Frontex: Seidenhemden über Wohlstandsbäuche, Teil 2/2

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... Tradition, Ehre, Disziplin, Leistung ...

… Tradition, Ehre, Disziplin, Leistung …

“Etwas besseres als den Tod finden wir überall” – das Motto der Bremer Stadtmusikanten gilt auch für viele Flüchtlinge, die in Europa Schutz vor Armut und Verfolgung suchen. Was sie dann erwartet, ist tatsächlich oft der Tod. Oder Vegetieren in Flüchtlingslagern, in denen schlechtere Lebensbedingungen herrschen als in einem Obdachlosenlager unter Brücken. Die menschenunwürdige Unterbringung widerspricht meist den Menscherechtsstandards der “Gastgeberländer”, worum sich diese aber nicht scheren. Und auch die Presse schweigt weitgehend zu den Vorfällen – wenn nicht gerade der Papst publikumswirksam zu Besuch kommt. Noch immer will auch die Bevölkerungsmehrheit in Europa – so ökosozial sie sich teilweise gibt – nichts von ihrem Wohlstand abgeben. (Hannes Nagel)

Fluchtrouten und die Frontexgründung

Zuerst kam Schengen. Mit dem Schengener Abkommen hatte die Europäische Union für EU-Bürger Grenz-und Zollkontrollen an Grenzen der am Schengener Abkommen beteiligten Länder beschlossen. Wohlklingend wurde Schengen als weiterer Schritt bei der Integration Europas bezeichnet, indem der Wegfall der Binnengrenzen für einen freien und ungehinderten Fluss von Waren, Gütern, Dienstleistungen und Menschen sorge. Aber es gab auch Erweiterungen durch die Aufnahme neuer Mitgliedsländer. Es gab nun keine Binnengrenzen mehr zu bewachen und zu kontrollieren, aber es gab immer noch Menschen, die in den Schengenraum wollten, um der Armut, der politischen Verfolgung, der ständigen Unsicherheit in ihren Heimatländern entkommen wollten. Seit 1990 sind 6 hauptsächlich genutzte Fluchtrouten ins Europa des Schengenabkommens entstanden:
-Route über das westliche Mittelmeer
-Route über das mitlere Mittelmeer
-Route über das östliche Mittelmeer
-die Westafrika-Route
-die Route über den westlichen Balkan
-und eine Route über Griechenland und Albanien

Neuerdings wird auch noch eine Route von Russland über Polen direkt ins Auffang-und Abschiebelager in Eisenhüttenstadt erwähnt. Die Fluchtgründe entsprechen fast immer dem Credo der Bremer Stadtmusikanten in dem Märchen der Herren Hans und Jakob Grimm. „Etwas besseres als den Tod finden wir überall.“ In den Märchen hatte das Wünschen noch geholfen. Heute hilft am Besten handeln. Hätte ich eine Ferienwohnung zu vermieten, ich glaube, ich wüsste, was ich täte. Ich weiß, dies sagt sich leicht dahin, wenn man keine Ferienwohnung hat und also den Worten keine Taten folgen lassen muss.

Wer aber sind die Flüchtlinge? Nach dem jüngsten Versagen der europäischen Menschlichkeit beim Drama vor Lampedusa schrieb der ehemalige Innenminister Günter Beckstein einen Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, Titel: „Lehren aus Lampedusa“. Die Lehre ist ungefähr so wie die Lehre, die ein im Krieg unterlegener Generalstab zieht. Der kommt immer auf nur eine Schlussfolgerung: „Beim nächsten Mal müssen wir besser sein“. Welche Lehren leitet nun Günter Beckstein aus dem Tod von mehr als 300 Menschen ab?
Lehre Nummer 1:
„Die Flüchtlinge aus Nordafrika sind gut ausgebildete Eliten, die es in Europa nur besser haben wollen, weil sie zu Hause keine Arbeit finden.“
Lehre Nummer 2:
„Europa darf diese Fachleute ihren armen Heimatländern nicht wegnehmen“
Lehre Nummer 3:
„Flüchtlinge führen die Seenotsituation oft selbst herbei, um die Europäer zu zwingen, sie mit ihren Schiffen in europäischen Häfen abzusetzen, wo sie dann Asyl anmelden“
Lehre Nummer 3:
„Die Flüchtlinge suchen immer nur die reichen Länder der EU aus, aber nach Bulgarien oder Lettland wollen sie nie“
Lehre Nummer 4:
„Es ist unmoralisch, den Flüchtlingen Hoffnung aus Asyl zu machen, indem man einige Erfolgsgeschichten von Flucht und Asyl zulässt“
Lehre Nummer 5:
„Deutschland will die Menschen in unwürdigen Lebenslagen nicht allein lassen“.
Lehre Nummer 6:
„Zur Ernährung der Flüchtlinge muss die Genveränderung der Nahrungsmittel ausgebaut werden“

So etwas kann Beckstein in der SZ schreiben, ohne dass es entrüstete Stimmen gibt. Vielleicht ist das verständlich, wenn man auch noch folgende Meldung ebenfalls vom 18. Oktober registriert: „EU-Kommission und Länder streiten über die Seenotrettung“. Darin will die Kommission wörtlich folgenden Satz festlegen: „Die EU will grundsätzlich jedem in Seenot befindlichen Schiff und jeder in Seenot befindlichen Person Hilfe leisten“. Malta, Zypern, Italien, Spanien Frankreich und Griechenland wollen sich nicht so festlegen lassen. Was wird wohl geschehen, wenn ein europäischer Millionär mit seiner Yacht vor Malta hilflos im Sturm treibt und ein überfrachtetes Flüchtlingsboot auch? Wem helfen die edlen Retter von Frontex dann zuerst?

Medien, Öffentlichkeit und Forschung benutzen das Sprachbild von Flüchtlingsströmen, wenn sie Migration meinen. Ich bezweifle, dass das Sprachbild richtig ist. Wären es „Ströme“, müsste es wesentlich mehr Berichte geben. Mit „Strömen“ würde man auch unaufhörliche endlose Trecks von Vertriebenen verbinden. Vereinzelte kleine Gruppen von Menschen, die allemal nur etwas Besseres als den Tod finden wollen, sind keine Flüchtlingsströme. Es wäre also sinnvoll, wenn man ungefähr verlässlich abschätzen könnte, wie sich die Zahl der nach Europa flüchtenden Menschen in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt hat. Das Schengenabkommen trat 1995 in Kraft. Dabei war es bereits 1985 zwischen Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Frankreich und Deutschland beschlossen worden. Das Ziel bestand im schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen. Im Juni 1990 hatte sich die Welt schon etwas weiter gedreht und ein paar geopolitische Änderungen mit sich gebracht, die im Niedergang des Sozialismus bestanden. Infolge dessen nahmen die Unterzeichner von Schengen 1 die Unterlagen wieder aus dem Schubfach und bearbeiteten sie. Die Folge war das Abkommen Schengen 2, welches eine Art Durchführungsbestimmung zu den politischen Vorgaben des Abkommens ist. Zur Zeit gehören 28 Mitgliedsländer der Europäischen Union und ein paar assoziierte Staaten zu den Unterzeichnern des Schengen-Abkommens. Die Grenzschutzagentur FRONTEX basiert auf den dem Schengen-Abkommen. Die 2004 gegründete Agentur ist der sicherheitspolitische und grenzpolizeiliche Arm Mitgliedsländer an den Außengrenzen des Schengenraumes. Ihre Daseinsberechtigung leitet die Agentur aus der Anzahl illegaler Einreisen in den Schengenraum ab. Für 2012 verzeichnet sie amtlicherseits auf ihrer Webseite insgesamt 60.480 Fälle.

Jahr Anzahl Route

2012 10.300 mittleres Mittelmeer
Somalia, Tunesien, Eritrea
6.400 westliches Mittelmeer
Algerien, Marokko
170 Westafrikaroute
Marokko, Gambia, Senegal
6.390 Westbalkanroute
Afghanistan, Kosovo, Pakistan
37.220 östliches Mittelmeer
Afghanistan, Syrien
Summe 2012 60.480 „illegale“ Grenzübertritte

Nach neuestens Zahlen soll die Personalstärke von Frontex bei 300 Mann liegen. Den Rest besorgen konventionelle Grenzschutzorgane. In den Pflichtveröffentlichungen über die Finanzausstattung und den Ausgaben für Beschaffung von Bekleidung, Ausrüstung und Bewaffnung sind aber Einzelposten zu Versicherung, Versorgung, Betreuung, Bezüge und Sozialleistungen für den Gesamtpersonalbestand der Agentur enthalten. Ich wage es jedoch nicht, hieraus eine ungefähre Truppenstärke zu berechnen. Im Übrigen halte ich die Daten für irreführend, denn sonst wären sie als Verschlusssache gekennzeichnet und nicht freizügig veröffentlicht worden. Ähnliche Kritik an internen Informationen wird auch im „Jahrbuch Öffentliche Sicherheit“ für das Jahr 2012 vorgebracht. Der Verfasser des Kapitels „Europas Grenzschutzregime“, Timo Tohidipur, beklagt in Abschnitt 2.2. „fehlende parlamentarische Aufsichtsrechte“.

Er schreibt, dass die parlamentarische Kontrolle, die sonst allgemein zumindest üblich ist, von vorn herein bei der Gründung von FRONTEX nicht vorgesehen war. Lediglich ein jährlicher Tätigkeitsbericht ist vorgesehen, der aber nicht tiefergehend nachprüfbar ist. Zitat: „Die Berichtspflichten sind dann wirkungslos, wenn bestimmte Bereiche wie operative Themenkomplexe in den Berichten rechtswidrig gesperrt werden.“ Das ähnelt ein wenig der Methode des Teufels, der die Pressekonferenz zum Zwecke der Mitteilung erfunden hat, dass es in der Hölle warm ist, aber keine Messdaten vom Thermometer liefert.

Wärmeschätzung ohne Thermometer

Die Agentur Frontex agiert mit den Finanzmitteln, die ihnen ihre Mitglieder bewilligen. Im laufenden Jahr 2013 sind das 85 Millionen Euro. Das steht insofern fest, weil die Behörde diese Angabe machen muss. Über die Personalstärke gibt es keine verlässlichen Angaben. Das deutsche Innenministerium verkündet auf seiner Webseite, dass Deutschland mit 100 Mann an der Truppe beteiligt ist. Beteiligt sind alle Unterzeichnerstaaten des Schengen-Abkommens, also zur Zeit 28 Staaten. Ein paar hundert Mitarbeiter verfügen über ein Budget, welches seit Gründung der Agentur von 6 Millionen Euro auf 86 Millionen Euro im Jahre 2013 gewachsen ist. Der Budgetanstieg scheint nicht weiter verwunderlich, wenn die Information auftaucht, dass FRONTEX nach einer Reform im Jahre 2011 in eigenem Namen und mit eigenem Budget Schiffe, Hubschrauber, Waffen und Ausrüstung kaufen darf. Ich sage Waffen, weil außer Bundesverteidigungsminister Thomas de Maiziere in Europa niemand so scharf auf den Erwerb von Drohnen ist wie FRONTEX, weil sich mit Drohnen die Unionsaußengrenzen durch fotografische Überwachung und gegebenenfalls grenzpolizeiliches Eingreifen lückenlos abdichten lassen sollen. Prompt genehmigte die EU auch das Drohnen-und Satellitenüberwachungsprogramm EUROSUR am 10. Oktober. Als grenzgebranntes Kind frage ich mich und besonders die Verantwortlichen: Gilt die Abschottung nur für „die da draußen“? Oder auch nach innen? Zwischen dem antifaschistischen Schutzwall der DDR und dem Mittelmeerwall der Europäischen Union gibt es Parallelen.

Der Ruf der Agentur in der Öffentlichkeit

Frontex hat außer bei Hardlinern keinen besonders guten Ruf in der Öffentlichkeit. Das hat viele Gründe, unter anderem das Verhalten der Agentur. Es gab mal einen Tatort, der sich mit einem wirklichen Fall einer Frontex-Jagd auf Flüchtlingsboote befasste, wobei mehrere Menschen im Mittelmeer starben und vom Meer an Italiens Küste gespült wurde. In jenem Tatort sagte die Kommissarin sinngemäß: „Frontex klingt irgendwie nach Unkrautvernichtungsmittel“. Für den schlechten Ruf kann die Agentur nichts, denn sie erfüllt ja nur die politischen Vorgaben der Europäischen Kommission. Frontex ist ein Wachhund, der für seine Handlungen das Kommando seines Herrchens braucht und dann ein Leckerli in Form von Befugnissen und wohlwollender Budgetzuweisung bekommt. Die Agentur hat auch einen stillen guten Ruf. Der geht vom Wohlstandsbürgerstammtisch aus und heißt: „Das Boot ist voll“. Der Stammtisch hat keine Kenntnis von Singular, Plural und Semantik, sonst müsste er sagen: „Die Boote sind voll“, und er dürfte sie nicht auf Europa oder die Länder der Europäischen Union beziehen, sondern auf die überladenen Flüchtlingsboote. DIE sind es nämlich, welche voll sind. Europa hat noch viel Platz. In Ostdeutschland gibt es noch mehrere Hektar ehemaliger NVA-Militärareale, bereits erschlossen durch Kasernenbau und andere Anlagen. Man möge mir eine ehemalige Kaserne übertragen und ich würde mit Flüchtlingen, Helfern, Arbeitslosen und der Solarenergie innerhalb von 7 bis 10 Jahren die Grundlagen einer sich wirtschaftlich selbst tragenden Siedlung schaffen. Über jede Meinung erhaben sind aber die Zustände und Lebensbedingungen für diejenigen Fliehenden, die es bis aufs europäische Festland schaffen und einen Behördenkontakt erhalten – womit ihr Asylprozess formal erstmal startet. Ich habe seit zwei Jahren keinen Fernseher mehr und und keine Reisemittel. Ich habe daher weder im Fernsehen gesehen noch mit eigenen Augen geschaut, wie die Menschen in den Lagern hausen. Schaumstoffmatratzen, kaum sanitäre Einrichtungen, nicht einmal Zelte sollen zur Verfügung stehen. Wenn es stimmt, was ich gehört habe, soll zur Zeit streng darauf geachtet werden, dass in Lampedusa keine Fotoaufnahmen von Lagern und Menschen gemacht werden. Gesehen hab ich an offiziellen Fotos lediglich Lagerhallen mit Särgen. Ich finde das makaber: Die Toten werden in Hallen aufgebahrt, die Lebenden campieren solange im Freien, bis auch für sie ein Platz der Lagerhalle geschaffen wird.

Die oberste politische Führung ist die Europäische Kommission. Dort wird das Budget beschlossen und genehmigt, Übungen abgesegnet und interne Manöverkritik geübt. Die oberste Leitung der operativen Arbeit hat der Executive Director. Die untergeordneten 3 Hauptabteilungen sind:
Operative Abteilung: Zuständig für Gemeinsame Operationen, betreiben des Lagezentrums und für Risikoanalyse.
Abteilung für Planung und Kapazität: Zuständig für Training, Erhaltung der personellen Sollstärke sowie Forschung und Entwicklung.
und die Abteilung innere Verwaltung (administration Division)
Finanzierung, Beschaffung, Menschenführung, soziale Absicherung von Mitarbeitern und für die Klärung rechtlicher Angelegenheiten.
Apropos rechtliche Angelegenheiten:
Die größte Empörung ruft die Methode des Abfangens von Flüchtlingsbooten noch vorm dem Erreichen europäischer Hoheitsgewässer hervor. Es ist eine seerechtliche Grauzone. Kurz gesagt verlassen Frontex-Schiffe ihr eigenes Operationsgebiet und suchen in internationalen Seegebieten nach Flüchtlingsbooten. Den modernen Schiffen ist es ein leichtes Spiel, Nussschalen mit entkräfteten Flüchtlingen abzudrängen, kurz bevor sie rettendes Ufer erreichen. Ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Kraft und mit lecken Booten sollen die Flüchtlinge auf offener See zur Umkehr bewogen werden – das bedeutet unweigerlich Tod. Das internationale Seerecht gebietet es jedoch, Schiffbrüchige aufzunehmen und zum nächstgelegenen Hafen zu bringen. Alles andere ist Unterlassene Hilfeleistung, bei der der Tod billigend in Kauf genommen wird. Dies ist eine Praxis, die der Europäische Gerichtshof im Februar 2012 als rechtswidrig verurteilt hat. Elf Somalier und 13 Eritreeer hatten gegen die italienische Küstenwache geklagt, die ihr Boot vor Lampedusa aufgebracht hatten. Sie wurden auf Kriegssschiffe verbracht, die die Opfer nach Tripolis lieferten statt in einem italienischen Hafen in Sicherheit zu bringen.

Die fast schon militärische Hochrüstung der Agentur mit den polizeilichen Aufgaben veranlasste mich im August 2012 angesichts von Abfangmanövern auf See zu folgendem Vers:

„Zur Asylgesetzfestlegung
probt Frontex schon die Abfangübung.
Ein Küstenwachschiff zeigt Präsenz.
Es demonstriert mit Vehemenz
dass auch ein deutsches Küstenwehrschiff
gern trägt Paramilitärschliff
Nimmer sieht man sie ermüden
bei Gefahrenabwehr aus dem Süden.
Europa macht sich um den Wohlstand Sorgen
Im Süden gibt es oft kein Morgen
Die Reichen haben Angst vorm darben
und 20 Asylanten starben
weil Frontex, kurz vor Lampedusa
lachend beim Verrecken zusah“

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