«So manches Tier wird besser beerdigt»

 In Allgemein, Holdger Platta, Politik (Inland)

kaltes-landBesprechung des Anti-Hartz-IV-Buches „Kaltes Land“ (Herausgeber: Rudolph Bauer und Holdger Platta) von Dr. Ilona Banet. Überraschend hat sich vor einigen Tagen Frau Dr. Ilona Banet in einer ausführlichen Kundenrezension bei www.amazon.de mit dem Buch unseres HdS-Redakteurs Holdger Platta auseinandergesetzt, mit einem Sammelband vieler AutorInnen gegen Hartz-IV, den er 2012 mit Rudolph Bauer, bis 2002 Professor an der Uni Bremen für Wohlfahrtspolitik und soziale Dienste, beim Hamburger Laika-Verlag herausgegeben hat. Der Band enthält unter anderem Beiträge von Stéphane Hessel, Friedhelm Hengsbach, Frigga Haug und dem soeben von der Linkspartei für das Bundespräsidentenamt nominierten Armutsforscher aus Köln Christoph Butterwegge; außerdem – das war den Herausgebern seinerzeit besonders wichtig – auch Erfahrungsberichte von Hartz-IV-Betroffenen. Banet betont in ihrer Buchbesprechung besonders die entmenschlichende Begleitpropaganda zu Hartz-IV (während das Buch mit ebensolcher Entschiedenheit auch die materielle Verelendung der Betroffenen thematisiert hat, nicht nur deren Diffamierung als „Parasiten“ durch Wolfgang Clement und Co). So oder so: eine „neue Menschlichkeit“ ist vonnöten, wie Dr. Ilona Banet in ihrem Beitrag schreibt.

Eine kleine Grube, 24 Urnen, schweigende „Gäste“. Eine Armenbestattung in Deutschland, einem der reichsten Länder dieser Welt. „Kein Wort wurde gesprochen“, berichtet eine Zeugin. „Kein Blumenschmuck und Kerzen, verboten“. Und eine andere sagt: „So manches Tier wird besser beerdigt.“ „Verscharrt in einem Massengrab“ – kommentiert es Ruth Tietz in ihrem Beitrags, der unter dem Titel „Nachruf für Herrn H.“, in dem Sammelband von Bauer und Platta („Kaltes Land“) 2012 im Hamburger Laika-Verlag erschien. Das wahre Gesicht der Armut und der Entwürdigung. Ein Ausnahmefall? Von wegen. „Eine ordnungsbehördliche Bestattung“, sagt Rudiger Kußerow, der Vorsitzende der Berliner Bestattungsinnung (in: FAZ 23.11.2013 „Ruhe sanft und billig“ von Christoph Schäfer), sei „die reine Entsorgung“.

Wenn man über die Hartz-Gesetze diskutiert, dann hört man immer wieder „Armut“ (oder umgekehrt), als wären es Synonyme. Doch Armut ist kein spezifisch deutsches Phänomen, auch in anderen reichen Ländern dieser Welt gibt es Armut, die Schere zwischen reich und arm öffnet sich überall in einem schwindelerregenden Tempo. Nicht die Armut ist also ein deutsches Problem, sondern der Exportartikel Hartz-IV, in dem sich ein Geist offenbart, den Platta, der Herausgeber des vorliegenden Buches, „Entmenschlichungstendenzen“, eine „coole Inhumanität der neuen Sachlichkeit oder Gefühllosigkeit“, nennt.

In der Hartz-IV-Diskussion gibt es zwei große Lager: die Kämpfer gegen die Armut und die Kämpfer gegen die Schmarotzer. Beide finden Hartz-IV falsch. So verlangen die einen mehr Geld für die Hartz IV Empfänger (damit sie ein menschenwürdiges Leben führen können), während die anderen es mit dem Hinweis verhindern wollen, dass sie nicht bereit sind, ihr Leben lang zu schuften, um den Hartz-Vier-Faulenzern ein schönes Leben zu finanzieren. Beide reden vom Geld: „zu viel“, sagen die einen, „zu wenig“ die anderen. Diese Diskussion ist so laut, dass man kein Ohr mehr für andere Probleme hat, die Hartz IV verursacht. Als würde sich wirklich alles nur um das Geld drehen, als ließe sich die verletzte Menschenwürde der Hartz IV Empfänger dadurch wiederherstellen, dass man ihnen ein Paar Euro mehr in die Hand drückt. In Wirklichkeit leiden die „Hartzer“ weniger unter den zu niedrigen Regelsätzen als vielmehr unter den über sie verhängten, drakonischen, grausamen und entwürdigenden Sanktionen, die verfassungswidrig sind und sie zum Leben unterhalb des Existenzminimums verdonnern, nicht unter der Armut, sondern unter der Art, wie man sie behandelt, nicht darunter, dass sie sich kein Theaterticket leisten können, sondern darunter, dass man sie demütigt, verachtet, beleidigt, entwürdigt, schikaniert und entmenschlicht, nicht unter dem Geldmangel, sondern unter der staatlichen Bevormundung und Willkür der Behörden, die sich das Recht anmaßen, über ihr Leben und Sterben zu entscheiden.

Dieses Buch unterscheidet sich von der sonstigen Hartz-IV-Literatur dadurch, dass es das Thema Armut aus unterschiedlichen Winkeln darstellt. Die Autoren der einzelnen Beiträge, aus denen sich „Kaltes Land“ zusammensetzt, kommen aus verschiedenen Ecken und vertreten unterschiedliche Standpunkte: einen katholischen, einem protestantischen, einen gesellschaftskritischen, einen sozialrechtlichen… Eins haben sie alle aber gemeinsam: sie zeigen, wie unmenschlich die Art ist, wie unsere humane und zivilisierte (?) Gesellschaft, die so gerne von den zu verteidigenden christlichen Werten faselt, mit Menschen umgeht, die durch das System arm und abhängig gemacht worden sind.

Platta fragt: „Gibt es – in der Tat ich riskiere dieses Wort! – Entmenschlichungstendenzen in der Bundesrepublik, die den Faschisierungstendenzen während der Weimarer Republik ähneln, und bedrohen diese Entmenschlichungstendenzen möglicherweise schon jetzt die humane Integrität der Bundesrepublik?“ Nachdem ich dieses Buch gelesen habe, muss ich diese Frage mit einem „Ja“ beantworten. Ja, es gibt offensichtliche Parallelen zwischen „Berlin“ und „Weimar“, zwischen dem heutigen Deutschland und der Weimarer Republik, und das, was in Deutschland gerade ungestört keimt, ist eine menschenverachtende Ideologie, deren Rhetorik an die Rhetorik der Weimarer Republik und des Dritten Reiches anknüpft und die Platta provokant „kalten Faschismus“ nennt.

Erinnern Sie sich an Herrn Clement? Er war bis 2002 Ministerpräsident und wurde nach den Wahlen, als das Wirtschafts- und Arbeitsministerium zusammengelegt wurden, Minister für Wirtschaft und Arbeit. Er wird in die Geschichte als Autor des Vorwortes zu einer Broschüre eingehen, die 2005 von seinem Ministerium veröffentlicht wurde: „Vorrang für die Anständigen – gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat“. Eine eigenartige Publikation, in der es von solchen Begriffen wie „Schmarotzer“, „Parasiten“, Trittbrettfahrer und Abzocker nur so wimmelt. Clement erklärte darin: „Biologen verwenden für Organismen, die auf Kosten anderer leben, die Bezeichnung Parasiten“. Clement meint damit Menschen. bzw. eine „bestimmte Menschensorte“, die er „Sozialbetrüger“ nennt. Tja… Auch Hitler sprach gerne von Parasiten, die sich „wie ein schädlicher Bazillus immer mehr ausbreiten, sowie sie ein günstiger Nährboden dazu einlädt“.

Die Reaktionen darauf blieben nicht aus. Sogar der „Stern“ nannte diese Broschüre “üble Kampagne gegen Arbeitslose“ (20.10.2005), und Clement wurde der Volksverhetzung angeklagt. Doch das Gericht sprach ihn frei, die Staatsanwaltschaft sah „keine Veranlassung, in strafrechtliche Ermittlungen einzutreten“. Das war ein Zeichen. Seitdem sind ein paar Jahre vergangen, und die Situation hat sich noch verschärft, sodass der SPD-Mann Müntefering sich ungestraft erlauben konnte, noch ein Stück weiter zu gehen und öffentlich zu behaupten, dass man sich nur durch Arbeit das Recht auf das Leben verdiene („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“). Wenn das nicht die Rhetorik des Dritten Reiches ist, was ist es dann? Er hätte auch sagen können, dass (nur) Arbeit frei mache.

Dieser Punkt geht leider bei der Hartz-IV-Debatte meistens unter, und es ist der Verdienst der Autoren dieses Buches, den faschistischen, menschenfeindlichen und menschenverachtenden Charakter der Hartz-IV-Politik entlarvt zu haben. Hut ab. Denn dazu gehört Mut. Mut, Tabus zu brechen. Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Mut, gegen den Strom der vorgefassten Meinungen zu schwimmen. Mut, das Kind bei seinem wahren Namen zu nennen: „Entmündigung“, „demokratisch nicht kontrollierbare Überwachung“, „Bespitzelung“, „totalitäre Entwicklungstendenzen“, „Deformation der solidarischen Sicherungssysteme“, „Sozialrassismus“, „Klassenkampf von oben“, „Diffamierung“ , „Strukturschwäche des demokratischen Systems“ und das „sozialdarwinistische Menschenbild“, von dem immer mehr Menschen angesteckt werden und das den „totalitären Diktaturen“ in Deutschland, in Europa und in der Welt den Weg ebnet.

Der „Sozialstaat“ entartet vor unseren Augen zu einem inhumanen, menschenverachtenden „Wettbewerbs-“ und „Überwachungsstaat“, in dem Arme und Arbeitslose am laufenden Band produziert werden, weil es die immer gieriger werdende Wirtschaft verlangt, und niemand scheint es zu stören. Die Mehrheit der Bevölkerung steht nämlich hinter der „neuen deutschen Sozialpolitik“. 53% aller Befragten stimmen der Aussage zu: „Die meisten Langzeitarbeitslosen sind nicht wirklich interessiert, einen Job zu finden“, und 61,2% sind der Meinung, dass die Langzeitarbeitslosen sich „auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen.“ Platta kommentiert es so: es sei „ein wachsendes Abwertungsdenken in der Bevölkerung“, das die Politik „mit entsprechendem Zuspruch“ versorgt, „der sie so weitermachen lässt.“ Ich halte das für eine der wichtigsten Aussagen dieses Buches, denn in dieser Erkenntnis – und nicht in Systemreformen, die sich ohne einen revolutionären Umsturz nicht durchführen lassen, liegt der Ansatz für die Lösung des Problems: wir müssen umdenken. Wir müssen begreifen, was der Spruch bedeutet, den die Politiker letztens gerne wieder in den Mund nehmen: teile und herrsche. Die deutsche Gesellschaft wird entsolidarisiert, Hartz-Vier-Empfänger werden gegen die Erwerbstätigen (vor allem Geringverdiener) ausgespielt, für vogelfrei erklärt, entrechtet und diszipliniert: „Die eingesetzten Instrumente“ (Schikanen, psychische und finanzielle Druckmittel) orientieren sich am Reiz- Reaktionsmechanismus, der beim Dressieren von Tieren getestet wurde und sich bewährt hat“. Zum Fremdschämen.

Dagegen müssen wir uns wehren: gegen die Stigmatisierung, Kriminalisierung, Pathologisierung und Disziplinierung der Armen. Gegen die Sozialstaatvernichtung und den staatlichen Paternalismus. Gegen eine Propaganda, die den Armen zynisch die Schuld für ihre Armut und Arbeitslosigkeit in die Schuhe schiebt. Und gegen die inzwischen gängige Praxis, die Bürgerrechte der Hartz-IV-Empfänger vor den (geschlossenen) Augen der Öffentlichkeit mit den Füssen zu treten. Das ist, meiner Meinung nach der erste Schritt in Richtung der Wiederherstellung einer humanen Gesellschaft. Die Vorschläge, das Problem der Arbeitslosigkeit und der Armut durch Arbeitsverkürzung oder durch systemische Änderungen zu lösen, halte ich dagegen für blauäugig und realitätsfremd. Was wir brauchen, ist vor allem ein Durchblick, die Fähigkeit, Hartz-Vier als das zu erkennen, was es ist: ein „gnadenloser Vollzug einer von Herrschaftsinteressen, Profit- und Renditenmaximierung bestimmten, einer menschenverachtenden Politik.“ Und was wir noch brauchen, ist eine „neue Menschlichkeit“ – eine neue Sensibilität, die den durch die wirtschaftlichen Eliten forcierten „Rückfall in die Barbarei“ verhindern kann. Und dazu bedarf man nicht nur bessere Gesetze, sondern auch die Aufklärung (das Wissen) und das Gewissen.

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