Zugleich Täter und Opfer
Der im Iran geborene Berliner Rapper Kaveh Ahangar ist seit mehreren Jahren auch in der Jugendarbeit (z.B. beim WannseeForum; JTB, Gangway etc.) aktiv und bietet Rap-Workshops an. Kaveh rappt auf Deutsch, Englisch, Französisch, Persisch und Spanisch. Seit Beginn seiner Raplaufbahn beschäftigt sich Kaveh mit kontroversen Themen, die vom Alltagsrassismus bis zum lyrischen Widerstand gegen Unterdrückung, Kapitalismus und imperialistische Kriege handeln. Kaveh schreibt: „Es ist ja rührend, dass so viele Bürger sich mit Charlie solidarisieren. Aber warum solidarisiert sich nur ein Bruchteil dieser Menschen mit den Opfern der imperialistischen und staatsterroristischen Kriege der Nato?“
Der Mord an den Journalisten von Charlie Hebdo war abscheulich und in keinster Weise zu rechtfertigen. Wir wissen nicht mit Gewissheit wer die Täter waren. Es lässt sich nicht ausschließen, dass es eine „False-Flag-Operation“ war, die gezielt von westlichen Geheimdiensten inszeniert worden ist. Warum z.B. hat einer der Attentäter seinen Pass im Fluchtwagen liegengelassen? Wer hat bei einem so professionell durchgeführten Anschlag überhaupt seinen Ausweis dabei? Andererseits kann es natürlich sein, dass militante Islamisten tatsächlich dahinter stecken. Noch wichtiger als die Frage nach den Drahtziehern sind jedoch die politischen Konsequenzen, die daraus folgen. Mit den Anschlägen von 9/11 legitimierten die USA die Bombardierung Afghanistans und Iraks, brutale Folter durch die Geheimdienste, Gefängnisse wie Guantanamo und den zunehmenden Überwachungsstaat. Die Nato-Interventionskriege haben über einer halben Millionen Menschen im sog. “Nahen- und Mittleren Osten“ das Leben gekostet und Moslems stehen seitdem weltweit unter Generalverdacht. Welche Maßnahmen werden demnächst aufgrund der Anschläge gerechtfertigt und durchgesetzt? Solche Attentate eignen sich perfekt dazu, die Überwachung der muslimischen Bevölkerung zu verschärfen und Stellungen vermeintlicher IS-Drahtzieher in Syrien und Irak – die jahrelang vom Westen gefördert worden sind – zu bombardieren.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Zeitschrift auch über Katholiken, Schwule und andere Gruppen lustig gemacht hat, lässt sich natürlich darüber streiten, ob die Karikaturen von Charlie Hebdo auf einseitige Art und Weise rassistische und islamophobe Vorurteile bedienen. Das Übergewicht anti-muslimischer Karikaturen legt dies jedenfalls nahe. Aber dass die Presse-, Meinungs und Religionsfreiheit nur von radikalen Islamisten bedroht sei ist pure Heuchelei. In Paris wurden noch vor kurzem Pro-Palästina-Demos verboten und in Frankreich gibt es ein allgemeines Burkaverbot. Die Meinungsfreiheit und die Werte der Aufklärung werden nicht nur durch den Staat, sondern auch von den Mainstream-Medien durch einseitige anti-muslimische Hetze oder pro-Nato und pro-israelische Berichterstattung konterkariert.
Es ist ja rührend, dass so viele Bürger sich mit Charlie solidarisieren. Aber warum solidarisiert sich nur ein Bruchteil dieser Menschen mit den Opfern der imperialistischen und staatsterroristischen Kriege der Nato? Am selben Tag, an dem 12 Menschen in Paris hingerichtet wurden, tötete die Al-Kaida im Jemen über 40 und die Taliban in Afghanistan 18 Menschen. Westliche Mainstream-Medien schenken den Opfern dieser Regionen verhältnismäßig kaum Beachtung und zeigen dadurch, dass westliche Menschenleben für sie mehr wert sind als andere. Wie viele dieser Bürger, die heute „Je suis Charlie“ rufen, haben nach der Bombardierung Afghanistans, Iraks oder Gazas gerufen: Ich bin Afghane, Iraker oder Palästinenser? Selbst das Leben nicht-weißer Bürger in Europa hat weniger Gewicht. Wer hat nach den Enthüllungen der NSU-Morde die Namen der Opfer als Profilbild benutzt? Einer der getöteten Opfer des Pariser Anschlags war der Polizist Ahmed Merabet. Die meisten rufen jetzt: „Je suis Charlie“. Aber nur wenige: „Je suis Ahmed.“
Während viele nun den Islam oder Islamismus für den Anschlag verantwortlich machen, haben sie nicht dieselben Maßstäbe angelegt, als US-Präsident Bush oder der Terrorist Breivik mit christlich fundamentalistischer Kreuzritter-Rhetorik ihre Morde unterfütterten. Natürlich dient Religion in diesen Fällen als Deckmantel, um die wirtschaftlichen und geostrategischen Machtinteressen zu verschleiern. Aber die Doppelstandards die angelegt werden, wenn es um militante Islamisten geht, ist schon sehr auffällig.
Falls es tatsächlich militante Islamisten waren, gibt es für dieses Attentat auch gewisse Ursachen: Ein Großteil der muslimischen Bevölkerung Frankreichs lebt seit Jahrzehnten in den Ghettos der Banlieues. Sie werden von der französischen Mehrheitsgesellschaft diskriminiert und vom Arbeits-, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgegrenzt. Sie werden regelmäßig von Politikern und Medien entmenschlicht. Vor einigen Jahren meinte Sarkozy man müsse die Vorstädte mit Hochdruckreinigern säubern, so als wären die Bewohner der Cités nicht mehr als Viren und Bazillen. Muslime bilden etwa 50 bis 80% der Insassen französischer Gefängnisse. Die jahrlange Marginalisierung, Armut und mediale Hetze gegen Moslems und „Banlieusards“ sowie die gezielte westliche Destabilisierung muslimischer Staaten durch imperiale Kriege haben unter anderem dazu geführt, dass eine kleine Minderheit von Muslimen als sog. „Jihadisten“ nach Syrien gegangen ist. Einige von ihnen sind nun zurückgekehrt, um den Kampf in die westlichen Metropolen zu tragen. Sie sind zugleich Opfer und Täter, also die grausamen Symptome des kranken Systems, in dem wir leben.
Die Meinungs- und Pressefreiheit ist ein hohes Gut und darf nicht eingeschränkt werden. Aber auf die Unterdrückten einzutreten und sich über Muslime lustig zu machen zeugt nicht gerade von journalistischer Sensibilität oder dem analytischen Verständnis der Übel unserer heutigen Weltordnung. In Zeiten des zunehmenden anti-muslimischen Rassismus gießen beleidigende Karikaturen noch mehr Öl ins Feuer. Nicht der militante Islamismus ist in erster Linie Ursache für Terrorismus und Hauptfeind von Frieden und Freiheit, sondern imperialistische Kriege und die Auswüchse des neoliberalen Kapitalismus.
Kaveh Ahangar