Ich bin die Mitte. Du auch

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Das Möbius-Band: von außen nach innen - und zurück

Das Möbius-Band: von außen nach innen – und zurück

Wie unser Selbst- und Weltverständnis Strukturen erschafft. Die Weltanschauung der sogenannten Realpolitiker, die überall Grenzen sehen und immer wieder Kriege führen, und die der Poeten und Visionäre, die das zusammenhängende Ganze sehen – können die sich treffen? Ja, falls man bereit ist, genauer hinzusehen und dabei die Erkenntnisse der Ökologie, Systemtheorie und der modernen Physik einbezieht. (Wolf Schneider)

»Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut.« So sprach einst Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, als er am 4. August 1914 im deutschen Reichstag für die Zustimmung zu den Krediten warb, die dem Deutschen Reich den ersten Weltkrieg ermöglichen sollten. Er hatte Erfolg! Mit der Gewährung der Kredite, nicht mit dem Krieg.

Wenige Wochen später, im August/September 1914, schrieb der damals in Deutschland schon recht bekannte und in Dichterkreisen sehr geschätzte Rainer Maria Rilke: »Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.«

Die Welt als Innenraum

Zwischen diesen beiden Arten des Selbst- und Weltverständnisses liegt eine kaum überbrückbare Kluft. Auf der einen Seite der Politiker, der wie alle von Kriegen und Zugewinnen begeisterbaren Politiker sich und sein Land als Opfer sieht oder, um Zustimmung zu bekommen, immerhin vortäuscht, sein Land würde angegriffen: »Wer so bedroht ist wie wir …«. .

Auf der anderen Seite stand der zarte, vergeistigte, von vielen als weltfremd empfundene und doch mit der Welt so innig verbundene Dichter Rainer Maria Rilke, der beim Blick nach draußen, in die Welt hinaus, diese nicht nur keineswegs als feindlich erlebte, sondern sogar das Gefühl hatte, die Vögel flögen durch ihn selbst hindurch. Der sich selbst als wachsend empfand und sich den Bäumen verbunden fühlte als wüchsen sie in ihm selbst. Für Rilke war die Welt ein Innenraum, in dem wir alle, ausnahmslos alle, uns bewegen: Freund und Feind, Menschen, Tiere, Pflanzen, du und ich.

Das größere Bild

Wenn ich hier auf Rilke verweise, dann verweise ich auf ein Bild des Menschen in der Welt, das Rilke in seinem Gedicht so wunderschön in Worte gefasst hat – ein Bild, in dem der Mensch nicht des Menschen Feind ist, und auch sonst keines Wesens oder gar der Natur Feind, sondern in dem der Mensch integraler Teil des Ganzen ist. Wir sind mitten drin, wir sind sogar das Ganze – und das Ganze ist in uns.

Die Welt als alles umfassender Innenraum ist so wahr wie die Erkenntnisse der Ökologie, der Systemtheorie und der modernen Physik, des Tao Te King (Daodejing) und der Weisen vieler versunkener und noch bestehender Kulturen.

Wir Kugelbewohner

Stell dir vor, du seist eine Ameise, die auf einer Kugel lebt, und du fragst dich, wo der Rand der Welt ist und wo ihre Mitte. Was heißt da Vorstellung: Wir leben ja tatsächlich auf einer Kugel, die für uns aber aussieht wie eine Ebene, so dass wir Menschen jahrtausendelang dachten, wir würden auf einer Ebene leben, die einen Rand hätte, an dem man runterfallen könnte in einen unermesslichen Abgrund hinein.

Auf einer begrenzten Ebene gibt es immer die eine oder andere Art von Mitte und entsprechend auch Randpositionen, eine Peripherie, so wie das Römische Reich eine Peripherie hatte und das antike China. Auf einer Kugel aber ist jeder Punkt auf der Oberfläche stets die Mitte dieser Oberfläche. Der Horizont ist nur die Illusion eines Randes, die wir mitnehmen, während wir uns auf der Oberfläche dieser Kugel bewegen. Immer haben wir den Horizont mit dabei, die Illusion eines Randes, und immer sind wir dabei in der Mitte.

Bei vielen Völkern lässt sich die Eigenbezeichnung für ihr Volk übersetzen als »Menschen wie wir«, und die Bezeichnung der eigenen Sprache ist sowas wie »Laute, wie wir sie sprechen«.

Die Welt als Hologramm

Die Sicht der Welt als Hologramm, das ist die Weltanschauung des Käfers auf dem Möbiusband – er läuft immer weiter, immer weiter und kommt schließlich auf der Unterseite dieses zweidimensionalen Bandes an – sagen wir, die wir uns das von der dritten Dimension aus ansehen und aus dieser Perspektive auf den Käfer blicken. Geht es uns Menschen auf der Erde mit unserer Position im Universum vielleicht ebenso? Sind wir mit dem Sonnensystem, das sich ja am Rand der Milchstraße befindet, vielleicht nicht in der Mitte, sondern irgendwo am Rand des Universums, das ganz woanders seine Mitte hat?

Auch ohne diese Spekulation befinden wir uns in der Mitte, denn seit dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren dehnt sich das Universum aus. Dieser Punkt des Beginns aber ist überall und nirgends, denn seitdem bewegt sich alles auseinander. Er ist also genau hier! Hier, wo ich gerade dies schreibe, und ebenso dort, wo du dies liest. Du bist in der Mitte, ich bin es, und ebenso der Mond, der Sirius, die Milchstraße und all die anderen Galaxien.

Das Herz

Zurück zur Erde, zu unseren Körpern und Seelen, zu unserer Psyche und unserem ›seelischen Herzen‹, das ja mit der Pumpe, die für unseren Blutkreislauf sorgt, nicht viel zu tun hat. Zigtausende von Dichtern und Barden haben seit Jahrtausenden das Herz besungen, und heute tun es auch die Therapeuten und spirituellen Lebensberater: Geh ins Herz! Dort findest du das Glück, die Liebe, die Freiheit, dich selbst! Nicht im Kopf, nicht in deinen Gedanken, sondern im Herz. Wo aber ist dieses Herz? Es ist die Mitte! Die Mitte von allem – von deiner und meiner Welt, von der Welt. Nichts anderes macht Sinn, wenn man die Seichtgebiete der allgegenwärtigen Lebensberatungen mit ihren Herz-Parolen einmal verlassen will.

Das Herz ist die Mitte unserer Welt und Wahrnehmung, die Mitte unserer Weltbilder, die Mitte in uns. Auch einige unserer Vorfahren in den großen Weltkulturen wussten das: In Indien nannten sie diese Mitte Manipura, das Powerchakra, im japanischen Zen und den Kampfkünsten das Hara, in China den Dantien – »Dan« bedeutet Elixier, »Tien« Feld, also sowas wie der Bereich des himmlischen Elixiers. Es ist der himmlisch-irdische Punkt, von dem aus wir wahrnehmen und handeln können, wenn wir unser Bewusstsein in die Mitte von dem lenken, was wir zu sein glauben, in die Mitte unseres Ich – vor allem in die Mitte des Körpers, mit dem wir uns in der Regel noch viel mehr identifizieren als mit allem anderen. Von dort aus zu fühlen, zu denken und zu handeln, das wäre echte Herzlichkeit und möge bitte nicht verwechselt werden mit dem gefühlsduseligen Begriff des Herzens in unseren Herzschmerzmedien und der heutigen spirituellen Boulevard-Literatur.

Neuronale Systeme

Wenn jeder von uns Menschen von seinem Herz aus handeln, fühlen und denken würde, von seiner jeweiligen Mitte aus, ergäbe sich das Bild eines Netzes, vielleicht so ähnlich wie das neuronale Netz unseres Nervensystems mit seinen über hundert Milliarden Neuronen. Oder auch wie das Internet, mit seinen Milliarden einzelner Adressen, die alle miteinander vernetzt sind. Die Neuronen sind durch Synapsen vernetzt, die Internetadressen durch Kabel oder drahtlos, die Gedanken durch den Austausch mit anderen Gedanken. Die dabei sich miteinander austauschenden (aus Gedanken aufgebauten) Identitäten sind durch die Fremd- und Selbstbilder vernetzt, die sie von sich und voneinander haben. In den sozialen Netzwerken geschieht das durch die publizierten Profile, aber auch ohne absichtlich gestaltete Profile stecken wir einander in geistige Schubladen und weisen uns so Identitäten zu, aufgrund derer wir dann handeln, Erwartungen und Enttäuschungen kreieren und diese aufgrund von Erfahrungen jeweils mehr oder weniger wieder korrigieren, die Selbstbilder ebenso wie die Fremdbilder.

Liebesbeziehungen

Was bedeutet nun in einem solchen Netzwerk von Identitäten die Liebesbeziehung? Sie ist ein soziales Kunstwerk, sagt die Liebesforscherin Dolores Richter in ihrem Buch »Die Liebe als soziales Kunstwerk«. Sie wird gestaltet aus zweien oder mehreren solcher Schubladen, Fächer, Herzen, Haras oder Neuronen mit ihren einander berührenden Synapsen, vor allem aber aus zweien solcher Identitäten, aus mir und dir, wenn wir beide uns miteinander verbinden. Wenn wir meine und deine Schublade zusammengetan haben und nun nicht einfach nur eine größere Schublade besitzen wollen, die wir dann zu zweit bewachen, so wie vorher unsere jeweiligen Einzel-Egos, dann brauchen wir als Paar (oder Achse zweier Freunde) eine Einbettung in ein noch größeres Kunstwerk, in die uns umgebende Gemeinschaft oder Gesellschaft, unseren Freundeskreis, unsere soziale Umgebung. Das wird erleichtert, wenn wir die Membrane unserer Identitäten – als Einzelne ebenso wie als Paar oder Freundschaftsbeziehung – ähnlich unseren Zellmembranen als semipermeabel verstehen, als teilweise durchlässig. Eine Zelle kann nicht bestehen, wenn sie nicht einiges aus ihrer Umgebung hindurchlässt, anderes nicht, ihre Membran wirkt als Filter. So können wir durch die richtigen Einstellungen unserer Filter unsere sozialen Beziehungen als Kunstwerke gestalten.

Liebe gibt es natürlich auch außerhalb solcher Strukturen, als Hinwendung, Zuwendung, Caritas und mystische Verbindung – hier habe ich nur versucht, die Liebe als Beziehung, das heißt als soziale Struktur im Rahmen eines holografischen Weltbildes verständlich zu machen.

Weltinnenpolitik

Ähnlich wie die Individuen sind auch die Städte, Staaten, Firmen und andere Organisationen der globalen Welt miteinander vernetzt – oder auch verstrickt. Schon längst gibt es auf der Welt keine Außenpolitik mehr, alles ist Weltinnenpolitik. Bleibt die Frage, wie gut wir Weltenbürger dieses Gebilde föderal und subsidiär (von unten nach oben nur so viel Macht abgebend wie für das Ganze nötig) organisieren. Eine Weltdemokratie gibt es noch nicht und auch kein weltweit geltendes Recht. Zwischen den Nationen herrscht heute noch das Recht des Stärkeren. Der scheinheilig-heuchlerisch die Demokratie promotende Westen fürchtet eine solche Demokratie (leider ohne diese Furcht zu thematisieren), weil dann ein Fünftel der Stimmen aus dem indischen Subkontinent käme und ein weiteres Fünftel aus China. Die jetzt noch sehr mächtigen USA würden dann weniger als 5 Prozent der Stimmen stellen und die EU ungefähr 7 Prozent.

Fakten und Fiktionen

Die Welt ist Fakt, die in ihnen agierenden Individuen und gesellschaftlichen Strukturen sind Fakten schaffende Fiktionen. Vielleicht so ähnlich wie bei einem Leuchtglobus, der ohne Licht die geografische Weltkarte zeigt, die physikalischen Fakten. Mit eingeschaltetem Licht zeigt er die Länder, die nur Fakten schaffende Fiktionen sind. In Wirklichkeit ist ja nicht Polen blau, Deutschland grün und Frankreich rot, so wie auf der politischen Weltkarte, und dazwischen gibt es auch keine schwarzen Linien, vielleicht nicht mal Zäune, sondern die Grenzen sind nur so real, wie die Menschen mit ihren Identitäten, ihren Selbst- und Fremdbildern sie aufrecht erhalten.

»Je mehr eine Kultur begreift, dass ihr aktuelles Weltbild eine Fiktion ist, desto höher ist ihr wissenschaftliches Niveau«, sagte Albert Einstein einst dazu. Statt »wissenschaftliches Niveau« könnten wir auch sagen: desto ausgeprägter ist auch ihr Wissen um die Fakten Fakt und Fiktion unterscheiden zu können hilft im Leben – in den Beziehungen und auch in der Politik. Wer Fakt und Fiktion gut unterscheiden kann, hat bessere Chancen, Krieg zu vermeiden und Frieden zu bewirken. Einem Rainer Maria Rilke würde ich hierbei bessere Chancen einräumen als einem Reichskanzler von Bethmann Hollweg.

Gekürzt aus Connection Spirit 11-12/2014. Das Heft ist erhältlich über www.connection.de.

Wolf Schneider, Jg. 1952. Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwissenschaften und Philosophie (1971-75) in München. 1975-77 in Asien. 1985 Gründung der Zeitschrift connection. Seit 2008 Theaterspiel & Kabarett. Kontakt: schneider@connection.de

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