Bildungspolitik: Die Folgen des Pisa-Diktats

 In Kultur
Ökonomisch nicht verwertbar: Liebe zur klassischen Musik

Ökonomisch nicht verwertbar: Liebe zur klassischen Musik

Endlich wird die Bedeutung der Kultur (vor allem der klassischen und anspruchsvollen) und der musischen Fächer gewürdigt. Über die klassische Musik hinaus muss man die Frage stellen, warum die kulturelle Bildung, die ja nicht nur die Bildung des Geistes, sondern auch des Gefühlsleben umfasst, im Niedergang begriffen ist. Nicht der begrenzte Intelligenzquotient bestimmter Menschen ist ihnen vorzuwerfen, sondern der verbreitete Unwillen, die eigenen Anlagen zum Text- und Kunstverständnis zu fördern. Verantwortlich ist vor allem ein System, das diese Trägheit unterstützt, wohl auch, weil hochbegabte Künstler und Intellektuelle im Gegensatz zu “Unterhaltungsfuzzis” selten systemkonform sind. (Kurt Wolfgang Ringel)

»Wenn die Jugend Beethoven und Mahler nicht mehr hören will, ist das dann nicht einfach der Lauf der Dinge? Muss sich nicht auch die Klassik einem Wettbewerb unterwerfen?

Kulturelle Gewohnheiten und Vorlieben verändern sich. Natürlich. Doch die Bedrohung der klassischen Musik ist das Ergebnis eines gravierenden Wertewandels. Wir leben im Zeitalter ökonomischer Obsession.* Alles unterliegt dem Kosten-Nutzen-Kalkül, dem Abwägen von Einsatz und Ertrag, dem erwarteten Return, ohne den ein Investment nicht lohnt. Aber die Rendite eines Konzertbesuchs lässt sich genauso wenig berechnen, wie wenn Kinder ein Instrument lernen – auch wenn wir alle wissen, wie wichtig die Künste für die Menschen sind.

War das nicht immer so, dass Kunst sich auch einem Markt unterwerfen muss? Auch die Künstler müssen bezahlt werden.

Ich will ein Beispiel für den Wertewandel bringen, das die jungen Menschen so stark betrifft. Das ist das nahezu weltweite Pisa-Diktat in der Bildungspolitik. Ein Bildungssystem gilt dann als vorbildlich, wenn das Land bei Pisa gut abschneidet. Aber weder Sprachen noch die Künste spielen hier eine Rolle: Philosophie, Literatur, Malerei, die klassische Musik – nach Pisa für ein leistungsstarkes Bildungssystem alles unbedeutend. Was für ein bornierter Bildungsbegriff liegt dem zugrunde? In den Schulen drängt dieses neue Bildungsverständnis die Künste und mit ihnen die klassische Musik dramatisch zurück. Das macht mir große Sorgen. « [1]

Auch an diesem Problem zeigt sich, wie menschen- und kulturfeindlich unsere Gesellschaft ist. Das ganze liegt am kapitalistischen System. Das hat Herr Nagano sehr richtig zum Ausdruck gebracht. Ich möchte explizit darauf hinweisen, dass die klassische Musik hier nur als ein Beispiel steht. Die Kulturindustrie lockt permanent mit Konsum, aber es sind meist nur Billigangebote und wertlos.

»Wenn vor allem junge Menschen weder durch ihr Elternhaus noch in der Schule die Möglichkeit bekommen, Zugang zur klassischen Musik zu finden, dann werden sie diese auch nicht vermissen. Sie wissen gar nicht, dass es sie gibt. Ist es fair, wenn wir ihnen diese Möglichkeit großartiger, vielleicht sogar existenzieller Erfahrungen vorenthalten? « [2] Diese Worte des Herrn Kent Nagano gelten definitiv für alle kapitalistischen Medien!

In einer Sendung des HR wurde ein Chorleiter gefragt, warum die klassische Musik in Asien bei der Jugend beliebter ist als in der Bundesrepublik Deutschland heute. Darauf antwortete der Leiter des Chores Hessischen Kantorei: „… Es ist verwunderlich, dass 40 bis 50 Prozent des Publikums in Asien junge Menschen unter 30 Jahren sind. Das ist davon abhängig, dass diese Kinder in sehr jungen Jahren mit westlicher klassischer Musik in Berührung gekommen sind, die sie lernen, sehr gerne lernen und die sie wirklich lieben. Es ist zu spüren, dass sie ein viel ungebrocheneres Verhältnis zu ihr haben, als es manchmal bei uns anzutreffen ist.“ [3]

Dass in Deutschland alles getan wird, ein solches ungebrochenes Verhältnis nicht entstehen zu lassen und zu erhalten, das verschweigt der Herr Professor.

In der DDR wurde die Jugend ebenso wie in Asien zur Liebe von Klassischer Musik erzogen. Das geschah in der Schule, in vielen Musikschulen. Der Erfolg war deutlich zu sehen. Es gab altersgerechte Eintrittspreise für Theater und Konzerte. Auf diesem Gebiet war die DDR der BRD meilenweit voraus. In den 25 Jahren, die ich nun in der BRD wohne, habe ich permanent erlebt, wie die Medien, besonders bezogen auf Klassik und Theater, permanent an Qualität verloren haben. Und die heutige Spaßgesellschaft hat kaum noch etwas Niveauvolles zu bieten.

Nicht nur musische Fächer stehen auf der Streichliste, wie das Beispiel aus Sachsen zeigt:

»Als das sächsische Kultusministerium vor fünf Jahren beschloss, an den Mittelschulen und Gymnasien des Freistaates ab 2007 das Fach Astronomie abzuschaffen, waren darüber nicht nur viele Eltern und Lehrer empört (siehe ND vom 19. Januar 2007). Auch zahlreiche namhafte Wissenschaftler, darunter sechs Präsidenten von akademischen Gesellschaften, protestierten energisch gegen den geplanten Abbau der naturwissenschaftlichen Bildung im Osten Deutschlands. Ohne Erfolg: Am 24. Januar lehnte der sächsische Landtag mit den Stimmen der Regierungsparteien einen Antrag der Opposition zur Weiterführung des Astronomieunterrichts in Sachsen ab.« [4]

Damit wird die Aufklärung der Schüler über den tatsächlichen Himmel den Astrologen und Religionslehrern überlassen. Nachdem der Geschichtsunterricht in Sachsen zugunsten der Legenden der Bibel eingestellt werden soll, ereilt dem „Himmelsfach“ das gleiche Schicksal. Ohne fundierte Sternenkunde werden selbst die drei heiligen Könige nicht mehr den Weg nach Bethlehem finden. Ich finde es pervers, dass in einer Zeit, in der versucht wird, dass Menschen zu anderen Planeten fliegen und diese betreten wollen, den Schülern Grundkenntnisse der Sternenkunde vorenthalten werden.

Doch wieder zurück zu der klassischen Musik. Es ist ein sich rächender Irrtum, auf Kosten der musischen Fächer die technischen aufstocken zu wollen. Sind es doch die musischen Fächer, wie z.B. Musik und Zeicnhen, durch welche charakteristische Eigenschaften des Menschen gebildet und gefördert werden. Und wer braucht diese Eigenschaften nicht in seinem Leben und bei dem Lernen. Eine dieser kostbaren Eigenschaften ist die Aufmerksamkeit, ist die Konzentration der Schüler. Somit hat die musische Erziehung einen entscheidenden Einfluss auf die Bildung des menschlichen Charakters (Konzentration, Denken, Zeitgefühl, Erziehung zur inneren Ruhe). Und das ist in der kapitalistischen Gesellschaft, die die Zahl der psychisch erkrankten Menschen permanent ansteigen lässt, von enorm großer Bedeutung.

Bildung und Erziehung sind eine Einheit. Es gibt ohne gleichzeitige Erziehung keine umfassende Bildung des Menschen. Das verlangt Rahmenbedingungen für die Bildung und Erziehung. Daraus wird die enorme Bedeutung und Verantwortung der menschlichen Gesellschaft für den Bildungsweg sichtbar. In der kapitalistischen Gesellschaft wird diese Verantwortung nicht wahrgenommen.

Die Menschen lernen für das Leben. Allein für die Wirtschaft lernen, und in ihr allein den Maßstab für das Lernen zu sehen, ist zu kurz gefasst. »Schule ist eine Institution, die Lebenschancen verteilt!« [5]

Liegt es also an den Künstlern selbst?

»Wir Künstler brauchen auch die Unterstützung politischer Entscheidungsträger, weil ernste Kunst, für die man sich anstrengen muss, eine Gesellschaft immer etwas kostet. Sie ist, in rein monetärer Hinsicht, nicht unmittelbar gewinnbringend. Wenn Politiker nur motiviert und kreativ genug wären, um unser Musikerziehungssystem ein Stück weit wiederzubeleben und die klassische Musik in ihrer Bedeutung für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen wieder etwas nach vorne zu rücken, wäre unglaublich viel gewonnen.« [6]

QUELLEN:

[1] »Wir verlieren unsere Tradition«/ Kent Nagano* macht das »weltweite Pisa-Diktat in der Bildungspolitik« für den Niedergang der klassischen Musik verantwortlich

Neues Deutschland vom 08./09.November 2014

*Kent Nagano, 1951 als Enkel von Einwanderern aus Japan in Kalifornien geboren, gehört zu den profiliertesten Dirigenten der Welt. Überall füllt er die Konzertsäle – und dennoch sieht er das Interesse an klassischer Musik schwinden. In seinem neuen Buch »Erwarten Sie Wunder! « (Berlin-Verlag, 320 S., 22,90 €) beschreibt er das Problem.

[2] Ebenda

[3] Aus der Sendung „ Das Chorfest der Klassik-Hits“ vom HR am 18. November 2013

[4] Sachsen schafft Fach Astronomie definitiv ab; Neues Deutschland vom 02. Februar 2007

[5] Helmut Schelsky (1912- 1986), deutscher Soziologe

[6] Siehe [1]

Obsession* = [lat.] Zwangsvorstellung (in Psychologie)

Kurt Wolfgang Ringel

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen