Der Kampf um die Köpfe

 In FEATURED, Kultur, Wirtschaft

Digitalisierung macht sich im Klassenzimmer breit. Private ICT-Firmen und internationale Technologiekonzerne drängen in die öffentliche Bildung. Swisscom und IBM bieten Unterricht an und gestalten Elternabende. Das führt zu Fragen. Carl Bossard

„Jetzt habe ich begriffen, was ein Sandstein ist“, strahlte eine Gymnasiastin mit rotem Kopf und schmutzigen Händen. Der spontane Ausruf zeigt eines: Der Verstand geht auch durch die Hände, oder wie es der Pädagoge und Pestalozzi-Schüler Friedrich Fröbel formuliert hat: vom Greifen der Hand zum Begreifen des Kopfes – ein klassischer didaktischer Grundsatz. Die Schülerin bearbeitete einen Stein zum Thema „Erde im Feuer“. Angesagt waren Projekttage mit dem Motiv „Die vier Elemente: Erde–Feuer–Wasser–Luft“.

Realität vor Virtualität

„Omnis cognitio incipit a sensibus.“ Die Hände sind wichtig für die Erkenntnis; sie beginnt mit den Sinnen. Der Satz geht auf Aristoteles zurück. Thomas von Aquin, der vielleicht größte Denker des Mittelalters, umschrieb es so: „Nihil est intellectu quod non fuerit prius in sensu.“ Es gibt keine Erkenntnis, die nicht zuvor in den Sinnen war.

Ans Konkrete und Analoge sei darum erinnert, wenn die nächste Reform der Schulen vorangetrieben wird. Der Megatrend heißt Digitalisierung. Die Bildungspolitik kennt kaum ein anderes Wort. „Sie hat oberste Priorität“, bestätigte vor kurzem auch der abtretende [Schweizer] Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann. Hunderte von Millionen Franken werden in den kommenden Jahren investiert. Die digitale Aufrüstung im Klassenzimmer kostet. Kein Preis scheint zu hoch.

Google drängt in die Klassenzimmer

Viele private Anbieter ziehen in die Bildung und damit in die Schulzimmer ein. „[…] globale Technologiekonzerne wie Google wittern das große Geschäft mit der Digitalisierung“, schreibt die NZZ am Sonntag. Gar von „Googlifizierung“ der Bildung spricht die Süddeutsche Zeitung. Mit der Digitalisierung lässt sich Geld verdienen. Sehr viel sogar.

IT-Giganten forcieren darum den digitalen Unterricht. Analysten der Bank Julius Bär schätzen, dass 2017 im globalen Bildungsmarkt bis zu 7,8 Billionen, das entspricht 7,800 Milliarden, Dollar umgesetzt wurden. Dazu nochmals die NZZaS: „Eine weltumspannende, gewinnorientierte Bildungsindustrie breitet sich aus.“ Der Trend macht auch vor der Schweiz nicht Halt.

Swisscom instruiert Tausende von Volksschülern

So erstaunt es nicht, dass auch Swisscom und IBM präsent sind. Immer mehr Schulen integrieren deren Kursangebote in ihr Medienkonzept. Swisscom-Pädagogen unterrichteten 2018 rund 30.000 Volksschul-Kinder, beispielsweise Primarschüler der dritten und vierten Klasse zum Thema „Ab ins Internet“. Etwas weniger waren es bei IBM. Beide IT-Unternehmen stellen auch Unterrichtsmaterial zur Verfügung und gestalten Elternabende.

Welche Geschäftsinteressen dahinter stecken, bleibt undurchsichtig. Klar wird nur eines: IT-Unternehmen drängen mit aller Wucht in die Schulen. Der Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer ist in vollem Gange (1).

Denken lernen für die digitalisierte Zukunft

Vor dem Outsourcing der Fächer ohne Rückkoppelung bei den Lehrpersonen warnt der Bildungswissenschaftler und emeritierte Zürcher Hochschullehrer Jürgen Oelkers. Aus seiner Sicht sollte die Schule nicht jeden Technologiesprung mitmachen; sie müsste Grundlagen vermitteln und Kulturtechniken schulen. Im Übrigen hat fast nichts eine so kurze Verfallszeit wie das aktuelle ICT-Wissen.

Denken zu lernen, das sei darum das Wichtigste, was die Schüler für die digitalisierte Zukunft üben sollten, gibt Roland Siegwart, Professor am Institut für Robotik und Intelligente Systeme der ETH Zürich, zu bedenken. Deshalb müsse man das Hirn trainieren. Doch dies komme an den Schulen leider oft zu kurz, fügt er ernüchtert bei (2).

Die Digitaltechniken dominieren den Alltag

Wir alle wissen: Der Computer, das Internet, die Sozialen Medien lassen sich nicht mehr wegdenken. Die Digitaltechniken sind in nahezu alle Lebensbereiche vorgedrungen; sie bestimmen unseren Alltag. Ohne Wenn und Aber. Ein Zurück gibt es nicht.

Das digitale Panoptikum von Internet, Smartphone und Google Glass bestimmt auch die Lebenswelt der Jugendlichen – und verändert das Unterrichten. Der Schulalltag digitalisiert sich. Online-Lehr- und -Lernformen werden wichtiger, auch in den Schulen. Das ist ein Faktum.

Lernen lässt sich nicht beschleunigen

Digitalisierung verändert viel, vor allem im Kontext der Arbeitswelt und der Industrie. Doch verändert sich nicht alles, wie es uns die Rhetorik der Technikkonzerne weismachen will. Im Bildungsbereich ist dieses Mantra geradezu gefährlich. Es verkennt, dass die Evolution der menschlichen Erkenntnisfähigkeit im Alltag nicht mit der technischen Revolution gleichzusetzen ist (3).

Digitale Medien können den entscheidenden Lernzuwachs in vielen Fächern weder revolutionieren noch erleichtern und beschleunigen. Lernen bleibt Lernen, und es erfordert weiterhin Einsatz und Üben. Lernen ist anstrengend und nicht immer und überall etwas Spielerisch-Leichtes, auch wenn es die Digitalindustrie dauernd so suggeriert.

Schulisches Lernen braucht positive Beziehungen zu einem vitalen Gegenüber, das ermutigt und Feedback gibt. Auch das gehört zu den anthropologischen Konstanten. Dieses pädagogische Vis-à-vis muss das Lernen möglichst herausfordernd gestalten und Flow-Erlebnisse schaffen. Hier können Digitalprogramme helfen und anspruchsvolle Aufgaben stellen. Doch ohne ein menschliches und verantwortungsbewusstes Gegenüber verliert sich der Lernende in einer Welt ohne Halt und Orientierung. Schulen haben den Auftrag, Bildung zu vermitteln und nicht einfach Lernen zu begleiten. Darum kann man nicht alles an Digitalprogramme delegieren.

Der Bildschirm als dominanter Bezugspunkt verdrängt die soziale Dimension der Bildung. Bildung ist an Personen gebunden und an Gemeinschaftserlebnisse.

Jobs schickte seine Kinder in die Waldorfschule

Bei der Digitalisierung der Schulen ist darum die Natur der Bildungsprozesse zu respektieren. Daran würden auch Johann Heinrich Pestalozzi und Jean Piaget per Twitter erinnern. Lernpsychologische Einwände sprechen gegen einen zu frühen Einsatz digitaler Geräte im Unterricht. Schulen müssen auch zum kritischen Umgang mit dem Internet, mit sozialen Netzwerken und digitaler Lebenswelt anleiten. Dieser Umgang hat eine Distanz zur Voraussetzung. Und diese Distanz muss ihr Fundament in der analogen Welt haben.

Nicht umsonst schickte Apple-Gründer Steve Jobs seine Kinder in eine digitalfreie Waldorfschule. Er limitierte für sie den Technologiegebrauch und sah sie lieber im Garten spielen. Als Bastler und Tüftler wusste er: Die Sinne bringen das Denken und Verstehen in Gang. Das Konkrete und Analoge wirkt als komplementäre Kraft zur digitalen Welt. Das gilt auch für die Schule.

Entscheidend ist, wer vor der Klasse steht

Die Internetkonzerne expandieren in die Bildung. Ihre Macht sei gigantisch, schreibt Jonas Lüscher, der Gewinner des Schweizer Buchpreises 2017 und Kenner des Silicon Valley. Mit der Schule lässt sich eben viel Geld verdienen. Doch beim Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer sollte eines nicht vergessen werden: Für die Bildung dieser Köpfe ist entscheidend, welcher Kopf vor der Klasse steht. Diese Gewissheit ist in der Bildungsforschung empirisch belegt und durch die Hattie-Studie bestätigt. Doch um die Lehr(er)persönlichkeit ist es mit Blick auf die digitale Revolution verdächtig still geworden.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Vgl. Rolf Lankau: Nicht für das Tablet, für das Leben lernen wir. In: FAZ, 05.12.2018
(2) Claudia Gnehm: IT-Fächer überfordern Volksschule: Swisscom und Co. springen vor den Klassen als Lehrer ein. In: Blick, 05.11.2018
(3) Vgl. Klaus Zierer: Die Grammatik des Lernens. Was bei der Digitalisierung im Bildungsbereich nicht vergessen werden darf,. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ, 04.10.2018

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

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