Der Fluchtweg: "Freitod" aus Hartz IV

 In Holdger Platta, Politik (Inland)
Holdger Platta

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Gern wird in “unseren” Kreisen zugestanden, dass Hartz IV unbequem ist, stressig, deprimierend, demütigend sogar. Aber dass Hartz IV töten kann – von den wenigsten wird diese äußerste Konsequenz ins Auge gefasst, schon weil die Zusammenhänge nur sehr selten völlig zweifelsfrei nachgewiesen werden können. Trauen wir uns nicht, offen auszusprechen, dass Hartz IV mordet, dass somit auch alle, die es installiert haben und weiter betreiben, morden? Oder wie sollte man es sonst nennen, wenn unzähligen Menschen das Existenzminimum gekürzt wird – als “Strafe” für Ungehorsam? (Was geschieht, wenn jemand weniger hat als das Minimum?) Wie soll man es sonst nennen, wenn unzählige Menschen sehenden Auges in eine Situation hineingetrieben werden, die die Wahrscheinlichkeit einer schweren Depression beträchtlich erhöht? Können wir etwas tun gegen die äußersten Gefährdungen durch Arbeitslosigkeit? (Holdger Platta)

Verwundern kann es eigentlich nicht: Der Tod ist immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft, deshalb ist der sogenannte “Freitod” von Menschen, der einem noch grauenerregender erscheint als der “natürliche” Tod, noch stärker von einer Schweigemauer umgeben. Drei Tatsachen zeigen das mit aller Deutlichkeit:

• Bei statistischen Landesämtern sowie dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden werden zwar die Selbsttötungsfälle rein rechnerisch erfasst: Veröffentlicht werden sie aber in aller Regel nicht. Und: Über die Ursachen dieser Suizide (soweit sie feststellbar sind) schweigen sich diese Statistiken vollkommen aus;
• im Prinzip berichten die Medien nicht über Selbsttötungsfälle – es sei denn, das betreffende Opfer ist sehr prominent gewesen. In diesem Fall können sich die Medien auf ein sogenanntes „öffentliches Interesse“ berufen. Ansonsten existiert im Ehrenkodex der deutschen Medienbetreiber eine Art von Selbstverpflichtung, über Suizide nicht zu berichten (aus Angst vor dem sogenannten „Werther-Effekt“, wegen der Furcht also, Berichte über einen Selbsttötungsakt lösten Nachahmereffekte aus – wie das nach der Veröffentlichung des Briefe-Romans „Die Leiden des jungen Werther“ von Goethe der Fall war);
• sogar die WissenschaftlerInnen, die sich mit dem Thema Selbsttötung befassen, haben deshalb mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, an wichtige Informationen zu diesem Problembereich heranzukommen: aktuelles und vollständiges Faktenmaterial liegt ihnen nicht vor.

Gleichwohl gibt es eine Forschung zu dieser Thematik (oft nur einzelfallbezogen), gleichwohl auch statistische Schätzungen, was die Ursachen für Suizide betrifft. Und diesen Studien und Annahmen zufolge können wohl diese Tatsachen als einigermaßen gesichert gelten:

• Hauptursache für Selbsttötungen ist demnach vor allem eine vorausgegangene Depressionserkrankung der betreffenden Menschen;
• je niedriger der Sozialstatus der betreffenden Bevölkerungsgruppe, desto höher die Selbsttötungsrate in dieser Gruppe.

Und damit sind wir auch bei einer der furchtbarsten Ursache-Wirkungsverhältnisse in diesem Zusammenhang: Beim Zusammenhang zwischen Armut/Arbeitslosigkeit und Suizid.

Hartz-IV ist Suizidbeförderungspolitik

Einer Schätzung der deutschen „Gesellschaft für Suizidprävention“ zufolge liegt die Selbsttötungsrate bei Arbeitslosen um das Zwanzigfache höher als bei der erwerbstätigen Bevölkerung. Suizidforscher Prof. Dr. med. Volker Faust spricht deshalb von einem erheblichen Selbsttötungsrisiko bei Langzeitarbeitslosigkeit. Und „Panorama“, das Politik-Magazin des NDR (das ansonsten, was soziale Themen betrifft, seit langem eher durch sehr fragwürdige Berichterstattung auffällt), konstatierte in einem Beitrag dazu vom 11. September 2006: „Selbstmord“ ist kein „individuelles Thema, sondern ein Gesellschaftsproblem“. Mit ähnlichem Tenor „Plusminus“ vom Saarländischen Rundfunk am 23. Oktober 2007: „Wer arm ist, wird schneller depressiv“, mit der Folge der „Selbstmordgefahr“ (so der Vorsitzende der „Armutskonferenz“, Egbert Ulrich, in diesem Fernsehbeitrag).

Dies alles aber lässt nur einen Schluß zu: Wer, wie die Hartz IV-Parteien, seit nunmehr gut sechs Jahren (Vorbereitungszeit eingeschlossen), systematisch die Zwangsverelendung von Menschen betreibt statt mit energischen Konjunkturprogrammen gutbezahlte Arbeitsplätze zu schaffen, der betreibt – ob er’s weiß oder nicht, ob er’s wahrhaben will oder nicht – durch Handeln oder Unterlassen Suizidbeförderungspolitik.

Noch jeder von uns aus den Sozialbewegungen – mich eingeschlossen – wurde in den letzten dreieinhalb Jahren in seiner eigenen Umgebung mit Suizidfällen wegen Hartz IV konfrontiert. Aus der Misere der ALG II-Verhältnisse herauszukommen – aus dieser Situation von Ausweglosigkeit, Perspektivlosigkeit, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit -, sahen diese Menschen keinen anderen Weg mehr als den sogenannten „Freitod“. Aber: Welche Freiheit ist das?! – Jene, auf die angeblich unser Staatswesen gründet? Jene, die gemeint ist in der Menschenrechts-Charta der Uno und bereits gemeint war bei der Französischen Revolution? – Ganz sicher nicht! Im Gegenteil: Dieser „Ausweg“ ist nichts anderes mehr als „Befreiung“ von Unfreiheit schlechthin: Rettung vor einer Welt, die keinen Ausweg mehr zu zeigen scheint.

Was die Sprache sagt und wie das Zuhören hilft

Übrigens deckt die Bedeutungsgeschichte der oben verwendeten „-losigkeitswörter“, die ich allesamt bei meiner Recherche für diesen Artikel in Berichten von Suizidforschern fand über das Empfinden der späteren Selbsttötungsopfer, einen fast schon unheimlich zu nennenden Zusammenhang auf: Eine der Ursprungsbedeutungen für „lösen“, das dieser Hauptwortendung „losigkeit“ zugrundeliegt, lautet: „für nichtig erklären“. Ja, ich denke, so ist es: Mit Suizid erklärt der Betreffende seine eigene Existenz für „nichtig“. Er macht sich, in der Selbsttötung, das Nichtigkeitsurteil zu eigen, das die Gesellschaft vorher über ihn ausgesprochen hat. Und nichts anderes als die Anmaßung eines Nichtigkeitsurteils über Menschen ist Hartz IV – sei es als düstere Drohung für die noch arbeitenden Menschen oder sei es als verdunkelte Realität für jene Menschen, die bereits arbeitslos geworden sind.

Können wir anderen dagegen gar nichts tun? – Doch, wir können! Nicht nur dadurch, dass wir diese menschenfeindliche Politik bekämpfen – das tun wir ja eh schon! Sondern vor allem auch dadurch, dass wir den gefährdeten Menschen Hilfe geben und Stütze. Übereinstimmend teilen uns Präventionsforscher mit, dass oft schon dieses ganz entscheidend zu helfen vermag: bereit und fähig zu sein, diesen Menschen mit Einfühlung und Offenheit zuzuhören. Genau! Zuzuhören! Nicht sie vollzuquatschen (mit unseren guten Ideen, guten Plänen, Strategien, politischen Anschauungen undundund), nicht ihnen „gut zuzureden“ (und damit sie wirklich zuzureden!), sondern uns einzulassen auf das, was sie uns zu sagen haben, für wichtig und für wertvoll zu halten, was sie uns mitteilen. Zum erstenmal womöglich, nach langer Zeit, kehrt in die Betroffenen damit vielleicht das Empfinden zurück, selber noch wichtig und etwas wert zu sein!

Darf ich – ohne dass mir dieses als Angeberei oder Eitelkeit ausgelegt wird – am Schluss mitteilen, dass ich selber, als Helfer mit anderen zusammen, diese positive Erfahrung innerhalb der letzten drei Jahre bereits merfach machen durfte? Dass derartiges Zuhören geholfen hat – übrigens mit bleibend guten Ergebnis!

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