Kurzfristige Gedanken zur Verunglimpfung der Radikalität

 In FEATURED, Politik (Inland)

Radikal destruktiv (Daniel Radcliffe im Film “Imperium”)

“Radikal” – der Kampfbegriff einer vermeintlichen Mitte, die ihre Seele an eine radikal destruktive Ideologie verkauft hat: den Neoliberalismus. Mit dem Etikett “radikal” werden Menschen verunglimpft, die sich grundsätzlich und leidenschaftlich mit den Gegebenheiten auseinandersetzen, werden rechte Mörder mit linken Vermummten gleichgesetzt, mitfühlende Veganer mit grausamen Dschihadisten. Mit dem Kampfbegriff “radikal” grenzt der “ganz normale Wahnsinn” der herrschenden Ideologie seine Gegner aus und hält die Bevölkerungsmehrheit in einer umhegten Komfortzone fest. Die Autorin lässt sich von diesem verkehrten Radikalitätsbegriff nicht ins Bockshorn jagen. Sie weiß: In Zeiten, in denen das Schlechte fast allgegenwärtig geworden ist, erscheint das Gute stets radikal. (Leonie Droste)

“Radikalismus (von lat. radix = Wurzel), eine mehrdeutige Bezeichnung der politischen Sprache für grundlegend politisch-oppositionelle Einstellungen, Überzeugungen und Bestrebungen. Bisweilen wird R. als Synonym für Extremismus verwendet, mintunter auch als Synonym für eine Politik, die in ihrer Prinzipienfestigkeit unbeugsam, aber mit der Verfassung prinzipiell verträglich ist. In der empirischen Politikforschung wird R. anhand von Indikatoren der Mittel- und Normdimensionen erfasst […]” *

Radikalität, heißt es, sei grundsätzlich falsch. Wie das? Radikalität kann, was sie ist, nur sein, durch Rahmenbedingungen. Was radikal ist und was nicht, bezeichnet keine feste Größe oder natürliche Eigenschaft. Es ist ein Wort der Relation, nicht des Inhalts. Eine Relation muss, um wahrheitsfähig zu sein, ihre Objekte benennen oder Stellvertreter ausweisen – auch eine Variable ist keine Leerstelle. Man kann “radikal schlecht” oder “radikal gut” sein. Gesagt ist damit nichts, ohne eine Legende, die erklärt, was a) schlecht oder gut, und b) sehr schlecht oder sehr gut ist. Radikalität hält sich beim Maximum auf – ist aber immer noch inhaltlich unbestimmt. Dies selbst dann, wenn man beschließt, über Politik zu reden. Wer die Radikalität der politischen Gutheit – den Ruf nach maximaler Gutheit in der Politik – zu etwas Schlechtem erklärt, begeht einen propositionalen Widerspruch. Die Radikalität des Guten kann, per Definition, nicht schlecht sein. Es sei denn, “gut” und “schlecht” bezeichnen keine Gegensätze mehr.Folglich kann nicht jede Radikalität schlecht sein.

Natürlich: Der Streit ist ein anderer. Gestritten wird hinsichtlich der Frage, was gut ist. Insofern erledigt sich der – eben: inhaltliche – Streit keineswegs mit der Ablehnung von Radikalität im Allgemeinen. Radikalität bestimmend ist, was man als Minimum und was als Maximum, als extrem wenig oder extrem viel betrachtet. Wie bestimmt man das? Durch Betrachtung der Gegebenheiten. Das bedeutet: Je weniger gut die Gegebenheiten sind, desto extremer erscheint das Gute – die Abweichung von der (wenig guten) Normalität. Kommt Normalität ein Wert zu? Sie spendet Erwartungssicherheit. Und darüber hinaus? Es kann einem Unfallopfer “gleich-bleibend schlecht” gehen – wünschenswert ist das nicht. Radikalität ist also schlicht die Abgrenzung von der Normalität, die ihrerseits keinen Wert hat, außer Stabilität zu stiften. (Und für einen “stabil schlechten” Zustand ist vor allen Dingen charakteristisch, dass er schlecht ist).

Gewiss, der Radikalität ist Kompromisslosigkeit zu eigen. Sind Kompromisse per se wertvoll? Es gibt die berühmten “faulen Kompromisse”. Der gute Kompromiss beachtet Gerechtigkeitserwägungen, Regeln der Fairness – ein wohl nicht vom Inhalt zu trennendes Qualitätsmerkmal. Überdies gibt es Dinge, die nicht kompromissfähig sind. Unsere Grundgesetze gehören dazu. Sollten dazu gehören. Grundgesetze sind, so gesehen, radikal. Weil sie ausnahmslose Gültigkeit beanspruchen und ihre Einschränkung immer schon ihre Missachtung bedeutet. Sie gelten – oder sie gelten nicht. Ist die Forderung der Einhaltung der Grundgesetze radikal? Nun, das hängt wohl davon ab, ob man ihre Einhaltung als Normalität erlebt oder nicht. Wer sich oder andere in seinen oder ihren Grundrechten beschnitten fühlt, der erlebt eine Missachtung der Grundgesetze; das kann eine Ausnahme sein – ein Einzelfall – oder – systematisch/ strukturell – Normalität. Im Angesicht einer systematischen Verletzung der Grundrechte (d.i. die Verletzung als Normalität), ist die Forderung nach geltenden Grundgesetzen eine Radikalität.

Radikal bedürfnislos und lebensfreundlich: Franz von Assisi (Gemälde: Giotto)

Zum Beispiel: Wenn die Freiheit der Demonstration systematisch eingeschränkt wird (ihre Einschränkung zu bestimmten Anlässen normal ist), dann ist das Bestehen auf das Grundrecht, demonstrieren zu dürfen, ein Akt der Radikalität (im Hinblick auf das Grundgesetz). Interessant ist, dass die Radikalitätsbetitelung überwiegend als Fremd-, nicht als Selbstzuschreibung erfolgt. (Man fühlt sich nicht “radikal”, man wird als “radikal” bezeichnet.) Nicht die Forderung X, als Antwort auf eine bestehende Normalität, die man ablehnt, wird als radikal wahrgenommen, sondern die artikulierte Ablehnung der Normalität, der Normalität an sich. Ein Plädoyer für den – tatsächlichen oder projizierten – Normalitätszustand kann inhaltlich begründet sein durch die Überzeugung, bestimmte geltende Normen sollten nicht zur Debatte stehen. Es kann ein solches Plädoyer aber auch hinweisen auf eine Norm, die Selbstzweck geworden ist. Norm um der Norm willen.

Sinnvoll sprechen lässt sich über Radikalität – übrigens gleich welcher Sphäre – nur inhaltlich; sie in jeder Form abzulehnen bedeutet, die Norm(alität) zum höchsten Wert, zum Wert an sich, zu machen. Das Wort “radikal” stammt übrigens von radix, was soviel bedeutet wie “Wurzel”, “Ursprung”, “Quelle”.** Wer wollte solches unangesehen verdammen? Noch dazu ist, wie mir scheint, all jenes, das nur ganz oder gar nicht bestehen kann, seinem Wesen nach radikal. Dazu gehören: Würde, Liebe, Verantwortung.

* Wörterbuch zur Politik, Kröner, Stuttgart 2010.
** Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, De Gruyter, Berlin/ Boston 2011.

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