Kleinrechnerei als Großbetrug, Teil 2/2
Der Regelsatz für Hartz IV seit Anfang 2011 verstößt vielfach gegen das Grundgesetz. Wie hätte ein Regelsatz auszusehen, der die Würde des Menschen ernstnimmt? (2. Teil des Artikels von Holdger Platta)
Schicken wir voraus: alle Beträge des Regelsatzes sind von staatlicher Seite aus bislang nach der sogenannten „Statistikmethode“ ermittelt worden. Das heißt, mithilfe entsprechenden Zahlenmaterials, das vom Statistischen Bundesamt erhoben worden ist, und zwar mithilfe der sogenannten „EVS“, der „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“. Folglich hat man – mehr oder minder repräsentativ – überprüft, wieviel die (erwachsenen) Bürgerinnen und Bürger pro Monat für welche Waren oder Dienstleistungen auszugeben pflegen und wieviel Einkommen dafür zur Verfügung steht. Wichtig dabei: Dieses geschah in der sogenannten „Referenzgruppe“, bei jenen Menschen also, die in der Einkommenshierarchie ganz unten angesiedelt sind. Für den Regelsatz, der ab dem 1. Januar 2005 bis zum „neuen“ Regelsatz ab 1. Januar 2011 gültig war, griff man zu diesem Zweck auf das entsprechende Datenmaterial aus dem untersten „Bevölkerungsquintil“ zurück, auf die untersten 20 Prozent der Bevölkerung mithin, für den „neuen“ Regelsatz nur noch auf die untersten 15 Prozent aller erwachsenen BundesbürgerInnen.
Was man aus dieser Darstellung bereits erahnen kann, trifft selbstverständlich auch bei genauerer Analyse zu: diese sogenannte „Referenzgruppe“ war und ist selber schon arm, sie ist ganz überwiegend selber schon angewiesen auf staatliche „Stütze“ – egal, ob verdeckt oder nicht, unabhängig also davon, ob der jeweils betroffene Hilfsbedürftige diese Gelder in Anspruch nimmt oder nicht. Zwar behaupten die Vertreter dieser Menschenverelendungspolitik bis zum heutigen Tag das genaue Gegenteil, aber in Wahrheit verhält es sich so: Diese „Referenzgruppe“ bildet mit ihren Einkommensverhältnissen und ihrem Verbrauchsverhalten die Untergrenze des Existenzminimums nicht ab, sondern lebt größtenteils bereits selber unterhalb des Existenzminimums. Kurz: diese sogenannte „Statistikmethode“ ermittelt den Regelsatzbedarf genau nach jenem Zirkelschlussverfahren, das vom Bundesverfassungsgericht verboten worden ist. Die Ermittlung der Regelsatzhöhe mithilfe der „Statistikmethode“ ist folglich nicht verfassungskonform. Die verfassungswidrige Tatsache, daß Millionen von Menschen in der
Bundesrepublik unterhalb der Existenzminimumsgrenze leben, wird zur Quelle der Tatsache, dass dieser Zustand sogar noch ausgeweitet und zudem in Gesetze gegossen, also „legalisiert“ wird.
Die „Bundesarbeitsgemeinschaft “Prekäre Lebenslagen – Gegen Einkommensarmut und soziale Abgrenzung“ schreibt dazu unter anderem:
„Es zeigt sich, dass die Regelsatzbemessung nach der EVS von vornherein einen entscheidenden Konstruktionsfehler hat: Wenn man 25 Jahre lang eine Massenarbeitslosigkeit von mehr als 4 Mio. nicht bekämpft, sondern stattdessen den Erwerbslosen systematisch Jahr für Jahr die Leistungen kürzt, wenn man gleichzeitig einen Niedriglohnsektor schafft und mit Hartz IV systematisch ausweitet, wenn man in dieser Zeit an einem völlig überholten Schulsystem festhält, das systematisch Bildungschancen nach der sozialen Herkunft verteilt, wenn Kinder kaum eine Chance haben, diesen Teufelskreis sozial vererbter Ausgrenzung zu durchbrechen – wenn man also ein Vierteljahrhundert lang die Gesellschaft systematisch sozial, kulturell und politisch spaltet und eine wachsende Armutsbevölkerung produziert – dann kann die Bemessung des gesellschaftlichen Existenzminimums am Konsumverhalten dieser Armutsbevölkerung zu nichts anderem führen als zu weiterer Verarmung, weiterer Mangelernährung und weiterer Ausgrenzung. Das bedeutet: Wenn die untersten Schichten der Gesellschaft so verarmt sind, dass sie sich kein Obst und keine Bücher mehr leisten können, dann folgt nach diesem Modell daraus, dass Obst und Bücher nicht zum Existenzminimum gehören. Diese politische Willkür bei der Berechnung des Existenzminimums können und wollen wir uns nicht länger gefallen lassen.“
Ergänzend dazu: es verwundert daher nicht – dieser merkwürdigen Logik der „Statistikmethode“ wegen -, dass ‚konsequenterweise’ beim alten wie beim „neuen“ Regelsatz der Warenkorb Nummer 11 – „Bildung“ nämlich – überhaupt nicht für die Ermittlung dieser Hilfsbeträge berücksichtigt worden ist, und dieses, obwohl wieder und wieder, gerade auch von den Hartz-IV-Apologeten, bei den diversen Talkshows die Bedeutsamkeit der „Bildung“ beschworen wird, um herauskommen zu können aus den Elendsregionen von Hartz IV.
Gleichwohl: stellt das zitierte Statement der Betroffenen nur eine parteiische Überreaktion dar, behauptet diese „Arbeitsgemeinschaft“ etwas, das mit den Fakten nicht übereinstimmt?
Nun, mit deutlichem Zahlenmaterial hat das regierungsnahe (!) „Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)“ diese Analyse bestätigt. Hier ein aus Auszug aus seiner Expertise, erstellt im Jahre 2008:
„Jeweils 6-8 % der ALG-II-Bezieher berichten, dass sie sich keine warme Mahlzeit pro Tag leisten können, dass die Wände in ihren Wohnungen feucht sind, dass sie Probleme mit der pünktlichen Bezahlung der Nebenkosten haben oder dass sie rezeptfreie Medikamente nicht bezahlen können. Sogar 14 % verfügen über nicht ausreichend Zimmer in der Wohnung und knapp 17 % der Leistungsempfänger können sich keine angemessene Winterkleidung leisten. <…> Blickt man allerdings über den Bereich der elementaren Bedürfnisse hinaus, zeigen sich größere Versorgungsdefizite. Am niedrigsten fällt das Versorgungsniveau der Leistungsempfänger bei den finanziellen Möglichkeiten und der sozialen Teilhabe aus <…>. Etwa drei Viertel der ALG-II-Empfänger können es sich nicht leisten, alte aber funktionstüchtige Möbel zu ersetzen oder einmal im Monat ins Restaurant zu gehen. Und jeweils um die vier von fünf Leistungsempfängern geben an, dass sie sich keinen jährlichen Urlaub leisten oder keinen festen Geldbetrag pro Monat sparen können. Immerhin noch rund jeder Zweite kann weder das Geld für medizinische Zusatzleistungen aufbringen, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, noch unerwartet auftretende Ausgaben schultern. Ähnliches gilt für Kino- oder Konzertbesuche oder für das Einladen von Freunden.“
Noch einmal sei an die entsprechenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 erinnert:
„Der Gesetzgeber bleibt <…> verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter dem Niveau der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch inklusive der Leistungen für Unterkunft und Heizung liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden.“
Kurz: das Bundesverfassungsgerichtet machte seine ‚Genehmigung’ der „Statistikmethode“ von der Tatsache abhängig, dass die auszuwertende „Referenzgruppe“ mit ihrem Einkommen, so wörtlich, „zuverlässig über der Sozialhilfeschwelle“ liegt.
Um es deutlich zu sagen: das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat diese Vorgabe des obersten deutschen Gerichtes schlicht ignoriert und damit die Datenbasis zur Ermittlung der Regelleistung nachweisbar verfälscht. Und dieses angesichts von fast 6 Millionen verdeckten Armen in der Bundesrepublik. Die Regelleistung, die für 2011 festgelegt worden ist – 368 Euro plus 8 Euro für Warmwasserkosten, die seither nicht mehr in der Regelleistung enthalten sind, sondern den Hilfebedürftigen über den zweiten Etatposten für sie, über die sogenannten „KdU“, die „Kosten der Unterkunft“, zugestanden werden, diese Regelleistung liegt deswegen auch unterhalb aller Berechnungen, die von anderen Institutionen, Organisationen und Personen vorgenommen worden sind:
• Die Wirtschaftswissenschaftlerin Irene Becker ermittelte zum Beispiel im Auftrag der Diakonie Mitteldeutschland für 2008 einen Mindestregelsatz von 480,45 €;
• der Hans-Böckler-Stiftung zufolge hätte der Regelsatz bereits 2008 521 Euro betragen müssen;
• Katja Kipping, Bundestagsmitglied der LINKEN, errechnete für 2010 einen Mindestregelsatz von 529 Euro pro Monat;
• und Rüdiger Böker, nichts weniger als der Sachverständige für das Bundesverfassungsgericht für dessen Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010, bezifferte den monatlichen Regelsatznettobedarf mit 564,90 €.
Wichtig dabei: alle diese ExpertInnen gingen noch vom EVS-Modell aus, alle hatten auch noch das unterste Bevölkerungsfünftel als Referenzgruppe für die eigenen Berechnungen zugrundegelegt. Zu Recht wurde deshalb die Expertise von Irene Becker von deren Auftraggeberin, der Diakonie Brandenburg, sogar kritisiert:
„In dieser Variante
Und Johannes Münder, der für den Deutschen Anwaltsverein eine Expertise zum „neuen“ Regelsatz verfertigt hat, stellte fest, dass die Bundesregierung für die von ihr vorgenommenen Abschläge beziehungsweise Nichtanerkennung von Ausgabepositionen keine verfassungskonformen Begründungen geliefert hat. Konkret: warum soll es Hilfebedürftigen verwehrt sein, Kleidung chemisch reinigen zu lassen, Schnittblumen (für Besuche zum Beispiel) zu kaufen oder selber Zimmerpflanzen besitzen zu dürfen? Wieso stellen Haustiere, Hausrats- und Haftpflichtversicherungen Luxusansprüche dar, weshalb sind medizinische Zuzahlungen inklusive Praxisgebühr nicht regelsatzrelevant?
Exkurs: Das Dilemma der Durchschnittswerte
Kurz nur erläutert werden soll eine andere Problematik bei der Festsetzung des Regelsatzes: Es ist die „Rasenmähermethode“ als vermeintliches Gerechtigkeitsprinzip. An einem Beispiel illustriert:
In den Regelsatz eingerechnet ist mit fixem Betrag die Ausgabenhöhe der Hilfebedürftigen für den Straßenverkehr (egal, ob diese Kosten durch Nutzung eines eigenen PKWs oder des ÖPNV entstehen): 20,42 Euro. Lassen wir den Umstand beiseite, dass für die Bus-Monatskarte in Göttingen zum Beispiel 35,- Euro bezahlt werden müssen, in Dresden 42,50 Euro und im Landkreis Northeim fast 100,- Euro. Allein dieses schon problematisch genug. Entscheidender ist, da als Systemfehler zu werten, die Festsetzung eines Mittelwertes für diesen Kostenpunkt (wie auch für andere Kosten!) überhaupt, und zwar, wie bereits dargelegt, mithilfe der „Statistikmethode“, errechnet aus dem Verbraucherverhalten innerhalb der sogenannten „Referenzgruppe“ insgesamt.
Einbezogen werden nämlich bei diesem Punkt „selbstverständlich“ auch jene Personen, die auf Verkehrsmittelnutzung – gleich, welcher Art – gar nicht angewiesen sind –, mit der zwangsläufigen Folge natürlich, dass der Regelbetrag für diese Kosten nach unten gedrückt wird. Wenn also drei BusbenutzerInnen zusammen 180 Euro monatlich für diesen Bedarf ausgeben müssen, eine vierte Person aber gar nichts, so stehen jeder und jedem nur noch 45 Euro pro
Monat zur Verfügung. Heißt: drei von vier Hilfebedürftigen bekommen regelmäßig 15 Euro weniger, als sie für diesen Zweck monatlich ausgeben müssen, mit der Folge permanenter Unterdeckung des Bedarfs in diesem Kostenbereich (dabei soll nicht verschwiegen werden, dass der Nichtnutzer eines Busses oder PKWs sozusagen 45 Euro zuviel bekommt!). Es erweist sich als ein Stück aus dem Tollhaus, wenn man über diesen Zusammenhang einmal etwas gründlicher nachdenkt: Diese Berechnungsmethode bedeutet nämlich:
Weil ein durch seine Wohnlage bevorzugter ALG-II-Bezieher keine Verkehrsausgaben hat, geraten die drei anderen in die Situation einer permanenten Unterfinanzierung hinein. Weil’s dem einen bei diesem Punkt „gut geht“ – ihm steht der „überzählige“ Betrag zur freien Verfügung für andere Zwecke -, geht’s den anderen drei Hilfebedürftigen prinzipiell (beziehungsweise systembedingt dank dieser Rechenmethode bei der Festlegung des Regelsatzes) bei diesem Punkt schlecht. Das ist Logik nach Schildbürgerart, „Gerechtigkeit“, die systematisch Ungerechtigkeit produziert und zusätzliche Finanzknappheit für die anderen Betroffenen schafft.
Wer nun glaubt, diese Unterversorgung oder Ungerechtigkeit wären aus der Welt geschafft worden durch den Leitsatz IV des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar 2010 – durch die Verpflichtung der Behörden nämlich, solche Sonderbedarfe im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit mithilfe von Sonderaufschlägen auf den Regelsatz auszugleichen -, irrt! Bisher liegt kein entsprechendes höchstrichterliches und mithin rechtskräftiges Urteil vor, das diese Sonderzahlungen abgesegnet hätte, und dies, obwohl bereits viele Hilfsbedürftige wegen dieser systematische Benachteiligung und Unterfinanzierung vor Gericht gegangen sind. Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Das Fazit zur „Statistikmethode“ mit all ihren Tücken lautet jedenfalls:
Die Menschen, die mit derart errechneten Sozialleistungen zurechtkommen müssen, leben de facto unterhalb des Existenzminimums. Ein verfassungswidriger Dauerzustand, der bislang nicht einmal groß diskutiert worden ist!
Ermittlung des Grundbedarfs mithilfe der „Methode Warenkorb“
Wegen all dieser Ungereimtheiten hat die „Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Hartz IV zur Interessenvertretung der Erwerbslosen und prekär Beschäftigten“ im Frühjahr 2012 eine Studie vorgelegt, in der ein Regelsatz errechnet worden ist, der tatsächlich imstande wäre, das vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 dreifach definierte Existenzminimum abzusichern: die physische Existenz, die soziokulturelle und politische Teilhabe sowie die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Arbeitsgemeinschaft beruft sich dabei unter anderem auf die politische Konvention, die vom Europäischen Parlament im Jahre 2008 verabschiedet worden ist – nebenbei, mit Zustimmung aller deutschen Parlamentarier aus den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, der Partei DIE LINKE, der SPD sowie – man höre und staune – sogar einer Mehrheit aus den Reihen der CDU/CSU.
Kernaussagen dieses Parlamentsbeschlusses unter anderem (sie müßten eigentlich auch den ‚europäischen’ Griechenland-, Spanien- und Portugalpolitikern in den Ohren klingeln):
• Das sogenannte „Haushaltsnettoäquivalenteinkommen“ darf in keiner Nation um mehr als 40 Prozentpunkte unterschritten werden; diese sogenannte „Armutsgrenze“ ist der unterste annehmbare Lebensstandard;
• „Das Europäische Parlament <...> stimmt der Kommission zu, dass die Sozialhilfeniveaus in den meisten Mitgliedsstaaten bereits unterhalb der Armutsschwelle liegen <…>“;
• Ein „angemessenes Mindesteinkommen“ ist „unverzichtbarer Bestandteil für ein würdevolles Leben der Menschen <…>“ und Voraussetzung für eine gesellschaftliche Teilhabe, „dass Menschen ihr Potential voll entfalten und alle an der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft mitwirken können“;
• das Europäische Parlament bekräftigte dabei „seine Forderung an die Mitgliedsstaaten, dieser Lage <= einem Leben unterhalb der Armutsgrenze. HP> möglichst rasch abzuhelfen“;
• schließlich wurde in derselben Resolution des Europäischen Parlaments der zuständigen Kommission vorgeschlagen, „eine gemeinsame Methode für die Berechnung des Existenzminimums und der Lebenshaltungskosten (Korb von Waren und
Dienstleistungen) einzuführen, um <…> ein Kriterium für das unabdingbare sozialpolitische Eingreifen festzulegen“ …
• kurz, die Warenkorb-, nicht die Statistikmethode!
Auf der Basis dieser „Warenkorbmethode“ wurden mittlerweile auch zahlreiche – wirklich – neue Regelsatzbeträge errechnet, Regelsatzbeträge, die wirklich geeignet wären, das dreifach definierte Existenzminimum der Menschen in Deutschland sicherzustellen. Kurz gefasst, wird mit dieser Methode nicht irgendeine – mehr oder minder willkürlich bestimmte – „Referenzgruppe“ mit deren Ausgabeverhalten für die eigenen Berechnungen zugrundegelegt, sondern es wird ein imaginärer „Warenkorb“ mit allen für die Existenz- und (Mindest-)Teilhabesicherung einer erwachsenen Person als notwendig erachteten Gütern, Dienstleistungen und Teilhabeangeboten gefüllt (siehe dazu auch das LINKEn-Papier vom Frühjahr 2012!).
Aus der Addition der Kosten für diese Verbrauchsgüter, Dienstleistungen und Teilhabeangeboten ergibt sich dann die Höhe des notwendigen Mindestnettoeinkommens, das zur Sicherung des Existenzminimums nicht unterschritten werden darf – ein Verfahren, dem ausdrücklich auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010
zugestimmt hat.
Und was kommt bei Anwendung dieser – erheblich realistischeren – „Warenkorbmethode“ an Regelsatzbeträgen heraus?
• BAG-SHI – die „Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen“ errechnete bereits 2006 ein „Existenzgeld“ von 800 Euro plus Wohngeld von bundesdurchschnittlich 260 Euro, insgesamt also 1.060 Euro netto pro Monat (= netto: ohne Sozialversicherungsbeiträge);
• Lutz Hausstein, Volkswirtschaftler aus Leipzig, kam 2011/2012 auf einen Regelsatzbetrag von netto 697,45 Euro pro Monat. Das ergäbe mit einem angemessenen Betrag für Kosten der Unterkunft (KdU) (Kaltmiete plus Heizung) in der Höhe von durchschnittlich 443 Euro einen Gesamtbetrag von ca. 1.140 Euro;
• Brigitte Vallenthin, freiberufliche Journalistin aus Wiesbaden und seit Jahren Aktivistin gegen Hartz IV, ermittelte für das Jahr 2007 einen Bedarf von 674,23 Euro netto/monatlich, was mit den genannten 443 Euro für Warmmiete einen Gesamtbetrag von 1.117 Euro ergäbe;
• die AutorInnen schließlich der LINKEn-Studie aus dem Frühjahr 2012 haben einen Regelsatzmindestbetrag von 618 Euro netto/Monat errechnet, was für 2011 – inklusive der KdU sowie unter Berücksichtigung der Preissteigerungsraten – einem Gesamtbetrag von 1.080 Euro entsprochen hätte und im Jahre 2013 voraussichtlich auf 1.090 Euro ansteigen würde („konservativ“ ermittelt).
Nochmal zum Vergleich: die tatsächlichen „Transferleistung“ heute, errechnet nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, liegt gerademal durchschnittlich bei 668 Euro, weit, weit unterhalb der Armutsgrenze, weit auch unter dem Existenzminimum – und meilenweit entfernt von den oben mitgeteilten Transferbeträgen.
Man darf es wohl merkwürdig nennen, dass – mit Ausnahme der LINKEn – Parteien wie die SPD und die Grünen einstimmig, CDU/CSU immerhin mehrheitlich im Europäischen Parlament einer Sozialpolitik zugestimmt haben, die sie im eigenen Land Tag für Tag mit Füßen treten – und damit die Menschen, die Opfer dieser Doppelpolitik sind. Man darf es für merkwürdig halten, dass draußen, im ‚fernen’ Brüssel, dieselben Parteien für ein humanes
Sozialprogramm stimmen, das sie dann in der Bundesrepublik, im eigenen Land, umsetzen als brutales Menschenverelendungsprogramm.
Man will es kaum glauben, aber es ist so: Mag das Europäische Parlament in Brüssel in Sachen Sozialpolitik ein noch so warmherziges Programm beschlossen haben, wir daheim leben nach wie vor in einem „kaltes Land“.