Zwanzig Thesen zum heutigen Kulturbetrieb (1993)
1.
In den letzten Jahren ist es immer schwerer geworden, als freier Schriftsteller oder Künstler in der Bundesrepublik Deutschland zu überleben.
2.
Jeder im Kulturbereich produktiv Tätige kann die meisten der Verwalter, Organisatoren und Vermarkter nur verachten. Kaum einer von ihnen trägt ein Risiko, es wird abgewälzt. Sie mästen und profilieren sich und frönen ihrer Eitelkeit auf Kosten der wirklich schöpfe-risch tätigen Menschen, um die herum sich Legionen von Dilettanten angesiedelt haben. Mitarbeiter der privaten und öffentlichen Medien in gutdotierten Positionen spielen sich auf, fliegen ständig zu Tagungen und Interviews und Verhandlungen nach San Franzisko, Tokio, Mexiko City oder Sydney, während für produktive Mitarbeiter – und das sind viel-fach Freie – kaum noch die Mittel für eine Bahnfahrt 2. Klasse übrig bleiben. Ergebnis der kostspieligen Reisetätigkeit um den ganzen Globus sind häufig seltsamste Alibiproduktio-nen, Buch- und Filmeinkäufe ohne Sinn und Verstand. Die Korruption in diesem Bereich bleibt im Dunkeln.
3.
Nicht Qualität zählt, sondern Stoff zur bestmöglichen Vermarktung. Eine aggressive Wer-bung sorgt dafür, dass selbst erbärmlichste Erzeugnisse, die vor Peinlichkeit, Schamlosig-keit und Kitsch strotzen, zum Erfolg werden. In den Institutionen und Unternehmen, die Kultur vermitteln, sind immer mehr Menschen tätig, denen die Kriterien zur ästhetischen und inhaltlichen Beurteilung eines Werkes fehlen, die sich also nach ganz anderen Ge-sichtspunkten orientieren. Alles guckt nach Einschaltquoten und Verkaufszahlen. Auf die-sem Markt scheint niemand mehr wirklich an Kultur interessiert zu sein. Es geht fast nur noch um wirtschaftliche Erfolge. Und solange Berufspolitiker den Bürgern vorleben, dass Bereicherung oberstes Ziel in dieser Gesellschaft ist, wird sich nichts daran ändern. Jeder bedient sich, so gut er kann. Die ans Licht gebrachten Korruptionsfälle sind nur die Spitze eines Eisbergs und ein Symptom für die noch wachsende Begehrlichkeit, die kaum Gren-zen kennt und natürlich auch unter Künstlern und solchen, die sich dafür halten, um sich greift. Skrupellose Geschäftemacher mit zum Teil kriminellen Praktiken bestimmen weit-gehend das „kulturelle“ Angebot. Aber: „Ein Volk ohne Vision geht zugrunde“ (Salomo).
4.
Die Verhältnisse auf dieser Welt sind momentan derart irrsinnig und bedrohlich, dass es vieler Phantasie bedarf, um die Menschheit vor ihrem Untergang zu bewahren. Dabei könnten Schriftsteller und Künstler helfen. Aber wenn Politiker und Kulturverwalter Um-gang mit Künstlern pflegen, geschieht dies zumeist nur zur Dekoration und selten auf Au-genhöhe.
5.
Diese Gesellschaft braucht Menschen, die sich unabhängig halten und innovativ arbeiten, die unbeeinflusst von gesellschaftlichen Verpflichtungen, Moden und so genannten Sach-zwängen ihre Meinung äußern. Die Möglichkeit dazu wird immer geringer. Unbequeme Meinungen werden zensiert, abgetan oder unterdrückt. Wer sich nicht anpasst, hat keine Chance; ihm wird die ökonomische Basis entzogen, er wird ignoriert.
6.
Die deutschen Verlage übersetzen und publizieren in hohem Maße Erfolgsbücher aus den USA und anderen Ländern; das Fernsehen sendet ständig eine Unzahl vor allem in den USA produzierter, zum Teil nur dürftig synchronisierter (schrecklicher, unsäglich schlech-ter) Filme. Umgekehrt geht fast gar nichts. Die Folge ist eine Austrocknung der deutschen Kulturszene. Professionelle Schriftsteller können kaum noch von ihrer Arbeit leben. Wer nicht sehr populär schreibt, um nicht zu sagen: trivial, wer nicht opportunistisch mitspielt, modische Themen modisch behandelt und in Talk-Shows oder TV-Magazinen vorgestellt wird, kann auf dem Markt der Eitelkeiten nicht bestehen. Ausgenommen sind nur wenige seriöse Autoren, die sich durch irgendwelche Zufälle und Glücksfälle, natürlich auch und vor allem durch kontinuierliche Arbeit, etablieren konnten; diejenigen, die mit ihrer Litera-tur reich geworden sind, lassen sich an zwei Händen abzählen.
7.
Für das Privatfernsehen zu arbeiten, ist Autoren, die etwas auf sich halten, nur in seltenen Einzelfällen möglich. Dort wird fast immer etwas verlangt, was der Autor eigentlich nicht zu schreiben bereit ist. Diese Tendenz verstärkt sich auch bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Hinzu kommt, dass Autoren in dem Moment, wo sie ihr Manuskript abgeliefert haben, überflüssig werden; denn jetzt bestimmen andere (zumeist Opportunisten und Kar-rieristen) über die Vermarktung. In erster Linie, und vermehrt bei den privaten Anbietern, laufen Sex und Crime, Kram und Schund, womit inzwischen Milliarden in aller Welt per-manent und bis zum Erbrechen berieselt werden. Die Folgen für die nächsten Generationen sind unabsehbar.
8.
Die Auswüchse der Zivilisation, in der wir leben, nehmen weiter zu. Es gilt der Grundsatz der Bereicherung. Und es bedarf heute keines Atomschlages mehr, um die Menschheit zu vernichten. Keiner kann sich entziehen – das ist neu. Ziel müsste es sein, vernünftiger, na-türlicher, humaner, auch liebevoller und bescheidener zu leben. Dazu kann Literatur einen wesentlichen Beitrag leisten, sensibler machen, aufgeschlossener für Fragen des Zusam-menlebens und der menschlichen Existenz überhaupt. Dazu könnten auch die Medien bei-tragen, aber das Gegenteil ist der Fall.
9.
Das Renommee der Schriftsteller und ihrer Organisationen hat in den letzten Jahren stark gelitten, weil nicht mehr das Werk zählt, weil es auch nicht mehr vorrangig um die Vertre-tung berufsständischer Interessen geht, sondern um individuelle Profilierung und Vermark-tung. Außerdem sind die Ansichten von Schriftstellern nicht mehr gefragt.
10.
Schriftsteller werden fast überall mit minimalen Honoraren abgespeist. Die Einnahmen aus Büchern betragen im Durchschnitt fünf bis zehn Prozent vom Ladenverkaufpreis. Für 10.000 verkaufte Taschenbücher zum Preis von 9,80 DM sind das also bei 5 Prozent 4.900 DM brutto.
11.
Die Steuergesetzgebung für Schriftsteller, die – obwohl sie ihre Honorare in den seltensten Fällen selber festsetzen können – als angeblich freie Unternehmer neben der Einkommens-teuer noch Mehrwertsteuer auf ihre Einnahmen zu zahlen haben, ist ein Unding. Mehrere Wochen im Jahr vergeuden Schriftsteller ihre Zeit mit Reisekosten- und anderen Abrech-nungen, mit Steuererklärungen und Auseinandersetzungen mit den Finanzbehörden. (Sogar von den Kultusministerien gewährte Arbeitsstipendien müssen versteuert werden!) Ver-dient ein Schriftsteller in einem Jahr viel, weil sich ein Buch gut verkauft, kommt er in die Steuerprogression und muss hohe Steuern zahlen. Verdient er im nächsten Jahr wenig, weil er an einem neuen Buch arbeitet, sitzt ihm ständig das Finanzamt mit hohen Vorauszah-lungsforderungen im Nacken. Eine Verteilung von Einnahmen auf mehrere Jahre ist derzeit nicht möglich. Politiker und Beamte begreifen nicht, dass Schriftsteller nur das verdienen, was sie erschreiben, also kein gesichertes Einkommen haben und zumeist nur wenige Mo-nate im voraus wissen, ob sie demnächst noch die ständig steigende Miete bezahlen kön-nen. Auf Arbeitslosenunterstützung haben Schriftsteller keinen Anspruch; das Stipendien- und Preiswesen hat sich hier und da zu einem Unwesen entwickelt, da nicht selten die Fal-schen (die Stipendienspezialisten), die Genehmen und die ohnehin schon Etablierten be-dacht werden. Wovon können Schriftsteller in schöpferischen Phasen leben?
12.
Die deutsche Literaturszene ist zu einem Tummelplatz für egozentrische, gewinn- und pro-filierungssüchtige Medienleute, Dilettanten und Schriftsteller-Darsteller degeneriert.
13.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine funktionierende Literaturkritik. Den „Großkritikern“ und ihren Adepten, denen Intelligenz, Bildung und Belesenheit nicht abzu-sprechen sind, fehlt neben der Phantasie als Voraussetzung für eigene schöpferische Arbeit fast ausnahmslos die charakterliche Eignung für ihr Metier. Ihnen ist vorzuwerfen, dass sie ihre Funktionen missbrauchen; nichts Neues kann hochkommen, es wird weder gefördert noch vermittelt. Sie sonnen sich in ihren eigenen fragwürdigen Medienerfolgen, bespiegeln sich selber, und mit ihren zumeist überflüssigen, absurden oder exzentrischen Empfehlun-gen manipulieren sie gutwillige Zuschauer und Leser.
14.
Von den deutschen Theatern in ihrer Mehrzahl gehen kaum noch kulturelle Impulse aus. Sie erhalten als schmückende Prestigeobjekte Millionenzuschüsse, mit denen gehobene Unterhaltung und Belanglosigkeiten auf die Bühne gebracht werden. Man beklagt, dass es an deutschen Theaterautoren mangele, und bedient sich, während für Autoren kein Geld übrig bleibt. Mit Vorliebe werden Klassiker adaptiert; der Intendant oder Regisseur streicht womöglich noch die Tantiemen für die Bearbeitung ein. Auch an der Oper hat sich das Re-pertoire seit Jahrzehnten nicht merklich geändert.
15.
Während Millionen und Milliarden verschenkt, verschwendet und in die falschen Kanäle geleitet werden, ist für Kultur angeblich kein Geld mehr vorhanden. Gesellschaftskritik, soweit sie trifft, ist unerwünscht; soweit sie ins Konzept passt, wird sie gefeiert. Für Kul-turverwalter und Vermarkter haben sich durch die Wiedervereinigung zahlreiche neue luk-rative Betätigungsfelder eröffnet; aber die Etats für Kunst- und Literaturförderung schrumpfen weiter, obwohl sich die Zahl der Künstler und Schriftsteller erheblich erhöht hat. Denjenigen, die ohnehin nichts zum Teilen haben, werden zusätzliche Sonderopfer ab-verlangt. Als ob Verzicht auf Kultur ohne Folgen bliebe. Gleichzeitig beklagt man alleror-ten die Zunahme von Vandalismus, Intoleranz und Gewalt.
16.
Kunst, die etwas taugt, ist immer auch antizipatorisch. Sie hat seit jeher etwas mit Phanta-sie, mit Utopie, mit Idealen zu tun. Aber im heutigen Kulturbetrieb zählt fast nur noch das wirtschaftliche Ergebnis. Was wirkliche Kultur ausmacht, wird von kulturlosen Schwätzern vermarktet, zerredet, in den Schmutz gezogen, zertrampelt, ignoriert. Von den Gutwilligen wird daher gern auf das Etablierte zurückgegriffen, das ist am einfachsten.
17.
Kritische Äußerungen über den Kulturbetrieb werden von den Verwaltern und „Machern“, die sich ihre Bitterkeit – so sie jemals vorhanden war – haben abkaufen lassen und die schon lange keiner echten Gefühle mehr fähig sind, als unbegründet, einseitig oder larmoy-ant abgetan.
18.
Wer über Erfahrungen im Kulturbetrieb verfügt, weiß, dass es problematisch ist, sich offen für die SPD und ihre Politik zu engagieren. Seltsamerweise lohnt es ihm nicht einmal die SPD. Für Schriftsteller war es immer schon lukrativer und erfolgversprechender, mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, der „Welt“ oder „FAZ“ zusammenzuarbeiten, als mit Kulturor-ganisationen oder Medien (soweit es sie überhaupt noch gibt), die der SPD nahe stehen.
19.
Die Auswahl der Politiker ist heute zu einer Negativauslese heruntergekommen. Wer sich am besten durchlaviert, kommt weiter (angeblich nach oben, er „gewinnt“). Dazu bedarf es weniger einer fundierten Bildung und sozialer Erfahrungen, Kultur oder moralischer Über-zeugungen, als vielmehr eines ausgeprägten Willens zur Macht.
Das Dilemma der SPD ist, dass ihre Politiker nicht deutlicher Stellung beziehen, dass keine Zielvorstellungen und kaum noch Wertvorstellungen vorhanden sind, geschweige denn propagiert werden, die sich von denen der CDU wesentlich unterscheiden. Auch in der SPD setzt sich der Grundsatz durch, der heute fast überall gilt: Immer mehr und am meis-ten für mich.
20.
Dieser vom SPD-Kulturforum in Auftrag gegebene Beitrag soll der internen Diskussion dienen. Seine Ausarbeitung ist nicht honoriert worden. Der Verfasser – freier Schriftsteller seit zwei Jahrzehnten (der einige Tage, wenn nicht jahrelang, über diese Fragen intensiv nachgedacht und gerade 24O Mark für die Reparatur eines geringfügigen Defekts seines Badezimmerboilers bezahlt hat) – darf sich glücklich schätzen, wenn mit Kultur befasste Politiker, Beamte, Redakteure (alle in bestens dotierten Positionen) einige dieser Thesen erwägen oder ein paar Sätze übernehmen, um sie einer größeren Öffentlichkeit nahe zu bringen. Auch das ist symptomatisch für die augenblickliche kulturelle Situation.