70 Jahre Grundgesetz – 70 Jahre Verfassungswirklichkeit: eine kritische Bilanz (1/2)
Am 23. Mai diesen Jahres wurde das Grundgesetz 70 Jahre alt. Aus diesem Anlass veranstaltete die LEA-Bildungsgesellschaft der GEW Hessen eine Fachtagung zum Thema „Autoritäre Wende? Demokratie und Grundrechte auf dem Prüfstand“ im DGB-Haus in Frankfurt am Main. Auf dieser Tagung hielt Rolf Gössner die folgende Rede, in der er sich kritisch mit dem Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit unserer Verfassung auseinandersetzt und die wichtigsten sicherheitspolitischen Etappen der Bundesrepublik nachzeichnet. Die Rede ist in gekürzter Version erschienen in der Druckausgabe der „vorgänge“ – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik (Juli 2019). Rolf Gössner
Über die lange Tradition, Freiheitsrechte im Namen von Freiheit und Sicherheit zu demontieren
Vor 70 Jahren verkündete der Parlamentarische Rat in einer feierlichen Sitzung – nach Genehmigung durch die westlichen Besatzungsmächte – das Grundgesetz, das mit Ablauf des 23. Mai 1949 in Kraft trat. Das ist die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Dieses historische Ereignis wird zu Recht gefeiert – haben wir doch ein Grundgesetz, um das uns viele in der Welt beneiden. Es war eine historisch angemessene Konsequenz aus den leidvollen Menschheitserfahrungen mit dem Faschismus und zwei verheerenden Weltkriegen – wenn auch von heute aus betrachtet mit einigen Defiziten und späteren „Verstümmelungen“, wie es der Schriftsteller Navid Kermani ausgedrückt hat.
Auch wir sind anlässlich des 70. Jahrestags hier zusammengekommen. Allerdings nicht so sehr, um zu jubeln (das überlassen wir anderen), sondern um kritische Bilanz zu ziehen und uns zentrale Fragen zu stellen: wie es in den vergangenen Jahrzehnten um Achtung und Qualität der Grundrechte und des demokratischen Rechtsstaates bestellt war, welche dunklen Kapitel der gesellschaftlichen Verdrängung entrissen werden müssten und wie es heute um Demokratie, Freiheitsrechte und Rechtsstaat bestellt ist bzw. künftig bestellt sein wird. Kurz: Inwieweit Verfassung und Verfassungswirklichkeit übereinstimmen oder aber auseinanderklaffen. Sie ahnen es schon: Das wird keine Festrede.
Lassen Sie uns also sogleich vom Verfassungshimmel in die Niederungen der Verfassungsrealität hinabsteigen und dabei einen wilden Ritt durch sieben Jahrzehnte wagen – wobei ich allenfalls Schlaglichter auf die zurückliegenden sieben Jahrzehnte werfen kann, auf grundrechtsgefährdende Entwicklungen und auf das Ringen um verfassungs- und rechtsstaatsgemäße Verhältnisse. Meine Ausführungen werden sich auf Praxis und strukturelle Entwicklung Innerer Sicherheit und Freiheit konzentrieren, die im Wesentlichen von Sicherheitspolitik, Polizei, Geheimdiensten und Justiz geprägt werden.
I. Beitritt der DDR zur BRD 1990: verdrängte dunkle West-Kapitel
Das Grundgesetz galt bis zu einer „Wiedervereinigung“ Deutschlands bekanntlich als Provisorium. Vor 30 Jahren (also noch ein Jubiläum) im November 1989 fiel die Mauer, im Oktober 1990 kam es zur deutschen Vereinigung. Diese erfolgte jedoch nicht gemäß Art. 146 GG, sondern im Wege des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG a.F. Damit ist 1990 – trotz mancher Bemühungen – die Chance verpasst worden, das Grundgesetz in einem demokratischen Prozess durch eine weiterentwickelte gesamtdeutsche Verfassung abzulösen.
Nun gilt das alte Grundgesetz nach Vollendung der Einheit zwar für das gesamte deutsche Volk, ist aber immer noch eine Art von Provisorium: Denn gemäß Art. 146 n.F. verliert das Grundgesetz seine Gültigkeit „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Eine solche Lösung kann also weiterhin angestrebt werden.
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik bildete sich in Ost wie in West rasch ein gesellschaftlicher Konsens heraus, die Geschichte der DDR umfassend aufzuarbeiten, die ungeheuerlichen Stasi-Machenschaften aufzudecken, Stasi-Opfer zu rehabilitieren und zu entschädigen. Ein respektables, notwendiges und wichtiges Unterfangen – auch wenn es, von heute aus betrachtet, streckenweise zu einer staatsdominierten Abrechnung mit der „realsozialistischen“ DDR und ihren Funktionsträgern geraten ist – zum Teil auch unter Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien und nicht selten mit dem Ziel einer pauschalen Delegitimierung. Jedenfalls handelte es sich um ein recht einseitiges Unternehmen, dem ich entgegenhalten möchte, dass die Aufarbeitung von Geschichte in einem ehedem geteilten Land unteilbar ist.
Die Konzentration auf die Geschichte der DDR und auf die Stasi führte jedenfalls zur Verdrängung der Geschichte Westdeutschlands, in der es schließlich überaus dunkle Kapitel gibt, die dieses Land nachhaltig geprägt haben. Davon handeln die folgenden fünf Kapitel.
1. Erstes dunkles Kapitel: Kommunistenverfolgung der 1950er/60er Jahre
Für mich war mit der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre die Zeit gekommen, ein weitgehend verdrängtes Kapitel bundesdeutscher Geschichte rechtspolitisch aufzuarbeiten: nämlich die systematische politische Verfolgung von Kommunist*innen in der frühen Bundesrepublik. Ich wollte damals den abermaligen Versuch unternehmen, dieses Tabu-Thema ins öffentliche Bewusstsein zu heben – „eine Mahnung zur Unzeit“, wie es die „Frankfurter Rundschau“ 1994 formulierte anlässlich meines Buches über „Die vergessenen Justizopfer des Kalten Kriegs. Verdrängung im Westen – Abrechnung mit dem Osten?“. [1] Von heute aus gesehen würde ich sagen: eine späte Erinnerungsarbeit zum historisch richtigen Zeitpunkt.
Zu dieser Erinnerungsarbeit gehören drei zusammenhängende Grundbelastungen der bundesdeutschen Frühgeschichte: die mangelhaft-verspätete Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die systematische Wiedereingliederung von Altnazis in Staat und Gesellschaft, in Bundeswehr, Polizei, Geheimdienste und Justiz (auf Grundlage des Art. 131 GG) sowie das düstere Kapitel politischer Verfolgung der ersten beiden Jahrzehnte. Politische Verfolgung in Westdeutschland? So mögen sich manche ungläubig fragen. Ja, die gab es tatsächlich und davon betroffen waren in erster Linie Kommunisten, ihre Unterstützer und „Sympathisanten“ – aber auch Bündnispartner und bloße Kontaktpersonen.
Das Ausmaß dieser staatlichen Verfolgung ist heute kaum mehr vorstellbar: Von 1951 bis 1968 gab es Ermittlungsverfahren gegen 150.000 bis 200.000 Personen. Mehr als doppelt so viele – etwa eine halbe Million – waren direkt oder indirekt von Ermittlungsmaßnahmen betroffen: von langfristigen Observationen, Abhöraktionen und Untersuchungshaft. Selbst gewaltlose Proteste gegen die damalige Wiederaufrüstung und Atombewaffnung wurden als kriminelle Delikte verfolgt, weil sie als „kommunistisch gesteuert“ galten. Menschen wurden wegen „Staatsgefährdung“ oder „Geheimbündelei“ bestraft, weil sie für ein entmilitarisiertes und neutrales Gesamtdeutschland eintraten oder weil sie deutsch-deutsche Kontakte pflegten. Etliche Frauen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, nur weil sie Ferienfahrten in die DDR für Kinder aus bedürftigen Familien organisiert hatten.
Zwar schloss nur etwa jedes zwanzigste Ermittlungsverfahren mit einer Verurteilung ab – das ergibt 7.000 bis 10.000 Verurteilungen meist zu mehrmonatigen, bisweilen zu mehrjährigen Freiheitsstrafen. Doch auch wer nicht bestraft wurde, konnte existentiellen Schaden nehmen: durch monatelange Einzelhaft, jahrelange Einschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte, Pass- und Führerscheinentzug, Verlust des Arbeitsplatzes und Renteneinbußen. Kommunistischen NS-Opfern und Widerstandskämpfern wurden sogar die Wiedergutmachungsrenten aberkannt.
Der Höhepunkt dieser Kommunistenverfolgung war im Jahre 1956 mit dem Verbot der Kommunistischen Partei (KPD) durch das Bundesverfassungsgericht erreicht – ein Urteil, das nach neuerer Forschung anhand bislang geheim gehaltener Dokumente u.a. wegen exekutiver Einflussnahme als verfassungswidrig gelten kann. [2] Praktisch die gesamte politische Betätigung von Kommunisten und ihren Organisationen wurde seinerzeit auf dieser verfassungsrechtlichen Grundlage kriminalisiert und bis auf wenige Reste unterbunden. Strafrechtlich verfolgt wurden damit Menschen, die „keine politischen Morde, keine Aufstandsversuche, keinerlei Gewalttaten“ begangen hatten, wie der Anwalt und frühere Justizminister von NRW, Diether Posser, zu Recht hervorhebt.
Die polische Justiz gegen Kommunisten wirkte lange Zeit in stiller oder offener Übereinkunft mit der Mehrheit der Bevölkerung. Es gab – über das eigene politische Umfeld hinaus – nur relativ wenig Solidarität mit den Opfern. Das tief verwurzelte Feindbild Kommunismus, der allgegenwärtige Kommunistenverdacht, die Angst vor „kommunistischer Unterwanderung“ lähmten bis hinein in die Gewerkschaften und die SPD, die sich mit sog. Unvereinbarkeitsbeschlüssen selbst gegen (mutmaßliche) Kommunisten abzuschotten versuchten.
Diese 17 Jahre währende Kommunistenverfolgung fand erst 1968 ein Ende: Die damalige Große Koalition liberalisierte das politische Strafrecht, zumindest teilweise – was auch der wenig später einsetzenden „neuen Ost- und Entspannungspolitik“ unter der sozialliberalen Regierung aus SPD und FDP entsprach. Die Justizopfer des kalten Krieges wurden jedoch bis heute weder rehabilitiert noch entschädigt, obwohl die damaligen Staatsschutzprozesse mit rechtsstaatlichen Prinzipien kaum zu vereinbaren waren.
Ein weitgehend verdrängtes Kapitel bundesdeutscher Geschichte – eine Geschichte, die von dramatischen Grundrechtsverletzungen an Abertausenden von Menschen geprägt war. Jetzt zum 70. Jahrestag wäre es allerhöchste Zeit, die Justizopfer des Kalten Kriegs (West) endlich zu rehabilitieren – auch wenn es in den allermeisten Fällen zu spät kommen dürfte. Nicht allein die (Stasi-) Geschichte der DDR ist es wert, aufgearbeitet zu werden, auch die dunklen Flecken der westdeutschen Staatsschutz-Geschichte müssen endlich einer offiziellen Aufarbeitung unterzogen werden.
2. Zweites dunkles Kapitel: Berufsverbote-Politik der 1970er und 80er Jahre
Schon ab 1972 erfuhr die Kommunistenverfolgung eine Fortsetzung mit anderen Mitteln – auch in Reaktion auf die Studentenbewegung und ihr Motto: »Marsch durch die Institutionen«. Hunderttausendfache Regelanfragen und ausufernde Gesinnungsüberprüfungen durch den „Verfassungsschutz“, tausendfache Berufsverbotsverfahren und über tausend Berufsverbotsmaßnahmen gegen Stellenbewerber oder -Inhaber im öffentlichen Dienst bedrängten – auf Grundlage des sog. Radikalenerlasses von 1972 – die gesamte Linke in den 1970er und 1980er Jahren. Nur in einem Fall ist ein Gerichtsverfahren bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrieben worden; erst hier – vollkommen anders als zuvor vom Bundesverfassungsgericht – wurde dieses Berufsverbot für verfassungs- und menschenrechtswidrig erklärt.
Diese Berufsverbote-Politik verstieß in den meisten Fällen gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot sowie gegen die Grundrechte auf Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit. Die politisch motivierten Entscheidungen über Nichteinstellung oder Entlassung aus dem öffentlichen Dienst basierten in aller Regel auf zweifelhaften Erkenntnissen und Bewertungen des „Verfassungsschutzes“, dessen geheimdienstliches Wirken ohnehin demokratisch kaum kontrollierbar ist. Die Berufsverbote-Praxis vergiftete das politisch-kulturelle Klima der Bundesrepublik, führte zu Einschüchterung und Abschreckung, zerstörte zahlreiche Lebensperspektiven und Berufskarrieren mit lebenslangen existentiellen Folgen. Erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre wurde diese Praxis in den meisten Bundesländern eingestellt. Dennoch kam es auch danach immer wieder zu einzelnen neuen Berufsverbotsfällen – zumindest vorübergehend.
Auch diese Berufsverbotsgeschichte gehört endlich der Verdrängung entrissen. Zu fordern sind: eine rückhaltlose offizielle Aufarbeitung dieses Regierungs- und Behördenunrechts (wie etwa in Niedersachsen unter Rot-grün mit einer Landesbeauftragten [3]), die vollständige Rehabilitierung der Betroffenen sowie materielle Entschädigung für erlittene Benachteiligungen und Einbußen bei Renten und Pensionen.
3. Drittes dunkles Kapitel: „Deutscher Herbst“ im Ausnahmezustand
Wir schauen noch einmal zurück in die sozialliberalen 1970er Jahre – ein Jahrzehnt, in dem eine Jahreszeit immer noch als „Tiefpunkt“ bundesdeutscher Staatsentwicklung gilt: der „Deutsche Herbst“ 1977. Die Bundesrepublik erlebte damals wohl die schärfste innenpolitische Krise ihrer Nachkriegsgeschichte. Die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) hatte mit ihren mörderischen Entführungen und Attentaten auf Repräsentanten von Staat und Wirtschaft dem Staat den „Krieg“ erklärt. Und der Staat nahm diese „Kriegserklärung“ an. Er verhielt sich wie im Ausnahmezustand, ohne ihn förmlich zu erklären. Dem Rechtsstaat wuchsen Zähne, Klauen und Stacheldraht. Er suchte sich mit Antiterrorgewalt, Großrazzien, Hochsicherheitstrakten, Spezialeinsatzkommandos und Maschinenpistolen zu schützen. Und die Bevölkerung hatte sich daran zu gewöhnen.
Dieser martialisch anmutende, zunehmend autoritäre Rechtsstaat ging, wie es der damalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt formulierte, hart bis an die Grenze des Zulässigen; nach Auffassung namhafter Verfassungsjuristen überschritt er sie sogar beträchtlich – oder anders ausgedrückt: Die Grenzen wurden verschoben.
Jenseits der Verfassung wurden unkontrollierte „Krisenstäbe“ gebildet, Kontakt- und Nachrichtensperren errichtet, Massenkontrollen und Abhöraktionen ohne Rechtsgrundlage durchgeführt; die Ausnahmebedingungen im Stammheimer Verfahren gegen den Kern der RAF, die rigorose Einschränkung von Verteidigerrechten – etwa die Überwachung von Verteidigergesprächen, Verteidigerausschlüsse, strenge Isolationshaftbedingungen für RAF-Gefangene -, all diese staatlichen Reaktionen auf den damaligen „Staatsfeind Nr. 1“ waren zunächst noch illegal. Zudem erwiesen sie sich als Überreaktionen, die zu einer Vereisung des gesellschaftlichen Klimas führten.
Der Terrorismus-Verdacht war allgegenwärtig, die gesamte Linke sah sich ihm ausgesetzt. Mediale Hetze gegen sog. Sympathisanten und Intellektuelle (u.a. gegen den Schriftsteller Heinrich Böll), Zensur und Selbstzensur waren Folgen dieser überschießenden Hochsicherheitspolitik, die sich bis hinein in den Kultur- und Medienbetrieb, bis hinein in Theater, Verlage und Redaktionen bemerkbar machten. Eine wahrlich „bleierne Zeit“.
Das damalige Ausnahmerecht wurde schließlich im Laufe der 1970er Jahre weitgehend legalisiert und zum innenpolitischen Standard – als „Antiterror-Sonderrechtssystem“ um den Kollektivstraftatbestand § 129a: Danach muss Beschuldigten keine konkrete Beteiligung an Straftaten mehr nachgewiesen werden, wenn ihnen die Mitgliedschaft in einer sog. terroristischen Vereinigung oder deren Unterstützung zum Vorwurf gemacht werden kann. [4]
4. Die 1980er Jahre: politisch-soziale Bewegungen unter Terrorverdacht
Die sozialliberalen Sondergesetze zur Terrorbekämpfung haben die Zeiten überdauert. In den konservativ-liberalen 1980er Jahren wurden sie noch erheblich verschärft und ausgedehnt. Weil die Ermittlungsbehörden in den damals erstarkenden politisch-sozialen Protestbewegungen eine neue „terroristische Gefahr“ witterten, wurden zahlreiche oppositionelle Initiativen und politisch verdächtige Szenen großflächigen Ausforschungen unterzogen.
So kam es per Gesetz und Rechtsprechung zu einer wundersamen „Terroristen“-Vermehrung. Abertausende Menschen gerieten in den Sog aufwendiger Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen. Betroffen waren die Anti-Atom-, die Friedens- und Anti-Gentechnologie-Bewegung, aber auch Mitglieder der Häuserkampf- und Tierschützer-Bewegung gerieten in diese staatliche Antiterror-Maschinerie. Der solchermaßen ausgeweitete Antiterror-Kampf entwickelte sich zu einer Art Widerstandsbekämpfung und wirkte weit hinein in die demokratische Linke. [5]
In diesem Zusammenhang kam es auch zu heftigen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrationsteilnehmern und der Polizei, die häufig eskalierend agierte, verbunden mit martialischer Polizeigewalt und heftigen Polizeiübergriffen. Und so kam es, dass mein erstes Enthüllungsbuch mit dem Titel „Der Apparat. Ermittlungen in Sachen Polizei“, das ich 1982 mit dem Wallraff-Mitarbeiter Uwe Herzog verfasst hatte [6], zum Bestseller avancierte und dazu führte, dass in mehreren bundesdeutschen Städten Bürgerinitiativen „Bürger beobachten / kontrollieren die Polizei“ (nach einem Westberliner Vorbild) entstanden, zu deren Gründung wir seinerzeit aufgerufen hatten – und zwar mit dem Ziel, Opfer von Polizeigewalt zu beraten, Polizeiarbeit und -entwicklung kritisch zu untersuchen und so der mangelhaften Kontrolle von Polizeihandeln zu begegnen; ein Problem, das uns bis heute begleitet und zu der Forderung veranlasst, unabhängige Kontrollstellen einzurichten.
5. Volkszählungsurteil: Geburtsstunde des „informationellen Selbstbestimmungsrechts“
Lassen Sie mich nach diesen vier dunklen, überwiegend verdrängten Kapiteln westdeutscher Verfassungswirklichkeit noch ein Positivbeispiel anführen: Zu den politisch-sozialen Bewegungen der 1980er Jahre gehörte auch die außerparlamentarische Boykottbewegung gegen die berühmt-berüchtigte Volkszählung, die 1983 durchgeführt werden und an der jeder Bürger, jede Bürgerin teilnehmen sollte. Diese Volkszählung lief im Kern auf die Erfassung der gesamten Bevölkerung mit den Mitteln der elektronischen Datenverarbeitung hinaus.
Zum ersten Mal spürten damals viele Menschen, dass nicht nur Terroristen, Gewalttäter, Hausbesetzer, Drogenabhängige, Prostituierte oder andere „Außenseiter“ Objekte staatlicher Kontrollbegierde sind, sondern auch sie selbst. Die detaillierten Fragen der Volkszähler nach Arbeitsstelle, Einkommen, Wohnung, Familienstand, Mobilität, Freizeit und Finanzgebaren wurden als Bedrohung der Privat- und Intimsphäre empfunden. Aus dem Gefühl eigener Betroffenheit schien sich eine wahre Datenschutzbewegung zu entwickeln und zahlreiche Bürgerinitiativen schossen aus dem Boden – auch mit der Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam.
Diese Oppositionsbewegung hatte Erfolg: Aufgrund mehrerer Verfassungsbeschwerden stoppte das Bundesverfassungsgericht das umstrittene Vorhaben im Dezember 1983 mit einer bahnbrechenden Entscheidung, die als „Volkszählungsurteil“ in die Verfassungsgeschichte einging. Darin wird grundrechtsfortbildend der Datenschutz erstmals als neues Grundrecht anerkannt: das Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ als Ausprägung des Persönlichkeitsrechts, wonach jede und jeder grundsätzlich selbst über Preisgabe und Verwendung ihrer persönlichen Daten entscheiden kann. Seitdem gilt jede Datenerhebung, speicherung und -verarbeitung als Eingriff in dieses Grundrecht, der nur aufgrund einer gesetzlichen Eingriffsnorm zulässig ist.
Nun, die Volkszählung der 1980er Jahre war harmlos gegen das, was uns seitdem mit der rasanten Entwicklung der modernen Informationsgesellschaft und der wachsenden Kontroll- und Überwachungsdichte im öffentlichen und privaten Raum bedroht. Doch das bahnbrechende Volkszählungsurteil konnte diese technologische Entwicklung kaum bremsen, führte nicht etwa zu einer Eindämmung dieser Gefahren, sondern zu einer wahren Legalisierungswelle, mit der immer mehr Eingriffs- und Überwachungsbefugnisse verrechtlicht wurden – besonders für Polizei und Geheimdienste.
Die moderne Informationsgesellschaft und die sicherheitsstaatliche Entwicklung ließen das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung zunehmend ins Leere laufen. 25 Jahre nach seinem Volkszählungsurteil war für das Bundesverfassungsgericht die Zeit gekommen, ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme“ als sog. „Computergrundrecht“ für das digitale Zeitalter aus der Taufe zu heben (2008). Es spielt etwa bei verdeckten Ermittlungen auf Computern und Handys Verdächtigter eine wichtige Rolle (Stichwort: Staatstrojaner) und wird seitdem immer wieder gesetzlich, teilweise auch verfassungswidrig eingeschränkt.
Nachdruck, auch im Internet, nur mit ausdrücklichem Einverständnis des Autors.
Morgen lesen Sie an dieser Stelle den zweiten Teil des Artikels: „Szenenwechsel: Von der alten in die neue Bundesrepublik“