Die Sprache verschlagen
Damals verbrannt und heute vergessen? Zu Leben und Werk des deutschen Schriftstellers Armin T. Wegner. Ein Beitrag zum heutigen Gedenktag der Bücherverbrennung – 10. Mai 1933. (Holdger Platta)
Sechzehnter August 1933: ein Mann, der sich aus Berlin in die Wälder an der Havel geflüchtet hat und dort seit rund drei Monaten in zwei Zelten campiert, wird am frühen Morgen von zwei Männerstimmen geweckt. Ausflügler? Waldarbeiter?
Der Schlaftrunkene vernimmt einige Sätze über die schöne Aussicht von seinem Lagerplatz aus auf den kleinen See unten und kriecht aus seinem Zelt. Verwirrt steht er zwei Männern gegenüber, beide in bürgerlicher Kleidung, mit
Regenschirmen über dem Arm. Drüben, hinter den Bäumen, taucht ein dritter Mann auf, streckt seine Hand nach ihm aus und ruft: „Das ist er!“ Der Flüchtling erkennt in ihm den Wirt aus dem benachbarten Dorf wieder, in dessen Gasthaus er sich seine Post hat nachschicken lassen. Die beiden Herren weisen sich als Beamte der Geheimen Staatspolizei aus und verhaften den aufgestörten Schläfer. Genauerer Ort dieser Festnahme: der Sacrower See, vermutlich am Ostufer dort, wenige Kilometer von Potsdam entfernt. Der Name des Festgenommenen: Armin T. Wegner, geboren am 16. Oktober 1886 in Wuppertal-Elberfeld, von Beruf Schriftsteller. Sein ‚Delikt’: er hat – Anfang April 1933, unmittelbar nach dem von den Nazis organisierten Boykott jüdischer Geschäfte – einen Brief an Adolf Hitler geschrieben, mit der Aufforderung, diesem Treiben ein Ende zu setzen:
„Herr Reichskanzler, es geht nicht um das Schicksal unserer jüdischen Mitbrüder allein, es geht um das Schicksal Deutschlands! Im Namen des Volkes, für das zu sprechen ich nicht weniger das Recht habe als die Pflicht, wie jeder, der aus seinem Blut hervorging, als ein Deutscher, dem die Gabe der Rede nicht geschenkt wurde, um sich durch Schweigen zum Mitschuldigen zu machen, wenn sein Herz sich vor Entrüstung zusammenzieht, wende ich mich an Sie: Gebieten Sie diesem Treiben Einhalt! (…) Ich bestreite den törichten Glauben, daß alles Unglück in der Welt von den Juden herrühre, ich bestreite ihn mit dem Recht, den Beweisen, mit der Stimme der Jahrhunderte, und wenn ich diese Worte an Sie richte, so geschieht es, weil ich keinen anderen Weg mehr weiß, mir Gehör zu verschaffen. (…) Herr Reichskanzler (…) Schützen Sie Deutschland, indem Sie die Juden schützen! Lassen Sie sich nicht beirren durch Männer, die mit Ihnen kämpfen! Sie sind schlecht beraten! Fragen Sie Ihr Gewissen wie in jener Stunde, da Sie vom Kriege heimkehrend inmitten einer entfesselten Welt allein den Weg Ihrer Kämpfe begannen. Immer ist es das Vorrecht großer Seelen gewesen, einen Irrtum einzugestehen. Wessen die Menge bedarf, ist ein sichtbares Zeichen.
Führen Sie die Verstoßenen in ihre Ämter zurück, die Ärzte in ihre Krankenhäuser, die Richter auf das Gericht, verschließen Sie den Kindern nicht länger die Schulen, heilen Sie die bekümmerten Herzen der Mütter, und das ganze Volk wird es Ihnen danken. Denn wenn Deutschland auch vielleicht die Juden zu entbehren vermag, was es nicht entbehren kann, sind seine Ehre und seine Tugend. (…) Ich beschwöre Sie! Wahren Sie den Edelmut, den Stolz, das Gewissen, ohne die wir nicht leben können, wahren Sie die Würde des deutschen Volkes.“
Keine Frage: manches am Pathos dieses Briefes mag uns fremd geworden sein. Ich komme darauf noch einmal zurück. Und die Anrede Hitlers als Wahrer von „Edelmut“, „Gewissen“ und „Würde“ erscheint uns Heutigen vielleicht sogar
unfaßbar naiv. Daß ein Adolf Hitler, der seit dreizehn Jahren den Aufstieg des deutschen Faschismus betrieb, sich von einem einzigen Brief hätte umstimmen lassen können: ist das nicht allzu vertrauensvoll und gutherzig gedacht? Ja, zeigt diese Annahme, dieser Versuch nicht sogar Züge der Selbstüberschätzung? Und dieser Satz, das „ganze“ Volk würde es danken, wenn Hitler die Judenverfolgung beendete: wie konnte man das schreiben, 1933, in einem Land, das seit Jahren von antisemitischen Haßreden und Ausschreitungen aufgewühlt war – als politischer Zeitgenosse, als engagierter Literat?
Zweifellos: dieser nicht zu verleugnende Zug zur Verleugnung offenbarster Verhältnisse signalisiert – bei aller Hochachtung für den Autor und dessen Motive – ein Problem. Aber: würfe die Alternative zu dieser Gutgläubigkeit – selbst gegenüber einem Menschen wie Hitler – nicht ebenfalls einige Fragen auf? Wäre dann nicht festzustellen und festzuhalten, daß diese Aufgeklärtheit, diese Illusionslosigkeit allzuoft in einem Ton auftritt, der mit dem Faschismus zynisch-auftrumpfend dessen negatives Menschenbild teilt? Ich denke hier an die Analyse, die Theodor W. Adorno vom „autoritären Charakter“ vorgelegt hat, gemeinsam erarbeitet mit zahlreichen anderen Wissenschaftlern in der zweiten Hälfte der Vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Armin T. Wegner jedenfalls hat – Jahrzehnte später, nach Erfahrungen, die noch zu schildern sind – seinen Brief folgendermaßen beurteilt:
„Natürlich hatte ich gehofft, daß es nicht ohne Eindruck sein würde, denn ich hatte ja darin nicht nur gebeten oder angeklagt. Ich hatte einfach darin nachgewiesen, daß Spanien zugrunde gegangen war, nachdem es die Juden vertrieben hatte, und hatte daran die geschichtliche Folgerung gestellt, daß dasselbe eintreten würde, wenn die Anhänger Hitlers die Juden verfolgten. Das hat sich mit der Zeit ja auch bewahrheitet.“
Unüberhörbar: auch hier – in diesem Rückblick aus dem Jahr 1972 – klingt die Überschätzung rationaler Argumente gegenüber dem Faschismus noch nach. Als ob der Faschismus auf der Basis von Argumenten entstanden sei und der Kraft der besseren Argumente hätte weichen müssen! Und zu befürchten ist: es handelt sich dabei um eine spezifische Überschätzung des „Geistigen“ durch viele Intellektuelle überhaupt, um eine rationale Variante des Idealismus, der allzuoft eng gekoppelt bleibt an eine Unterschätzung des Affektiven und der materiellen Lebensverhältnisse der Menschen. Trotzdem:
Tadelt man damit, Jahrzehnte danach, nicht allzu sorglos und ungefährdet die – vermeintlichen oder tatsächlichen – Irrtümer der Antifaschisten von einst? Oder verfügen wir tatsächlich über das ‚bessere’, das heißt: aufs furchtbarste schlechtere Wissen – blutig oder auch gratis von der Geschichte belehrt, und wir verdanken dieses furchtbare Wissen nicht zuletzt Menschen wie Armin T. Wegner und dessen furchtbarem Lebensweg?
Dessen humanes Engagement hatte – wie meist bei den Männern, die im wilhelminischen Deutschland aufgewachsen sind – des Vorbildes der Mutter bedurft, denn aus eigener Kraft, aus eigener Tradition brachten nur wenige Männer diesen Mut zur Empathie und zur Sensibilität hervor.
Wegners Vater, preußischer Baurat bei der Reichsbahn, war ein gewalttätiger Mann, schlug den Sohn mit der Reitpeitsche, bis dieser ausriß, sich bei einem Bauern als Knecht verdingte, kaum siebzehnjährig. Die Mutter hingegen, zartfühlender, verständnisvoller als der Vater, besaß – wie der Göttinger Literaturwissenschaftler Reinhard Nickisch in seiner Biographie über Wegner geschrieben hat – „ein waches Gespür für das, was Menschen an Leid und Ungerechtigkeit widerfuhr.“
Die Mutter war eine der ersten Deutschen, die für das Wahlrecht der Frauen kämpften. Sie empörte sich über den Ersten Weltkrieg und verbreitete dies auch in einer von ihr herausgegebenen Frauenzeitschrift, bis das Blatt verboten wurde.
Als einer der wenigen jungen Männer dieser Zeit begrüßte daher auch Armin T. Wegner den Ersten Weltkrieg nicht, und der junge angehende Künstler und Schriftsteller Wegner stimmte auch nicht in das Begeisterungsgeschrei so
mancher anderen Schriftsteller und Künstler seines Landes für den Ersten Weltkrieg mit ein. Wegner Jahre danach:
„Am Tage des Kriegsausbruches war ich der einsamste Mensch, so einsam, wie ich es mir nie wieder im Leben habe vorstellen können (…)“
Er, dessen erster Band mit expressionistischen Gedichten 1909 erschienen war, im Berliner Fleischelverlag – Titel: „Zwischen zwei Städten“ –, kam als Sanitäter an die Ostfront, doch seine prägenden Kriegseindrücke erhielt er erst in der Türkei. Dort wurde er Zeuge des ersten großen Genozids des zwanzigstens Jahrhunderts: der Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern durch die Türken.
Wegner erkrankte schwer, an Fleckfieber, wurde nach Deutschland zurückgeschickt. Nicht mehr „kriegstauglich“, wie man das nannte, versuchte er in Berlin zugunsten der Armenier zu intervenieren, veröffentlichte ein Buch darüber: „Der Knabe Hüssein“. Doch die Deutschen – wie auch später die Siegermächte – kümmerten sich nicht darum.
Er schloß sich dem „Rat der geistigen Arbeiter“ an, einer Gruppe von linken Schriftstellern, welche die Umwälzung zum Sozialismus wollte. 1919 gründete Wegner den „Bund der Kriegsdienstgegner“, gemeinsam unter anderem mit
Helene Stöcker und Kurt Hiller. Zuvor, während des Krieges, 1917, hatte er seinen zweiten Gedichtband veröffentlicht, wiederum in Berlin, wiederum bei Fleischel: „Das Antlitz der Städte“, vielleicht seine besten Gedichte. Als „obszön“ verfielen sie der kaiserlichen Zensur und konnten erst später erscheinen. Gebannt vom Phänomen Großstadt – wie so viele andere Expressionisten auch – schrieb Wegner – nach und neben Georg Heym – dennoch eines der ersten, wenn man so will, „grünen“ Gedichte über die Großstadt – ein Gedicht gegen das allmählich alles verschlingende Häusermeer – „Der Zug der Häuser“:
Die letzten Häuser recken sich grau empor,
In Massen geschart und in einzelnen Gruppen,
Elende Hütten laufen davor,
Zerlumpte Kinder vor Heerestruppen.
Hinter den steinernen Zinnen aber beginnen
Die Felder, die Weiten,
Die sich endlos in die graue Ebene breiten.
Hohläugig glotzen die Häuser herüber,
Mit scheelem Blicke versengen sie Strauch und Baum
„Gebt Raum! Gebt Raum
Unserem Schritt!
Wir wälzen den plumpen steinernen Leib darüber,
Die Dörfer, die Felder, die Wälder, wir nehmen sie mit!
Mit unserem rauchenden Atem verbrennen
Wir jede Blüte und reifende Frucht.
Die Saaten, die nicht mehr grünen können,
Ersticken in Qualm wir. Vor unserer Wucht
Zersplittern die Bäume, in rasender Schnelle
Sind alle Menschen im Land auf der Flucht
Vor unserer steinernen Welle.
Wir aber erreichen sie doch. Uns hält
Kein Strom, kein Graben. Wir morden das Feld.
(…)
Bis wir zum Saume der Meere uns strecken,
Nie sind wir müde, nie werden wir satt,
Bis wir zum Haupte der Berge uns recken
Und die weite, keimende Erde bedecken:
Eine ewige, eine unendliche Stadt!…“
Mit anderem – noch stärker pazifistischem – Akzent als er auch in diesem Gedicht bereits vernehmbar ist (= der „Zug der Häuser“ gleichzeitig ein kriegerischer Truppenverband) hatte Wegner diese Fortschrittskritik auch in einem Brief an seine Mutter aus dem Jahre 1916 formuliert:
„Wofür bauten wir Eisenbahnen und Dampfschiffe, errichteten Schulen, Fabriken und Krankenhäuser (…) Glaubten wir wirklich, daß wir die Menschen näher aneinanderrückten, Völker an Völker, Herzen an Herzen zu binden, die Güter der Erde dorthin zu tragen, wo ihrer Mangel wäre, und die Armut zu töten? O die große Lüge, die große Lüge! Soviel Wunder des Geistes und der Hände, nur daß wir Mittel und Wege hätten, Soldaten schneller dorthin zu werfen, wo sie Menschen fänden, zu töten (…) Dreitausend Jahre haben wir die Sehnsucht in uns getragen, in die Lüfte zu steigen, und da sie endlich in Erfüllung ging und wir fliegen lernten, da hoben wir uns in die Lüfte und warfen den Tod auf die Erde herab (…)“
Das Gedicht „Zug der Häuser“ wie der Brief Wegners an seine Mutter zeigen: hier wandte sich einer gegen mächtige Tendenzen in Gesellschaft und Gegenwart, und sein Brief aus dem Jahre 1916 an die Mutter hatte uns hören lassen: Wegner reagierte mit eminenter Sensibilität auf die inhumanen Entwicklungen seiner Epoche. Mit dieser gleichen Empfindlichkeit gegenüber den Kehrseiten offiziell gepriesener Realitäten reiste Wegner dann 1927 – mittlerweile ein Schriftsteller von hohem Ansehen und großem Erfolg – in die Sowjetunion. „Nur ein Liebender“, sagte er, „kann dieses Land verstehen.“ Und so schrieb er, der Kommunist, überwältigt von dem, was er in der Sowjetunion sah, seinen Erfahrungsbericht „Fünf Finger über Dir“, notierte er die Vorzüge der neuen Gesellschaft gegenüber der alten – um dann um so hartnäckiger von Zweifeln verfolgt zu werden:
„Daß überall das alte Rußland hindurchblickt, daß man die Gesetze der Zensur, der Amtsstuben, des Spitzelwesens, der Ochrana <= des zaristischen Geheimdienstes. HP> nur deshalb vernichtet hat, um sie selber anzuwenden – das ist es, was mich erschreckt.“
Und an anderer Stelle, in einem Brief an den Dichter Maxim Gorki:
„Wovor ich erschrecke, ist folgendes: Auf allen Bahnhöfen, in den Schreibstuben, den Polizeizimmern stelle ich immer von neuem fest, wie man das einfache Volk beleidigt. Während man die hohe Kameradschaft der Befehlshaber der Roten Armee zu ihren Untergebenen nicht ohne Rührung betrachten kann, scheinen die Beamten des Staates in der namenlosen Masse nur eine Herde von Hammeln zu sehen, die ihrer Willkür, jedenfalls aber ihrer grenzenlosen Gleichgültigkeit überlassen sind.“
Fragen, Zweifel, Unsicherheiten. Und Wegner nahm mit seinen Zweifeln nur vorweg, was andere europäische Linke später unter dem Eindruck von ‚Säuberungsprozessen’ und Spanischem Bürgerkrieg, von Hitler-Stalin-Pakt und Archipel Gulag erfahren sollten: den Beginn politischer Heimatlosigkeit. Daher dieser ‚apolitische’ Alleingang des Pazifisten und Kommunisten Wegner im April 1933, dieser einzelgängerisch-humanitäre Brief an den faschistischen Führer?
„Das Erschütternde unserer Lage besteht darin, daß es uns offenbar vom Schicksal bestimmt scheint, nicht hinter, sondern zwischen die Barrikaden zu fallen…“, so hatte Armin T. Wegner es schon 1919 ahnungsvoll formuliert – in einem Brief an den Schriftsteller und Revolutionär Ernst Toller, der in der Münchener Räterepublik nicht Menschenleben opfern wollte.
Nun stand er nicht mehr nur zwischen den Barrikaden, Mitte August 1933, sondern vor den Nazi-Schergen in der Prinz-Albrecht-Straße, Berlin. Und das Übliche begann. Man stieß ihn eine finstere Kellertreppe hinunter, drohte mit seiner Erschießung. Man ließ ihn warten und schlug ihn dann blutig. Man schrie ihn an „Ein Intellektueller, der riskiert nur ’ne Lippe in Büchern“ und las ihm höhnisch aus Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ vor, die sie bei dem Festgenommenen gefunden hatten.
Dann die Wiederholung der Torturen im KZ Oranienburg. Schläge jetzt mit der Reitpeitsche, einen Knebel im Mund, ein Gestapo-Mann, der ihn anschreit: „Nun wirst Du nicht mehr gegen uns schreiben!“ – und ein anderer: „Mach kein so trauriges Gesicht!“
Endlich, vierzehn Monate später, nach einem Leidensweg durch sieben Gefängnisse und drei KZs, im Oktober 1934 die erste Entlassung. Wegner geht nach England, seine jüdische Frau – die Schriftstellerin Lola Landau – ist schon dort, aber: „Auswandern“, so Wegner, „ist Sterben“. Der Autor kehrt nach Deutschland zurück, wird erneut verhaftet, als er sich für die Freilassung eines Juden einsetzt, den er im KZ kennengelernt hatte. 1935, am 7. September, dann die endgültige Entlassung, betrieben von einem englischen Anwalt und Quäker. Wegner findet Unterschlupf in einem Dorf bei Amalfi in Italien.
„Das Inferno war überstanden“, schreibt Jürgen Serke in seiner Kurzbiografie des expressionistischen Dichters: „Es blieb die Sprachlosigkeit aus Entsetzen.“ Und Wegners spätere Lebensgefährtin, Irene Kowaliska, erzählt:
„Er schob immer ein Blatt über das, was er schrieb, wenn ich zu ihm ins Zimmer kam. Einmal vergaß er es. Ich schaute auf seinen Schreibtisch. Ich habe mich furchtbar erschrocken. Er schrieb überhaupt nicht. Er saß den ganzen Tag vor leeren Blättern.“
Und Serke ergänzt:
„Nachts träumte er von den Folterern… er schrie so laut, daß man es auf der Straße hören konnte.“
Jean Amery, der wie Wegner Folter, KZ-Haft und Exil erdulden mußte, schrieb zwei Jahrzehnte später in seinem Essay über „Die Tortur“:
„Schon mit dem ersten Schlag, der auf den der Folter Unterworfenen niedergeht (…) endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken (…) Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen.“
Armin T. Wegner, der vom Verstummen Bedrohte, hat sich von diesem Erschrecken niemals mehr befreien können. Und das Vergessen seiner Person, seines Werkes im Nachkriegsdeutschland tat ein übriges. Jürgen Serke im Jahre 1983:
„Dieser Schriftsteller war nie ein Thema im Nachkriegsdeutschland. Weder in der Schule noch in der Politik. Sein Name steht in kaum einem Literaturlexikon nach 1945. Seine Bücher, einst in hohen Auflagen verbreitet, wurden nicht mehr aufgelegt. Die alten Werke sind nicht einmal in den großen öffentlichen Bibliotheken erhältlich.“
Dies stimmt so zum Glück nicht mehr ganz. Anfang der siebziger Jahre begann verdienstvollerweise der Wuppertaler Peter-Hammer-Verlag mit der Neu-Herausgabe seiner Werke, nunmehr hat der Göttinger Wallstein-Verlag die Neu-Edition seiner Bücher übernommen. 1982 erschien beim Hammer-Verlag – eine Pionier-Arbeit! – die Biografie des Göttinger Literaturwissenschaftlers Reinhard Nickisch über Armin T. Wegner, der am 17. Mai 1978 im Alter von fast 92 Jahren starb. Schließlich ist zu erwähnen die Dissertation von Martin Rooney über den expressionistischen Dichter aus dem Jahre 1982, die zwei Jahre später im Selbstverlag erschien unter dem Titel „Leben und Werk Armin T. Wegners (1886-1978) im Kontext der soziopolitischen und kulturellen Entwicklung in Deutschland“. Und zuallerletzt: seit 2002 gibt es auch eine „Armin T. Wegner-Gesellschaft“, die sich um Erinnerungsarbeit für diesen großen humanen Autor bemüht. Dennoch, für den verfolgten Schriftsteller kam dies alles zu spät.
Er, der wie Erich Kästner der Verbrennung der eigenen Bücher zugeschaut hatte, am 10. Mai 1933 in Berlin, mußte erfahren, daß dieses Vergessenwerden im nachfaschistischen Deutschland noch quälender war als der einmalige
Verbrennungsakt von Büchern seinerzeit auf dem Berliner Opernplatz – und übrigens, Wochen davor schon, auch in seiner Heimatstadt Wuppertal. Unsere „zweite Schuld“ hat das der deutsch-jüdische Autor Ralph Giordano in seinem gleichnamigen Buch genannt. Und Armin T. Wegner schrieb einmal: „Nichts Unnachgiebigeres gibt es als die Vergangenheit“. Vielleicht, so müssen wir hinzufügen, kann sie übertroffen werden, diese Gewalt der Vergangenheit, durch die Grausamkeit des Vergessens in der Gegenwart.
Es liegt an uns, dieser Grausamkeit ein Ende zu setzen. Die Verspätung dieses Wiedererinnerns rückgängig zu machen, liegt freilich nicht in unserer Hand.