Jeder Diekmann ein Voltaire …
Mit Trauerflor und schwarzem Anzug haken sich die Globaleliten zu Demonstrationsketten unter. Noch launiger als dieser an den neulinken Straßenkampf der 1970er Jahre erinnernde Auftritt ist das Setting: Die Regierungschefs kommen weit entfernt von der angeblich von ihnen angeführten Demonstration zusammen. Aufnahmen aus der Höhe zeigen die Staatsmänner auf menschenleeren, abgeriegelten Straßen, umzingelt von Bodyguards.
Man hat den Eindruck, die ganze Welt sei nur noch eine einzige Titanic-Aktion, überall erblüht die Satire: Journalisten, die noch in jeden Arsch gekrochen sind, in den zu kriechen sich lohnte, erdichten sich als Freiheitskämpfer, die die zarte Waffe der Kritik gegen den Terror der Feuerwaffen in Stellung bringen und dafür ihr Leben riskieren. Wie Religiösen und Pegidas ermöglicht auch ihnen das neue Szenario unverhofften Sinngewinn: Nach Paris erstrahlt selbst das Geschmiere für Springer und Bertelsmann in neuem Glanz: Wenn die Meinungsfreiheit unter Beschuss ist, steht dann nicht jedes religionskritische Blaba in aufklärerischer Tradition? Jeder Diekmann ein Voltaire …
Man muss dem französischen Faschisten Jean-Marie Le Pen fast dankbar sein, dass wenigstens er sich dieser neuen Sinngemeinschaft verweigert: »Ich werde nicht kämpfen, um den Geist von Charlie zu verteidigen, der ein anarchisch-trotzkistischer Geist ist, der die politische Moral zersetzt.« Ganz so schlecht, wie französische Trotzkisten (die dieser Tage auf rassistische Stereotype in der »Charlie Hebdo« verwiesen) behaupteten, kann die Satirezeitung also nicht gewesen sein.
Doch was könnte man in Anbetracht dieser Kakophonie, mit der die Irren verschiedenster Couleur dem Sinnverlust im Spätkapitalismus (wie Slavoj Žižek sagen würde) zu entfliehen versuchen, Richtiges sagen? Man könnte z.B. festhalten, dass es egal ist, ob »Charlie Hebdos« Witze gut oder schlecht, ausgewogen laizistisch oder doch eher islamophob waren. Auch schlechte Satiriker sollten nicht hingerichtet werden – schon gar nicht von religiösen Witzfiguren.
Man könnte zweitens darauf hinweisen, dass das Gerede von den »westlichen Werten« nicht richtiger wird, wenn man es endlos wiederholt. Die Geschichte des Westens bleibt auch nach Paris eine Geschichte von kolonialer Plünderung und unbegrenzter Inwertsetzung: eine Verbindung von ökonomischer Rationalität und religiösem Mythos, wie sich bei den Aufklärern Horkheimer/Adorno nachlesen ließe – würde man noch lesen. Kritik und Aufklärung haben kein geografisches Zuhause – so sehr sich das weiße Europa dies auch einzureden versucht. Die besten Denker waren fast immer Exilierte.
Drittens schließlich wäre es hilfreich, sich – anstatt in den Betroffenheits-Chor einzustimmen – zu überlegen, um was für eine Bewegung es sich beim islamischen Fundamentalismus eigentlich handelt. In Ermangelung einer klaren Definition wird der Begriff des Islamofaschismus auch unter Linken immer populärer. Das scheint auf der einen Seite ganz plausibel: Hinsichtlich Todeskult und Totalitätsanspruch trägt der Fundamentalismus faschistoide Züge. Und auch seinem Siegeszug geht, wie dem des Faschismus, das Scheitern revolutionärer Bewegungen voraus. Die irren, verschwörungstheoretischen Erklärungen für den täglichen Irrsinn globaler Inwertsetzung brechen sich dann ihre Bahn, wenn die emanzipatorischen Bewegungen gegen den Schrecken globaler ökonomischer Herrschaft politisch gescheitert sind.
Und trotzdem ist der Begriff des Islamofaschismus Quark. Hannah Arendt hat Faschismus einst als einen Pakt von Mob und Eliten beschrieben, der die Gesellschaft mit Totalitätsanspruch durchdringt. Bis hierhin könnte man das vielleicht auch für manche islamistische Bewegung noch behaupten: Dass die prowestlichen Golfdespotien, allen voran der dekadente saudische Öl-Adel, militantsalafistische Gruppen finanziert, wird mittlerweile auch von den NATO-Staaten erkannt und halbherzig kritisiert. Doch Hannah Arendt hat den Faschismus auch mit zwei spezifischen Erscheinungen der bürgerlichen Moderne erklärt: Rassismus und Imperialismus. Er sei, so Arendt, eine verspätete Wiederholung kolonialer Eroberungszüge, die wegen der Begrenztheit des geografischen Raums besonders aggressiv daherkomme. Das faschistische, ultrarassistische Projekt ist bei Arendt deshalb Ausdruck von kapitalistischer Krise und Imperialismus. Und zumindest, was diesen Aspekt angeht, teilt der islamische Fundamentalismus mit dem Faschismus weniger als der bürgerliche Liberalismus, den in diesen Tagen auch Linke so begeistert zu verteidigen müssen glauben. Der Fundamentalismus ist eben gerade kein ökonomisches Eroberungsprojekt, sondern eher eine irre Antwort auf dieses.
Durchgeknallte Zeiten präsentieren sich verzweifelt – so verrückt, dass man nur noch die Wahl zwischen unterschiedlichen Formen des Schwachsinns zu haben scheint. Aber wahrscheinlich ist auch diese Wahrnehmung nur Teil der allgemeinen Hysterie. Niemand zwingt uns, in die falschen Welterklärungsideologien – religiös, rassistisch, bürgerlich-imperial-liberal – mit einzustimmen. Wenn es so etwas wie eine Linie der Aufklärung gibt, dann die der linken Kritik von Religion und kapitalistischer Herrschaft.