derzeit rund dreitausend Menschen in den Todeszellen auf ihre Exekution. Davon zählen mehr als vierzig Prozent zu den Schwarzamerikanern, aber lediglich zwölf bis dreizehn Prozent beträgt der Anteil der Schwarzamerikaner an der Gesamtbevölkerung. Heißt: mit mehr als d r e i f a c h e r Wahrscheinlichkeit landen schwarze US-Amerikaner nach dem Begehen einer Straftat im Todestrakt, dreimal häufiger als Weiße, die ebenfalls, wegen gleicher Delikte, straffällig geworden sind.
• Ü b e r h a u p t im Gefängnis zu landen, diese Gefahr ist für Afroamerikaner sogar s e c h s m al höher als für Weiße.
• Das Risiko, bei einem Polizeieinsatz erschossen zu werden, ist für Farbige etwa z w a n z i g m a l so hoch wie für Hellhäutige.
• Afroamerikaner werden, so US-amerikanische Bürgerrechtsgruppen, d r e i – b i s v i e r m a l häufiger auf der Straße von Polizisten kontrolliert als ihre weißhäutigen MitbürgerInnen.
• Des weiteren gilt, so die „Süddeutschen Zeitung“ vom 17. Mai 2010: „…schwarze Angeklagte, die einen Weißen umgebracht haben, häufiger zum Tode verurteilt als Weiße, denen der Prozess nach einem Mord an einem Afroamerikaner gemacht wurde.“
• Und schließlich: „…auch Arbeiter landen mit erheblich höherer Wahrscheinlichkeit im Todestrakt als Angestellte.“ (So die SZ in demselben Artikel.)

Sollte das der afroamerikanische US-Präsident, der einstmals, vor seinem steilen politischen Aufstieg, als Sozialarbeiter unter Armen tätig gewesen war, im Chicago des Jahres 1985, und der ab 1993 für mehrere Jahre als Anwalt für Bürgerrechte gearbeitet hat, sollte das dieser vormals derart engagierte und entsprechend informierte Mann samt und sonders vergessen haben? Ein Fall – ich bitte um Nachsicht! – von politisch-bedingtem Alzheimer also? Oder: ein Fall von Angst?

Wovor aber fürchtet sich dieser Präsident dann? Vor seiner eigenen Polizei? Wieso dieses Wegsubjektivieren objektiver Skandale und rassistischer Menschenrechtsverbrechen, wieso ein rhetorisches Herumgeeiere, das ihm bei den Reaktionären in den USA keinerlei Anhängerschaft zutreiben dürfte, aber zweifelsfrei allerletztes Vertrauen aufs Spiel setzt, das ihm seinerzeit die eigene Wählerschaft entgegengebracht hat? Was ist da los in den USA, was setzt selbst den obersten Repräsentanten dieses Staates derart unter Druck, dass er keine klare Sprache mehr zu sprechen wagt und sich gezwungen sieht, solchermaßen verdruckst die bösen Wahrheiten seines Landes anzusprechen? Wer oder was also regiert in den USA? Tatsächlich dieser Präsident, tatsächlich Obama? Und wieso muss dieser Rassismus weggeredet werden, irgendwie, ähnlich wie der – ich erwähnte es kurz – eindeutige Klassencharakter der US-amerikanischen Justiz (Arbeiter landen eher vor Gericht als die höheren Schichten)?

Wer sich in der Unrechtsgeschichte der Gerichte auskennt, sieht sich unweigerlich erinnert an die brachialen Einseitigkeitsphasen der deutschen Jurisdiktion. Mag in den USA vor allem der Rassismus eine Rolle spielen – neben dem erwähnten Klassencharakter ihrer Gerichtsbarkeit -, so produzierten zu Zeiten der Weimarer Republik die deutschen Gerichte reaktionäre Politikskandale en masse. Schlicht formuliert: es ging einfach, mit unerbittlicher Frechheit, wieder und wieder gegen links!

Zu erinnern ist hier an die Untersuchungen des Heidelberger Statistikers Emil Julius Gumbel, geboren am 18. Juli 1891 in München, gestorben am 10. September 1966 im US-amerikanischen Exil. Der Pazifist Gumbel nahm sich mehrfach die Politische Justiz während der ersten deutschen Republik vor und präsentierte unter anderem das folgende Zahlenmaterial:

• Im Zeitraum 1919 bis 1922 waren von 376 politisch motivierten Morden 354 dem ultrarechten Spektrum zuzuordnen, nur 22 Morde dem linken.
• Doch von den 354 rechten Mördern wurde kein einziger hingerichtet, von den 22 linken Mördern hingegen zehn.
• Lediglich 1 rechter Mörder erhielt eine lebenslange Haftstrafe, im Durchschnitt betrug die Haftdauer für diese rechten Mörder aber nur 4 Monate pro Mord.

Folge dieser bestürzenden Veröffentlichungen: Gumbel, dem außerordentlichen Professor für mathematische Statistik an der Uni Heidelberg, wurde – unter anderem nach Krawallen der NS-Studentenschaft dort im Jahre 1930 – die Lehrbefugnis entzogen, und zwar von den eigenen Universitäts-Kollegen bereits vor dem Machtantritt Hitlers, nämlich im Sommer 1932. Reaktionärer und vorauseilender Gehorsam par excellence! Eine Rolle spielte dabei auch – übereinstimmenden Historiker-Analysen zufolge -, dass Gumbel Jude war. Und auch im westlichen Nachkriegsdeutschland, Anfang der Fünfziger Jahre, wurde Emil Julius Gumbel die Wiedereinstellung an der Universität Heidelberg verwehrt. Deutschlands „zweite Schuld“, wie Ralph Giordano dieses genannt hat.

Das in weiten Teilen – gerade in der Beamten- und Richterschaft – antidemokratisch gesonnene Deutschland der Weimarer Republik wie die USA der heutigen Tage, sie weisen demzufolge bestürzende Parallelen auf: Klassenjustiz hüben wie drüben, rassistisches Unrechtsgeschehen hier wie auch da.

Und ein US-amerikanischer Präsident formuliert letzteres so, als ob das alles nur bloße Empfindungssache sei, und mogelt sich einfach mal so an den realen und furchtbaren Fakten vorbei.

Sieht so der demokratische Fortschritt von Geschichte aus? Wird so das Menschenrechtsdenken vorangebracht? Spricht und handelt so ein Präsident in Freiheit, ein Präsident ohne Angst?

Ich fürchte eher, dass ein derart furchtsamer Obama zum Fürchten ist. Und mit ihm das gesamte Land, über das er nur so furchtsam zu sprechen wagt.

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