Pathos und zeitkritische Genauigkeit.

 In Holdger Platta, Kultur
Die Kathedralen des Kapitalismus: Warenhäuser

Die Kathedralen des Kapitalismus: Warenhäuser

Holdger Platta setzt seine Auseinandersetzung mit dem zu Unrecht fast vergessenen expressionistischen und antifaschistischen Dichter Armin T. Wegner fort: Nachdem er in diesem Magazin zuerst das Leben des Dichters beleuchtet hatte und sich im zweiten Teil selbst auf Spurensuche in Wegners Heimat begeben hatte, widmet er sich nun intensiver dessen lyrischem Schaffen. Am Beispiel eines Gedichts wird deutlich, wie Konsum zur Ersatzreligion des Kapitalismus geworden ist – wohlgemerkt nicht heute, sondern schon vor fast 100 Jahren. Sehr erhellend diskutiert der Autor auch die Frage, ob sich Pathos und Intelligenz in einem Gedicht gegenseitig ausschließen müssen.

Kurz nur hatte ich in meinem Bericht über Armin T. Wegners Leben ein Problem angesprochen, das heutigen Leserinnen und Lesern den Zugang zu seiner Lyrik erschweren könnte: das expressionismus-typische Pathos seiner Gedichte. Und auch den gesellschaftskritischen Charakter seiner poetischen Werke hatte ich nur an einem einzigen Beispiel kurz dargestellt: am „Zug der Häuser“. Hier, in diesem abschließenden Teil, möchte ich beide Themen noch einmal aufgreifen, und zwar am Beispiel eines langen – hier vollständig zitierten – Gedichts aus Wegners zweitem Lyrikband „Das Antlitz der Städte“, der 1917 im Berliner Fleischel-Verlag erschien. Es handelt sich um das Langgedicht „Das Warenhaus“.

Die Wunder der Warenwelt

Wir blicken mit dem Autor a u f ein Gebäude und i n ein Gebäude hinein, das – dem Stil der Zeiten schon seit zwei, drei Jahrzehnten gemäß – architektonisch den großen französischen Sakralbauten nachempfunden war sowie dem Jugendstil: auf eine Stadt in der Stadt, auf einen Wald der Waren, auf eine Kathedrale des Kapitalismus. „Das Warenhaus“:

„Mit seinen Kuppeln, Toren und eisernen Bogen,
Die Pfeiler zu granitenen Fichten gereiht,
Mit seinen aufgerissenen Augen, die breit
Die Straße mit Licht überschütten, dem gewundenen Lauf
Seiner Treppen, funkelnd von Gold und Glanz überflogen:
Hebt sich das Haus bis weit in den Himmel hinauf.

Die niederen Dächer an seiner Seite geduckt,
Schwindsüchtige Wände, auf die es die plumpe Schulter zuckt,
Zwischen berstenden Mauern, über die kalt
Sein Schatten und seine Flamme fällt,
Hat es den Fuß mit Donner-Gewalt
In der Straßen keuchende Lunge gestellt.

Doch unter dem Glanze der steinernen Bäume,
Die sich rauschend bis unter die Dächer verzweigen,
Verstrickt in das Dickicht der endlosen Räume,
Wachsend die Ströme der Menschen steigen.
Durch kreisende Schleusen gezogen
Schluckt sein Atem das gewaltige Haus,
Menschen auf Menschen-Wogen,
Und speit sie zurück, auf die Straße hinaus.

In den gläsernen Schächten die fliegenden Stühle
Heben sich jäh empor aus dem schwarzen Gewühle,
Steigen und gleiten an zitternder Schnur,
Schwankend im Lichte
Wie die goldnen Gewichte
An einer rastlos laufenden Uhr.
Und über der Diele, die breit und gebogen
Sich dunkel ebnet in Schluchten, von Pfeilern zerrissen,
Zwischen Wänden, die ihre eigene Ferne nicht wissen,
Von kalten Sonnen lieblos belogen –
Erhebt sich strahlend der Wald der Dinge.

Die Dinge, die lichtheller Morgen umtagt,
Die nackt sich brüsten, schillernd und seiden,
Die die Wünsche der Menschen betasten, entkleiden,
Von dem lüsternen Schwarm ihrer Blicke benagt.
Die Dinge, die wie lebendige glühen,
Wandelnd und in einer Sänfte von Glas,
Die dunkel und ohne Maß
Sich in endloser Straße ziehen.
Durch die die Menschen vorübertreiben, ein Wind.
Gewänder, die wie Erhängte sind,
Kopflose Kleider, die Gebete stammeln,
Die Tische von Ungebornen belebt,
Und Stühle, die sich zu Völkern versammeln,
Und die Betten weiß und von Seide gewebt,
In denen tausend begehrliche Wünsche schlafen,
Doch kein Lebendiger lebt.

Von den ewigen Fernen der Erde trafen
Die Dinge in dieses Hauses dunkel zerwühltem Hafen
Wie Schiffe auf weiter Reise zusammen.
Die über die Flüsse Ägyptens schwammen,
Persische Teppiche, japanische Seide,
Irische Pelze, peruaner Geschmeide,
Die über die weglosen Meere kamen,
Der fremden Lande dunkles Gerät:
Sie alle sind, ein unfruchtbarer Samen,
Über die schwellende Diele des Hauses gesät.
Die Dinge zu Städten gebaut und Gassen,
Um deren Besitz sie morden und stehlen,
Um deren Glück sie einander hassen,
Millionen in Arbeit, in Wahnsinn sich quälen.

Die Dinge, in Glanz und Leuchten geschlagen,
Die jung sind und zart fühlen. Bald
in die tausend Stuben der Stadt getragen,
Werden sie alt:
Wenn sie im Dunkel und Elend des Alltags verblühen
Die Dinge,
Vor denen die Seelen der Menschen knieen!

Und stumm in dem verwunschenen Wald
Bewegt sich lautlos die Schar der Priesterinnen,
Die lächelnd den Götzen der Dinge bedienen,
Der sich im Finstern zeugend vermehrt.
Mit hungernden Brüsten und Liebe beschwert
Bewahren sie opfernd die Schätze im Haus,
Wenn durch der Hände gebleichtes Linnen
Ohn Ende die Wasser der Dinge rinnen,
Und bieten zum Kauf ihre Seele aus…

(…)
Bis das Licht erlischt und die Schatten schwer
Und dumpf in die hohlen Säle fallen;
Da heben im Dunkel die Dinge, entgeistert und leer,
Ihre toten Äste, in die mit gefalteter Schwinge
Die Schatten sich krallen.
Und mit den Augen, die stets voll kaltem Verlangen
Nach den eilenden Menschen der Straße fangen,
Die sich in jähem Entsetzen verdunkeln,
Und noch im Schlaf ohne Ruh
Starr in das nächtliche Leben der Städte funkeln,
Schließt sich das Haus wie das Herz einer Dirne zu.“

Zweifellos: auch in diesem Gedicht stoßen wir auf ein stilistisches Merkmal, das für manche von uns, die wir heute leben, zu einem „Problem“ geworden ist: auf P a t h o s! Abschließend also zur Ästhetik dieser Lyrik, zu ihrem Inhalt sowie zum Verhältnis von Emotionalität und Rationalität in der Literatur des Expressionismus! Denn, so vermute ich, diese Leidenschaftlichkeit der Diktion könnte eher Hürde denn Verständnishilfe sein; auch hier könnten die großen Worte – gleich, ob es Wendungen sind wie „Donner-Gewalt“, „Dickicht der endlosen Räume“, „der Menschen Wogen“ – sowie die „Musik“ dieses Gedichts, diese weitschwingend rhythmisierte Sprache, eher Abstand schaffen als Nähe. Für eine Zeit, da „Coolness“ zu einem Lobeswort geworden ist, für eine Zeit, da zumindest unter Kindern und Jugendlichen kein stärkeres Wort der Begeisterung zu existieren scheint als die Formel „echt cool“, ist dieses „Warenhaus“-Gedicht von Wegner natürlich vor allem eins: „very hot“! Es ist mithin das genaue Gegenteil von dem, was heute „angesagt“ ist oder „in“. Auf die Zeit, da es endlich wieder „out“ ist, unbedingt „in“ sein zu müssen, wird ja sicherlich noch eine ganze Zeit lang zu warten sein.

Nun, lassen wir beiseite, daß sich die Begeisterungsformel „echt cool“ – aufgrund der starken Emotionalität, mit der sie zumeist ausgesprochen wird! – eigentlich selber ad absurdum führt. Lassen wir auch beiseite, daß die Formel „echt cool“ im Grunde ein hölzernes Eisen darstellt, einen Widerspruch in sich selbst oder – wie die gebildete Philologen-Sprache zu formulieren pflegt – eine „contradictio in adiecto“ (einen Gegensatz zwischen Haupt- und Beiwort). Meine These jedenfalls ist: entweder ist ein Mensch „echt“, dann kann er schon prinzipiell nicht nur „cool“ sein, da er damit ganze emotionale Echtheitsbereiche seiner Persönlichkeit verdrängen müßte; oder ein Mensch ist „cool“, dann kann er aus eben diesem Grunde nicht „echt“ sein.

Lassen wir das alles also einmal außeracht, so bleibt – nach meinem Eindruck – dennoch oft ein Restverdacht übrig gegenüber einer Sprache, wie sie Armin T. Wegner hier spricht und mit ihm mehr oder minder der gesamte literarische Expressionismus: die Unterstellung nämlich, daß ein derart leidenschaftlicher Text niemals auch ein kluger Text sein könne oder einer kluger Text niemals auch ein leidenschaftlicher. Das Mißverständnis, das wir alle kennen, ist so verbreitet wie dumm: Wer verständig spricht, dem mangelt es grundsätzlich an Gefühl, er ist – um das Modewort zu bemühen – „verkopft“; wer hingegen mit starker Emotion redet, der redet meistens ohne Vernunft. Von der Fülle des Gefühls schließt man auf den Mangel an Verstand, von der Präsenz des Verstandes auf den Mangel an Gefühl. Kurz: entweder „Emotionalinski“, dann ein bißchen „bekloppt“, oder „Intelleller“, dann eben „verkopft“.

Ich behaupte nun: trotz aller Emotionalität ist in den Gedichten Armin T. Wegners von bloß emotionaler Drauflosschreiberei keine Spur, und nicht zuletzt Hans Magnus Enzensberger hat schon vor Jahrzehnten diese Unterstellung, Verfasser von Gedichten schrieben ausschließlich „aus dem Bauch heraus“, mit der Gegenfrage bedacht: „Wer sagt eigentlich, daß Lyriker immer blöde sein müssen?“

Armin T. Wegners Gedicht „Warenhaus“ jedenfalls ist nicht blöde, und auch der Autor Wegner war dieses nicht. Da uns aber Emotionalität und Pathos eines Textes gleichwohl dazu verleiten können, dessen Klugheit zu unterschätzen, seien deshalb an dieser Stelle wenigstens die folgenden Merkmale und Inhalte des Wegnerschen Warenhausgedichtes zum Beweis des Gegenteils benannt. Die einen Hinweise haben mit der i n h a l t l i c h e n Dimension dieses Gedichtes zu tun, die anderen Hinweise mit seiner F o r m.

Zur Klugheit dieser pathetischen Lyrik

Hören wir zunächst noch einmal in diese Lyrik hinein; da hieß es an einer Stelle:

„Von den ewigen Fernen der Erde trafen
Die Dinge in dieses Hauses dunkel zerwühlten Hafen
Wie Schiffe auf weiter Reise zusammen.
(…)
Persische Teppiche, japanische Seide,
Irische Pelze, peruaner Geschmeide…“

Der Berliner Germanist und Kulturwissenschaftler Klaus Strohmeyer hat diese Versammlung der Dinge aus aller Welt – in seinem Buch „Warenhäuser“, 1980 erschienen im Wagenbach-Verlag – als „Verheißung auf eine friedvolle internationale Gesellschaft“ interpretiert, als „brückenüberspannenden Internationalismus“, dessen Funktionieren eben genau dieses, nämlich: Frieden für den Welthandel, voraussetzt – zumindest suggeriert. Doch nicht erst wir, die wir mittlerweile allzuvertraut mit den Schattenseiten der „Globalisierung“ sind, wissen, wieviel an Elend und Krieg, wieviel an Verdurstenden und Hungertoten, mit dieser Friedensgesellschaft der Waren auf unseren Verkaufstischen verbunden ist: auch ein Armin T. Wegner, auch dieses Gedicht aus dem Veröffentlichungsjahr 1917, wußte es schon – und selbstverständlich weist auch der Berliner Wissenschaftler Strohmeyer bereits auf diese Tatsache hin. Die Welt der „Dinge, in Glanz und Leuchten geschlagen“ – so Armin T. Wegner in seinem Gedicht -, deren „Frontseite“ – so Klaus Strohmeyer aus Berlin – verbirgt nur oberflächlich ihre dunkle, ihre wahre Geschichte – ihre Warengeschichte, und diese Warengeschichte sieht, in den Worten des Wegner-Gedichtes, so aus:

„Die Dinge zu Städten gebaut und Gassen,
Um deren Besitz sie morden und stehlen,
Um deren Besitz sie einander hassen,
Millionen in Arbeit, in Wahnsinn sich quälen.“

Sieht so ein „dummes“ Gedicht aus? Ein Gedicht, das nur aus Pathos bestünde?

Und der zweite i n h a l t l i c h e Hinweis, der etwas von der Klugheit dieses Textes verraten könnte, hat mit einer anderen Aussage dieses Gedichtes zu tun: mit der Erkenntnis einer Tatsache, auf der Jahrzehnte später ein anderer Wissenschaftler eine ganze Theorie zur „Warenästhetik“ aufbauen sollte, nämlich der Berliner Sozialphilosoph Wolfgang Fritz Haug: es geht um den merkwürdigen Vorgang, daß die gekauften Waren sich oft zu ändern scheinen, wenn sie denn erstmal bei uns zuhause gelandet sind. Herausgerissen aus ihrem ästhetischen Zusammenhang, der im Kaufhaus fast den Charakter einer Theaterinszenierung für unsere Augen besitzt, verlieren die erworbenen Gegenstände bei uns daheim allzuschnell ihren von Wegner vielfach beschworenen „Glanz“: das Herrenoberhemd zum Beispiel, eingekauft bei Karstadt oder KadeWe, dort mit zig Nadeln und Klammern aufs verführerischste zusammengesteckt, in Form gehalten von unsichtbar-gräulicher Pappe, mit Glitzern versehen durchs Cellophanpapier, das als Glas noch so manchem matten Aquarell Feuer verleiht, dieses Herrenoberhemd hält in den eigenen vier Wänden sein Erlesenheitsversprechen nur in Ausnahmefällen ein. Überwiegend kommt das Auspacken der Waren zuhause einer Desillusionierung gleich. Oder denken wir an die Parfümerieabteilungen in diesen Warenhauspalästen und an die Verpackungsusancen für die Dinge dort: diese Abteilungen gleichen mit ihrem Gold- und Silberglanz geradezu Juweliergeschäften, und die Verpackungen der Riechwasser, Hautcrémes und Seifen scheinen ihre Ästhetik von Rokoko und Barock übernommen zu haben: auch hier sehr viel Gold auf weißem Grund, Farben wie von der Palette eines Fragonard oder Tiepolo, Firmen-Symbole und Schriftgestaltung als weißes Relief, das den Stukkaturen in den Loire-Schlössern gleicht. Und das Grünspangrün bei den Verpackungen von Produkten aus dem Hause „4711“ erinnert vielleicht ebenfalls nicht ohne Grund an die Kupferbedachung von stattlichen Bürgerhäusern und Kirchen aus der Barock- und Rokokozeit. Kostbarkeitsversprechungen also, wohin man blickt – fast so, als ob man mit diesen Produkten zur Selbstveredelung zugleich auch ganz echten eigenen Adel einkaufen könnte. – Nun, Wolfgang Fritz Haug, hat diese Suggestionen der Warenästhetik folgendermaßen beschrieben, ich zitiere dessen Äußerungen aus meinem Buch „Identitäts-Ideen“ aus dem Jahre 1998:

„Weitestgehend unabhängig vom realen Gebrauchswert der Waren (…) entwerfen die Werber und Warengestalter Gebrauchswertversprechen. Das heißt, sie entwerfen eine Sprache der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung (…). Dabei umgeben sie die Waren, um die es geht, (…) mit einem Raum an Fantasien und Vorstellungen. Ich nenne das den ‚imaginären Raum der Warenästhetik’. (…) Nur – dieses Befriedigungsgefühl ist dazu verdammt, sich (…) in Enttäuschung aufzulösen.“

Und wie formuliert nun Wegner diesen Enttäuschungsprozeß – und sein Gedicht zeigt sich damit auf der Höhe einer sozialphilosophischen Theorie, die erst viele Jahrzehnte später entstand?

„Die Dinge, in Glanz und Leuchten geschlagen,
Die jung sind und zart fühlen. Bald
In die tausenden Stuben der Stadt getragen,
Werden sie alt:
Wenn sie im Dunkel und Elend des Alltags verbleiben,
Die Dinge,
Vor denen die Seelen der Menschen knieen.“

Natürlich ist auch das alles mit etwas fernem Pathos formuliert. Aber gleichzeitig ist das alles auch klug und auch noch sehr nah. Veraltet an diesen Einsichten ist nichts.

Leitmotive einer untergehenden Welt

Doch ich versprach noch einen dritten Hinweis auf die ‚Geistesgegenwärtigkeit’ dieses „Warenhaus“-Gedichtes: einen Hinweis auf die Intelligenz seiner F o r m u n g oder G e s t a l t.

Hier sollen einige Hinweise genügen. Ergo in Thesenform:

Ich behaupte, daß in diesem Gedicht des Autors eine Art L e i t m o t i v t e c h n i k zur Anwendung kommt, und zwar auf eine derart diskrete und feingesponnene Weise, daß demgegenüber die Leitmotivtechnik ihres konsequentesten Anwenders im Bereich der Musik – nämlich bei Richard Wagner in seinem Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“ – fast wie die biedere Leitmotivtechnik eines Bürokraten erscheint. Doch bevor ich diese schroffe Behauptung zu begründen versuche, kurz eine Definition dieses Begriffs „Leitmotivtechnik“: unter „Leitmotiv“ versteht man ein prägnantes Thema – eine bestimmte Tonfolge in der Musik, eine bestimmte Wortfolge in der Literatur -, das immer wieder in dem betreffenden Werk auftaucht, um – das ist seine ä s t h e t i s c h e Funktion – so etwas wie g e s t a l t e r i s c h e n Zusammenhang oder musikalisch-sprachliche G a n z h e i t herzustellen in einem Werk und zweitens, auf der B e d e u t u n g s e b e n e, Beziehungen herzustellen zwischen verschiedenen Werkabschnitten, wobei sich diese sogenannten Leitmotive zumeist auf bestimmte Personen oder Dinge beziehen, auf bestimmte seelische Motive oder Ideen. Für Thomas Mann, um eine meiner Ansicht nach besonders emphatische Formulierung zu zitieren, handelt es sich bei dem „Leitmotiv“ um eine „vor- und zurückdeutende magische Formel, die das Mittel ist, einer inneren Gesamtheit in jedem Augenblick Präsenz zu verleihen.“

Nunja, ob da immer gleich „Magie“ im Spiele ist, darf wohl mit Fug und Recht bezweifelt werden. Tonys „gewölbte Oberlippe“ in den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann zum Beispiel, ist fraglos ein Leitmotiv, mit Sicherheit aber eher ein amüsantes denn ein magisches Leitmotiv. Anders mag es sich da schon mit der „eingedrückten Nase“ verhalten, die derselbe Autor in seinem „Tod in Venedig“ bemüht, weil diese Entstellung merkwürdigerweise nacheinander sehr vielen verschiedenen Personen zugeschrieben wird und alle diese Personen als Inkarnationen derselben mythischen Grundfigur zu begreifen sind: nämlich als Verkörperungen des Todes selbst.

Gleichen Zweifel melde ich bei Thomas Manns Behauptung an, ein „Leitmotiv“ brächte „in jedem Augenblick“ die innere Gesamtheit eines Ganzen zur Geltung bzw. verliehe dieser Gesamtheit „Präsenz“. Zunächst: welcher Gesamtheit eigentlich? Der eines ganzen Werkes oder nur einer bestimmten Person? Wie sollte das der Fall sein, bitteschön, wenn’s nur um Tony Buddenbrooks niedliche Oberlippe geht? Sollte Tonys „Ganzheit“ nur aus dieser Gesichtswölbung bestanden haben? Zum Glück weiß das auch der Autor besser, Thomas Mann selbst! Und wie sollte das Fall sein, wenn in der „Walküre“ Wagners, dem zweiten Teil der „Nibelungen“-Tetralogie, Hundings Name und Rückkehr zum Eheweib Sieglinde ein jedes Mal mit obligat stampfendem Orchestergepolter vermeldet wird? Sollte dieser grobe Gesell tatsächlich „in seiner inneren Gesamtheit“ nur aus Klobigkeit bestanden haben? Und kommt einem das tatsächlich „magisch“ vor? Eher dürfte wohl zutreffend sein: hier ist durch und durch Geheimnislosigkeit zu konstatieren, und diese Geheimnislosigkeit der Leitmotivtechnik bei Wagner oder bei Thomas Mann liegt darin begründet, daß jeweils ganz unüberhörbar bestimmte Wort- oder Tonfolgen wiederholt zu werden pflegen, bei höchstenfalls beiläufiger Variation. Anders gesagt also: diese Leitmotive sind ein Oberflächenphänomen, nichts sonst.

Ganz anders hingegen hier in diesem „Warenhaus“-Gedicht von Armin T. Wegner: kein sichtbares N e t z w e r k bestimmter Leitmotive – sprich: bestimmter sich wiederholender Wortfolgen – legt sich über diesen Text; sehr wohl aber existiert in diesem Gedicht eine Vielzahl von Leitmotiven, die gleichsam unterirdisch Zusammenhang schaffen und unterirdisch miteinander in Verbindung stehen: ein W u r z e l w e r k also, um es mit einem besseren Begriff zu erfassen als mit dem eines Netzwerks.

Und dieses Wurzelwerk sieht folgendermaßen aus: neben einer ganzen Reihe anderer Leitmotive – die bereits erwähnte Kirchen- und Stadt-Metaphorik zählt dazu, des weiteren könnten erwähnt werden: Turmbau von Babel, Anbetung des Goldenen Kalbs, Prostitution -, taucht vor allem eine Metaphorik – also Bildlichkeit – immer wieder in diesem „Warenhaus“-Gedicht auf: der Vergleich dieser Warenhauswelt mit einem Wald – genauer gesagt: mit einem t o t e n Wald oder mit einem Wald des T o d e s. Hier meine Belegstücke dafür:

Schon in der zweiten Zeile dieses Warenhausgedichts wird mit den Pfeilern, die zu „granitenen Fichten gereiht“ sind, das Leitmotiv des Waldes eingebracht; dann ist, im Verlauf des Gedichtes, nacheinander die Rede von „steinernen Bäumen, die sich rauschend bis unter die Dächer verzweigen“, vom „Dickicht“, vom „Wald der Dinge“, vom „verwunschenen Wald“ und – zum Ende hin – von „toten Ästen“, in die sich „Schatten verkrallen“. Alle diese Formulierungen stehen in einem Korrespondenzverhältnis zueinander, alle diese Bilder spiegeln einander, alle diese Assoziationen sind verknüpft mit demselben Grundmotiv, nämlich mit dem Leitmotiv Wald. Aber: es handelt sich nicht um formelhaft-wörtliche Zitatwiederholung! Und wenn ich vorhin – scheinbar so bösartig – formulierte, im Vergleich zu dieser Anwendungsvariante von Leitmotivtechnik nähme sich die von Richard Wagner geradezu wie die Leitmotivtechnik eines schlichten Komponierbeamten aus, so dürfte dies hoffentlich mit dieser Textanalyse verständlich geworden sein: Wegner ist nicht Wagner, Wegner arbeitet nicht mit der Wiederholung nahezu identisch präsentierter Motive, mit nahezu zwanghafter Pedanterie zudem wie Wagner, sondern mit zahlreichen Variationen desselben Motivs, und dieses mit einiger Freiheit. Leitmotivtechnik ist beides, aber bei Wegner ungleich verdeckter und feiner gehandhabt als bei Wagner einige Jahrzehnte davor. Doch selbst wer mir bei diesem durchaus ja auch hierarchisierenden Urteil nicht folgen mag, muß wohl meiner Ausgangsbehauptung zustimmen:

Bei allem P a t h o s dieses „Warenhaus“-Gedichtes von Armin T. Wegner ist dieses „Warenhaus“-Gedicht eben auch klug. Und das war ja die eigentliche These, die ich zu beweisen versuchte. Kurz: der Schritt, von der Überfülle des Gefühls auf Mangel an Verstand zu schließen, wäre also zumindest im vorliegenden Falle falsch. Klug ist diese Lyrik in zentralen Aussagen zum Phänomen Warenhaus w i e in ihrer Form. Und dennoch – so scheint mir – bleibt bei der Frage nach dem P a t h o s dieses expressionistischen Gedichtes ein Rest – ein Rest, der vermutlich die expressionistischen Gedichte fast aller Autoren dieser Epoche betrifft:

Mag mit meiner These der Vereinbarkeit von Gefühl und Verstand die Emotionalität dieser Lyrik vor dem Vorwurf ihrer Geistlosigkeit gerettet sein. Ist damit auch gerettet, was wir heute zumeist als Ü b e r m a ß dieser Gefühle empfinden? Präziser gefragt: selbst wenn man sich das heutige „Coolness“-Ideal ganz ausdrücklich nicht zu eigen macht – vor allem dann nicht, wenn dieses „Coolness“-Ideal noch zusätzlich mit dem „Echtheits“-Zertifikat versehen ist; selbst wenn man also von solchen „Unterkühlungsidealen“ Abstand hält: haben wir es hier nicht – umgekehrt! –, bei dieser Art Lyrik, mit „Überhitzungsphänomenen“ zu tun?

Was schrie dieser Expressionismus heraus?

Ich möchte an dieser Stelle diese Wertungsfrage ganz ausdrücklich offenlassen. Es geht darum, einen Autor vorzustellen, der nahezu vergessen ist, nicht aber um die Aufgabe, Literaturgeschichte der letzten zwei, drei Jahrhunderte auf diese Frage hin durchzuanalysieren – oder auch nur den Expressionismus. Deswegen erlaube ich mir an dieser Stelle auch nur eine einzige Anmerkung noch:

Jawohl, es mag so sein, daß es im Expressionismus nicht nur um Ausdruck von Gefühlen ging, sondern auch um deren vergrößerte Darstellung. Aber: vielleicht geschah das ja nicht zufällig in einer Epoche, da sich der einzelne Mensch, das Individuum, aufgrund säkularer Prozesse und Geschehnisse als immer gefährdeter empfand. Egal, ob wir dabei an den Ersten Weltkrieg denken oder an das, was Historiker und Soziologen, Sozialpsychologen und Wirtschaftswissenschaftler als die bedeutendsten Veränderungsprozesse des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet haben, die Industrialisierung und die sozialen Umwälzungsprozesse – mit dem Angstwort der „Vermassung“, der seither in den Köpfen der Menschen umging:

Ein Mensch, der untergeht, schreit – schreit selbst dann, wenn er nur unterzugehen meint! Und so war für die Autoren wie für die Nachfahren der Expressionismus vor allem auch Schrei. Schrei von Menschen, die nicht vor Freude schrien, sondern aus Angst. Und die wichtigste Lyriksammlung des literarischen Expressionismus – die „Menschheitsdämmerung“, 1920 von Kurt Pinthus herausgebracht – hatte deshalb auch nicht Morgen-, sondern Abenddämmerung gemeint, Ende also, nicht Beginn. Jawohl, im Expressionismus wurde geschrien. Und vielleicht ist es ja kein Zufall, daß der Buchtitel „Menschheitsdämmerung“ sich derart deutlich auf einen anderen Titel bezog, auf die „Götterdämmerung“ nämlich, also den letzten Teil der „Ring“-Tetralogie Richard Wagners, wo es ebenfalls um Zusammenbruch einer Welt geht und nicht um Anfang einer neuen Epoche! Ich jedenfalls meine, es dürfte kein Zufall sein, daß hier wie da, in der „Menschheits-“ wie „Götterdämmerung“, nicht nur Ausdruck von Gefühl, sondern auch deren Vergrößerung eine derart zentrale ästhetische Rolle spielt: bei Wagner sogar – weit über bloße Vergrößerung hinaus – in die Monumentalisierung von Gefühlen hinein: denken wir nur an den berühmten Trauermarsch nach Siegfrieds Tod im letzten Teil der „Götterdämmerung“. Auch da stirbt nicht nur ein Einzelner, sondern mit ihm eine ganze Welt. Anders gesagt also: allerspätestens mit Richard Wagner begann so etwas wie die Expressionismusphase der deutschen Opernmusik; und allerspätestens mit dem Expressionismus gab es auch so etwas wie eine Opernphase der deutschen Literatur.

Und Armin T. Wegner, dieser tapfere, fast vergessene Autor, hatte wahrlich nicht die schlechtesten Beispiele für diese pathetische und überaus gegenwartsempfindliche Phase der deutschen Literaturgeschichte vorgelegt.

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