Orwell 2.0: Krieg (gegen Erwerbslose) ist Frieden

 In Politik (Inland)

WarisPeaceEingeweihten – und vor allem Betroffenen – ist Ellen Vaudlet schon seit längerem keine Unbekannte mehr. Als aktive Buddhistin – jawohl: auch dieses gibt’s, allen pauschalisierenden Besserbescheidwissern in Sachen Religion und vermeintlicher (!) Esoterik zum Trotz! – kämpft sie seit Jahren für Menschen, die in die niederdrückenden Hartz-IV-Regionen abgedrängt worden sind, und zwar direkt an der Behördenfront (vor allem in der Region Frankfurt am Main und Offenbach). Sie begleitet die Hilfsbedürftigen bei deren Gängen zum Amt, sie schreibt Briefe für sie, berät sie mit großer Kompetenz und steht ihnen wieder und wieder auch seelisch zur Seite. Im Internet betreibt sie die immer wieder lesenswerte Website www.erbendertara.wordpress.com, benannt nach „Tara“, der – mal ganz abgekürzt formuliert – indischen Göttin der Empathiefähigkeit. Wo sich manche MitstreiterInnen allzu ausschließlich in schärfster Kapitalismuskritik ergehen – und lediglich diese Ausschließlichkeit ist zu kritisieren, nicht die dringendst erforderlich Kapitalismuskritik –, da möchte Ellen Vaudlet auch positiv wirken, auch konstruktiv tätig sein. Und das ist sie in einem Ausmaß, dass selbst ihre Kräfte manchmal schon zu versagen drohen. Nachfolgend der neueste Artikel, den sie auf ihre Website gestellt hat. Ein weiteres Mal zeigt sich, auf welche Menschenverrohung man heutzutage auf den vormaligen Sozialbehörden stößt, auf welches Ausmaß an menschenfeindlichen Schikanen und üblen Bürokratentricks (Holdger Platta).

MainArbeit – Was haben “Beratungsunfähigkeitsbescheinigung” und George Orwell miteinander gemein? Nun, auf den ersten Blick eher – nichts. Auf den zweiten Blick hingegen …

Kurze Vorgeschichte: Ein Leistungsberechtigter (= euphemistisch: Kunde) der MainArbeit erhält eine Vorladung (= euphemistisch: Einladung) von seinem Arbeitsvermittler. Der Betroffene ist gesundheitlich nicht auf der Höhe, eine endgültige Diagnose steht noch aus. Fachärzte und Kliniken haben bekanntermaßen häufig sehr lange Wartezeiten. Die, diagnostisch noch ungeklärten, gesundheitlichen Einschränkungen wurden “der MainArbeit” so auch mitgeteilt. Zwar besteht hinsichtlich der weiteren, beruflichen Eingliederung dem Grunde nach dringender Gesprächsbedarf, jedoch ist es ohne ein abschließend festgestelltes Leistungsbild völlig sinnfrei, bereits jetzt über die – konkret vorhandenen – Zukunftspläne des Betroffenen zu diskutieren.

Exkurs Orwell Teil 1: “Krieg ist Frieden”

In Orwells dystopischem Roman “1984″ zeigte der Autor durchgängig auf, wie manipulativ die Anwendung von Worten sein kann. Wie genial eine Gehirnwäsche funktioniert, wenn Worte in ihrer Bedeutung umgekehrt werden und wie schnell Menschen diese völlig absurde Umkehrung für sich annehmen. Da gibt es im Roman beispielsweise das Propagandaministerium. Staatstragende Propaganda besteht in den aller-allermeisten Fällen aus Lügen. In Orwells Roman ist dies zu 100 % so. Und wie heißt da das Ministerium? Es nennt sich “Mini-Wahr”, die Abkürzung von “Ministerium für Wahrheit”.

Die Macht der Worte kennen natürlich auch die Strategen, welche in Wahrheit (nein, der Peter Hartz und der Kanzler der Bosse waren es seinerzeit nicht wirklich) für das unsägliche SGB2 verantwortlich zeichnen. Und so, wie es Orwell damals schrieb, so funktioniert Gehirnwäsche in der Realität noch heute: Um Akzeptanz in der Bevölkerung zu schaffen, müssen Negativbegriffe zunächst vermieden und durch positiv klingende Termini ersetzt werden. So wurde im Roman ein Lügenministerium zum Wahrheitsverkünder, und in der jetzigen, realen Welt ist es augenscheinlich genau so: Eine Vorladung benennt man jetzt Einladung. Ein erwerbsloser Leistungsbezieher wird zum Kunden usw. usw. usw.

Zurück zur “Beratungsunfähigkeitsbescheinigung”

Der zuvor erwähnte “Kunde” erhielt also eine “Einladung”, so weit, so “gut”. Im Rahmen meiner Bevollmächtigung durfte ich diese einsehen, und mir fiel ein Textbaustein auf, den ich SO bislang noch nie gesehen habe. Es wurde darauf hingewiesen, dass eine normale (und vom Gesetzgeber als ausreichend befundene) Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht genügen würde, sollte krankheitsbedingt der Termin nicht wahrgenommen werden können. Es wurde zudem eine Beratungsunfähigkeitsbescheinigung (nachfolgend BUA) eingefordert. Ohne jetzt auf juristische/prozessuale Feinheiten einzugehen (derart Atteste mit beliebig vielen, unterschiedlichen Fantasienamen werden seitens vieler Jobcenter eingefordert, seit das Bundessozialgericht 2010 in einem (!) sehr speziellen Einzelfall urteilte, dass die Beibringung eines solchen Zusatzattestes nicht immer unzumutbar sei), ist nachlesbar: Der Gesetzgeber sieht grundsätzlich keine “Sonderbescheinigungen” zur Glaubhaftmachung einer Arbeitsunfähigkeit vor, punktum!

Zudem ist die so gerne vorgenommene Bezugnahme auf dieses eine (!) Urteil aus 2010 insofern bereits längst überholt, als sich die Gesetzeslage in 2011 geändert hat. Die Jobcenter haben seitdem die nunmehr gesetzlich verankerte Möglichkeit, wie sie Arbeitgeber seit “eh und je” schon hatten: Sollten Zweifel an einer “Krankschreibung” bestehen, so kann das Jobcenter gem. § 56 SGB 2 unter Bezugnahme auf § 275 SGB 5 die Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit durch die Einschaltung des MDK (medizinischer Dienst der Krankenkassen) einleiten. Ausführlich beschrieben wird das einzuhaltende Procedere auch in den Fachlichen Hinweisen der BA -> FH-56—20.03.2013. Die “Alten” unter uns kennen derartige Überprüfungen übrigens noch unter dem Begriff “Vorstellen bei dem Vertrauensarzt”.

L’État, c’est moi!

Dieser Leitsatz des Absolutismus – Der Staat bin ich! – lässt sich für die Führungsspitze der MainArbeit problemlos umbenennen in: Das Sozialgesetzbuch bin ich! Vielleicht könnte man die permanenten Versuche, eine Offenbacher “Spezialgesetzgebung nach Gutsherrenart” innerhalb des bestehenden SGB 2 zu etablieren, auch als angehende “Lex Schulze-Boeing” bezeichnen. Anders ist nicht zu erklären, dass mein Antrag auf Auskunft, welchen ich für den betroffenen “Kunden” verfasste und in dem ich u.a. nach der Rechtsgrundlage für die Einforderung einer Fantasiebescheinigung fragte, zwar wortreich beantwortet wurde, eine Rechtsgrundlage aber nirgends aufgeführt wurde. Wie auch?

Exkurs Orwell Teil 2: “Alle Tiere sind gleich”

In Orwells Roman “Farm der Tiere” wurde zutreffend festgestellt, dass zwar alle Tiere gleich sind, einige aber dennoch gleicher. In totalitären Machtgefügen ist eine solche Unterscheidung normal, in sog. demokratischen Verhältnissen leider auch. Und in der MainArbeit? Auch dort dürfen die Berater offenbar frei entscheiden, von welchem “Kunden” sie im Krankheitsfall eine Fantasiebescheinigung zusätzlich zur regulären AUB anfordern, oder eben nicht. Gleiche “Kunden”, gleichere “Kunden”?

Der Textbaustein “Beratungsunfähigkeitsattest erforderlich, sonst ggfs. Sanktion bei Nichterscheinen zum Termin” ist nämlich nicht in der ansonsten rechtskonformen und fixierten Rechtsfolgenbelehrung (= RFB, liegt jeder Einladung bei) verankert. Gäbe es eine glasklare gesetzliche Grundlage, dann wäre die MainArbeit gewiss das erste Jobcenter bundesweit, welches bei jeder Einladung diesen Textbaustein in die übliche RFB aufnimmt. Da ich zudem, wie geschrieben, diese Einforderung das erste Mal gelesen habe (und ich habe wahrlich schon genügend Vorladungen gesehen), liegt es auf der Hand, dass die Entscheidung des “ob oder ob nicht” den Beratern obliegt.

Ein weiteres Indiz hierfür ist, dass, gäbe es eine Rechtsgrundlage für eine solche Forderung, diese zu 100 % auch genutzt werden müsste. Angeordnet mittels verbindlicher Dienstanweisung. Denn: Einen Sanktionstatbestand (und die damit verbundene Einsparung von Geld) nicht zu nutzen, käme auch Geldverschwendung gleich. Das aber könnte, dürfte und wollte sich gerade das Jobcenter einer solch hochverschuldeten Stadt wie Offenbach gewiss nicht erlauben.

Die Grenze zwischen Willkür und Ermessen – hat offensichtlich keinen Schlagbaum. Ich kann nur vermuten, dass es aber sogar in der MainArbeit Mitarbeiter gibt, die diese vermutlich erwünschte, aber eben nicht rechtsverbindlich festgelegte Sanktions-Chance nicht nutzen möchten. Genauso gut kann ich mir vorstellen, dass es Mitarbeiter gibt, die sogar mit großer Freude auf dieses Bestrafungselement setzen. Einmal mehr frage ich mich daher, warum es nicht möglich sein soll, für Rechtssicherheit beider “Schreibtischseiten” zu sorgen.

Wo ist also das Problem?

Selbst bei Anwendung von nur wenig Logik stellen sich mir zwei Fragen:
1) Ist die Anforderung juristisch nicht angreifbar, warum wird sie nicht generell eingesetzt? Da ist doch Sanktions- und damit Einsparpotential vorhanden, warum wird das nicht genutzt? Aus Mitgefühl etwa? Ok, diese Anmerkung ist eher rhetorischer Natur.
2) Steht die Anforderung hingegen auf “eher wackeligen, rechtlichen Füßen”, warum verzichtet man dann nicht grundsätzlich darauf und macht im Zweifelsfall von der Anwendung des § 56 SGB 2 Gebrauch? Warum wird den Mitarbeitern ein rechtlich (offenbar) unsicheres Instrument an die Hand gegeben? Warum leckt sich ein Rüde seine Hoden?
Antwort: Weil er es kann! Dieser – zugegeben ziemlich alberne – Spruch lässt sich einmal wieder 1:1 auf die MainArbeit umlegen. Die überwiegende Klientel der MainArbeit ist rechtlich wohl relativ “unbeleckt”. Die Angst vor Sanktionen ist groß, die Wehrhaftigkeit eher gering. Zusammengefasst also überwiegend Menschen, mit denen “man es machen kann”. Somit kann mit einem, nach Belieben eingesetzten, Textbaustein sowohl Einsparpotential generiert werden als auch Druck auf den erkrankten Leistungsberechtigten ausgeübt.

Quasi zwei wünschenswerte Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ich kann ja bislang nur vermuten, Aber, einmal ganz “naiv” gefragt: Hat irgendwer irgendetwas Verifizierbares anzubringen, das tauglich genug ist, um meine Vermutungen zu entkräften und meine Spekulationen endgültig zu beenden? Ja? Dann bitte ich freundlich um einen entsprechenden Kommentar. Bis dahin bleibt es hinsichtlich des “BUA” bei meiner Einschätzung, die man getrost auf nur ein umgangssprachliches Wort reduzieren kann: Dummfang!

Ich denke, es ist allerhöchste Zeit, sich um juristische Klärung zu bemühen…

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