Sex und Transhumanismus
Sexualität hat sich immer mit der jeweiligen Klassengesellschaft verändert und wird aktuell zunehmend dem transhumanistischen Projekt der globalistischen Netzwerke angepasst. Teil 1/2. Neutral oder autonom war Sexualität nie. In Sklavenhaltergesellschaften sah sie anders aus als im Feudalismus. Im Kapitalismus wurde sie stets der Entwicklung angepasst und in den letzten Jahrzehnten immer mehr kommerzialisiert und marktgerecht zugerichtet. Gegenwärtig erfährt die sexuelle Ökonomie eine Adaption in Richtung Transhumanismus — durch weitere Digitalisierung und Cybersex, durch Surrogate für Emotionen und Triebabfuhr, durch künstliche Intelligenz, durch die tendenzielle Trennung von Reproduktion und Sexualität, passend begleitet durch die Transgender-Ideologie. Eric Angerer
Wohl zu keiner Zeit waren sexuelle Beziehungen unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Machtstrukturen und Ideologien. Darüber hinaus bestand immer ein mehr oder weniger großer Zusammenhang mit der Stellung von Frauen in einer Gesellschaft. Der Frühsozialist Charles Fourier hatte geschrieben: „Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation.“ In diesem Sinn ist auch die sexuelle Freiheit meist verknüpft mit der Freiheit von Frauen.
Klassengesellschaft und Sexualität
In archaischen Gesellschaften wurde nicht viel mehr hergestellt, als die einzelnen Produzenten verbrauchten. In der Folge war kaum ein Mehrprodukt zu verteilen, das sich Privilegierte aneignen konnten, und die Hierarchien blieben meist relativ flach, was manchmal auch Frauenrechte begünstigte. So konnten beispielsweise in den germanischen Stammesgesellschaften Frauen Eigentum besitzen, teilweise als Schildmaiden an Kämpfen teilhaben oder als Priesterinnen Bedeutung erlangen.
In afrikanischen Stammesgesellschaften hingegen ist seit langer Zeit die grausame Praxis der Genitalverstümmelung verbreitet, die der Kontrolle von weiblicher Sexualität und Fruchtbarkeit dient und an der 25 Prozent der betroffenen Mädchen sterben. Ob diese Praxis auf die Sklavenhaltergesellschaft des antiken Ägyptens zurückgeht oder noch ältere Wurzeln hat, konnte die historische Forschung bislang nicht eindeutig klären.
In Sklavenhaltergesellschaften erstreckte sich die brutale Diktatur auch auf die sexuelle Ebene. Für junge hübsche Mädchen und manchmal auch Knaben konnten auf Sklavenmärkten hohe Preise erzielt werden. Betroffen waren im römischen Reich Millionen Menschen aus den eroberten Provinzen. Vom arabischen Reich wurden vorwiegend Frauen verschleppt, zig Millionen aus Südeuropa, Asien und vor allem Afrika, die „benutzt“ und verkauft werden durften. Im osmanischen Reich waren sogar viele Sultane die Söhne von Sklavinnen, die meist als junge Mädchen vom Balkan geraubt worden waren.
Im europäischen Feudalismus reproduzierten sich die Herrschaftsverhältnisse auch auf der Ebene der Sexualität. Die Leibeigenen, insbesondere Frauen, waren den sexuellen Wünschen der adeligen Herren weitgehend ausgeliefert. Außerhalb des Klerus war die Ehe das zentrale Bezugssystem. Zur bäuerlichen Familie als soziale Einheit gehörte auch das Gesinde. Für die Auswahl der Ehepartner spielten Besitz, Erbschaft und Arbeitsfähigkeit eine entscheidende Rolle und nicht sexuelle oder emotionale Anziehung.
Große Teile der Bevölkerung waren allerdings vom Recht auf Heirat ausgeschlossen: unterbäuerliche Schichten, Gesinde, nichterbende Geschwister. Diese waren einerseits den sexuellen Begehrlichkeiten des Patriarchen des bäuerlichen Haushaltes ausgesetzt. Andererseits entwickelten sich auch innerhalb dieser unteren Schichten sexuelle Beziehungen. Da sie „illegitim“ waren, mussten sie oft versteckt stattfinden — nicht zufällig entwickelte sich im alpinen Raum der Spruch „auf der Alm, da gibt’s ka Sünd’“, waren doch durch die Almwirtschaft Knechte und Mägde oft monatelang der direkten Kontrolle des Herren und der Kirche entzogen.
Heiratsverbote und die Ächtung unehelicher Kinder sollten das Bevölkerungswachstum eindämmen. Das funktionierte nur teilweise: Weil eine große Anzahl an Kindern in der Feudalgesellschaft unehelich war, vermehrten sich vor allem die ländlichen Unterschichten. Sexualität war durch Sitten und Gebräuche geprägt; Abweichungen von der kirchlich vorgegebenen Norm wurden als „Sodomie“ verurteilt. Nach einer Vergewaltigung mussten Frauen beweisen, ihre „Scham“ ausreichend verteidigt zu haben. Frauen aus den unteren Schichten hatten gegen höher gestellte Vergewaltiger ohnehin keine rechtlichen Möglichkeiten.
Im 19. Jahrhundert fand eine erste „sexuelle Revolution“ statt. Die Entwicklung der Industrie und der damit verbundene Arbeitskräftebedarf führten zu einer erhöhten Mobilität. In der Folge kam es zu einer Erosion der hausrechtlichen Abhängigkeit des Gesindes. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der unehelichen Geburten. Unter dem Druck der sozialen Veränderung wurde auch die Gesetzgebung gemildert: Der voreheliche Geschlechtsverkehr wurde entkriminalisiert.
Sexuelle Normen und Liberalisierungen im Kapitalismus
Mit der sich durchsetzenden kapitalistischen Produktionsweise fielen Produktion und Reproduktion immer mehr auseinander. In der Folge entstand die bürgerliche Kleinfamilie. Die wissenschaftliche Betrachtung von Sexualität führte zu Normierungen: Männlichkeit und Weiblichkeit wurden definiert, Männern ein „Geschlechtstrieb“, Frauen ein „Liebestrieb“ zugewiesen.
In dieser Zeit kam es auch zu einer Pathologisierung weiblicher Sexualität als Nymphomanie oder Hysterie. Homosexualität galt weiterhin als krankhaft und degeneriert. Generell wurde alles außer vaginaler Penetration zu „unnatürlichen“ Koitusarten erklärt. Selbstbefriedigung wurde weiterhin abgelehnt und als Ursache für Krankheit und frühen Tod dargestellt.
In der Arbeiterklasse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren uneheliche Beziehungen üblich und vorehelicher Sex mehr oder weniger die Norm. Die Sexualpartner fanden sich am Arbeitsplatz, im Wohnviertel und im Freundeskreis. Diese in gewisser Hinsicht „freien“ sexuellen Beziehungen waren aber auch von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen beeinflusst. Besser verdienende Arbeiter unterstützten ihre Sexualpartnerinnen oft finanziell, die Grenze zur Prostitution war oft fließend. Durch eine Mischung aus Begünstigungen und Drohung mit Sanktionen schufen sich Vorgesetzte einen sexuellen Zugriff auf Fabrikarbeiterinnen. So entstand der Ausdruck der „zweiten Schicht“ der Arbeiterinnen, im Bett von Vorgesetzten. Egal ob in der vielschichtigen Prostitution oder in relativ freien Sexualbeziehungen in der Arbeiterklasse: Das Hauptproblem, vor allem für die Frauen, waren ungewollte Schwangerschaften, standen ihnen doch kaum verlässliche Verhütungsmethoden zur Verfügung.
Zwischen den beiden Weltkriegen spielte in Europa dann auch der Kampf für einen Zugang zu Verhütungsmitteln und für das Recht auf Abtreibung eine wichtige Rolle. In der Arbeiterbewegung entstanden Elemente einer Gegenkultur, in der traditionelle Sichtweisen von Sexualität und Moral weniger stark ausgeprägt waren als im Rest der Gesellschaft. Die aus dem Bürgertum kommenden Führer der Arbeiterbewegung und ihre Lebensweise sowie generell die sich an das System anpassende bürokratische Schicht verbreiteten in der Arbeiterklasse gleichzeitig bürgerliche Familiennormen.
Der Nationalsozialismus förderte zwar die sexuelle Liberalisierung, allerdings nur für heterosexuelle „gesunde Arier“. Das NS-Regime stand auch für eine Säkularisierung von Sexualität: Sex und Leidenschaft wurden als eine Art religiöses Erlebnis dargestellt. Zum Trost der Soldaten gaben die Nazis während des Krieges die Parole „jedem Hänschen sein Sabinchen“ aus. In den besetzten Gebiete wurden unter der NS-Herrschaft Frauen und Mädchen in die Prostitution gezwungen, um überleben zu können; die Wehrmachtsbordelle unterstanden der Kontrolle von „oben“ und geschlechtskrank gewordene (Zwangs-)Prostituierte wurden ermordet.
Die vom US-Imperialismus geprägte Nachkriegsordnung brachte auch in Westeuropa in der Frage der Sexualität eine konservative Wende, in Abgrenzung zur Arbeiterbewegung, aber auch zum Nationalsozialismus: Abtreibung etwa wurde wie schon im Nationalsozialismus verfemt und nun sogar mit Mord und KZ gleichgesetzt. Propagiert wurden Ehe, Familie, „sexuelle Reinheit“ und Treue. Verboten waren Homosexualität und Pornografie, abgelehnt wurden Selbstbefriedigung und „abnormer“ Geschlechtsverkehr. Wie nicht anders zu erwarten, unterschied sich die Praxis erheblich von dieser konservativen Sexualmoral.
Mitte bis Ende der 1960er-Jahre waren diese verkrusteten Moralvorstellungen nicht mehr mit der gesellschaftlichen Modernisierung in Einklang zu bringen. Auch die Einführung der „Anti-Baby-Pille“ ab Anfang der 1960er-Jahre spielte dabei eine Rolle. Die Folge war die sogenannte „sexuelle Revolution“, die mit dem Jahr 1968 assoziiert wird. Die Hippie-Szene und die linke Jugend- und Studentenbewegung experimentierten mit „freier Liebe“, Kommunen et cetera. Das bedeutete einerseits einen tatsächlichen Bruch mit der spießigen Heuchelei der vergangenen Jahrzehnte. Gleichzeitig aber wurden in „der Bewegung“ auch Geschlechterrollen reproduziert: hübsche Frauen als Aufputz für die „Anführer“, Aufwertung von Frauen über „berühmte Genossen“. Teilweise verlangten manche Interpretationen der „freien Liebe“ den Frauen ständige sexuelle Verfügbarkeit ab. Insgesamt wurde die konservative Sexualmoral zurückgedrängt, der Feminismus mit der Zeit offiziell und institutionalisiert, der „Sexualmarkt“ liberalisiert.
Sex- und Attraktivitätsmarkt
Sexualität ist in der kapitalistischen Gesellschaft stark von Marktmechanismen geprägt — und zwar auf verschiedensten Ebenen. In manchen Bereichen ist das offensichtlich. Beispielsweise machte die Pornobranche schon vor dem Coronaregime weltweit einen Jahresumsatz von geschätzten 20 Milliarden US-Dollar. 25 Prozent der Suchanfragen im Internet beziehen sich auf pornografische Inhalte. Darüber hinaus wurde — im Gefolge des Porno-Booms — der ganze Bereich von Sexspielzeug et cetera enttabuisiert und zu einem wachsenden Markt.
Ebenfalls ein riesiger Markt sind längst digitale Plattformen zur Anbahnung von Beziehungen oder unverbindlichem Sex. Und Prostitution ist sowieso weltweit einer der größten Geschäftszweige: Allein in Deutschland wurde der Umsatz der Branche — vor den Coronamaßnahmen — auf 15 Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Unverhüllt um ein Geschäft handelt es sich nach wie vor bei manchen traditionellen Heiraten, wo Arrangements, Mitgiften et cetera im Spiel sind und die durch außereuropäische Zuwanderer auch in Europa wieder zunehmen.
Nicht mehr ganz so offen, aber doch noch klar erkennbar sind die Austauschverhältnisse bei Beziehungen nach dem Strickmuster „alter reicher Mann“ und „schöne junge Frau“ oder „Mann aus Europa oder Nordamerika“ und „junge Frau aus abhängigem Land“, die oft wie in einem Katalog ausgesucht, „bestellt“ und bei Bedarf auch wieder „umgetauscht“ werden. Mag daraus in manchen Fällen tatsächliche Zuneigung entstehen, so ist die Grenze zur Prostitution dennoch fließend. Nicht so offensichtlich wie bei den beschriebenen Formen des Sexmarktes ist der Einfluss der kapitalistischen Marktverhältnisse auf den „Attraktivitätsmarkt“, auf dem die Individuen — insbesondere in den „modernen“ kapitalistischen Metropolen — zueinander in Beziehung treten beziehungsweise miteinander „ins Geschäft“ kommen.
Der Attraktivitätsmarkt, der marktförmige Verhältnisse reproduziert, findet an verschiedenen Orten statt: in Bars, auf Partys, im sozialen Netz, am Arbeitsplatz oder mittlerweile immer öfter in Paarbörsen im Internet. Bestimmt ist das Ganze durch die Konkurrenz der Sex- und/oder Beziehungssuchenden zueinander. Eine Voraussetzung ist die soziale und ideologische Konstruktion des Individuums, versinnbildlicht im Singlehaushalt. In urbanen und besonders studentischen Milieus gelten bestimmte soziale Normen als Voraussetzung: „Erfahrungen gemacht“ zu haben, einmal in einer WG gelebt, einmal allein gewohnt, eine ausreichende Anzahl von Sexualpartnern gehabt zu haben et cetera.
Am Attraktivitätsmarkt sind genug Individuen auf der Suche nach einer Beziehung oder Sex, aber — und das ist Teil der Marktlogik — nicht jeder bekommt jemanden ab. Und man muss selbst „schön“ und „cool“ sein, damit man jemand „Schönen“ und „Coolen“ abkriegt.
Die Ware Attraktivität, die Schönheit und Coolness von Individuen, sind objektive, gesellschaftlich definierte Kategorien und damit Herrschaftsstrukturen. Das Schönheitsregime schafft die „Hässlichen“.
Durch Arbeit und teilweise auch Kapitaleinsatz im Vorfeld des Austauschprozesses lässt sich der Wert der Ware Attraktivität steigern. Dazu gehört das Verfolgen der Mode, sich informieren, einkaufen, um nicht auf den ersten Blick als Hinterwäldler oder als „von gestern“ zu erscheinen. Es bedeutet, den Körper fit zu halten und zu pflegen: Sport, Diät, Rasieren/Epilieren, Schönheitsoperation. Schließlich, vor dem Auftritt auf dem Markt, heißt es „sich schön machen“, also das Richtige anziehen, sich stylen, schminken et cetera. Die Wertsteigerungsmöglichkeiten bleiben aber nicht auf das Aussehen beschränkt: Durch Rhetorikkurse, Flirtseminare und allerlei Fortbildungen zur Hebung des Bildungsniveaus sollen die Chancen erhöht werden. Dazu kommt die kontinuierliche Beratung mit Freunden oder Freundinnen, eine Art Supervision für den Attraktivitätsmarkt.
Schlussendlich muss der Warenwert dann aber auch realisiert werden. Dann heißt es, angepasst an den jeweiligen Marktplatz, witzig sein und lachen, „gut drauf“ sein, notfalls mit Alkohol unterstützt — denn mies gelaunte oder nachdenkliche Langweiler will kaum jemand. Gefragt ist, „cool“ und interessant zu sein, offen, aber nicht zu aufdringlich — denn das wirkt billig. Die Geschäftsanbahnung kann beginnen: schauen und beschaut werden, tanzen und lässig an der Wand lehnen. Zu große Freizügigkeit kann, vor allem bei Frauen, dazu führen, dass ihr Wert sinkt. Und manchmal bleiben teure Produkte unverkauft und können — wenn man auf der Party bis zum Schluss durchhält — dann „unter Wert“ erworben werden.
Am heterosexuellen Attraktivitätsmarkt gilt das Schönheitsregime in erster Linie für Frauen, die besonders nach ihrem Äußeren beurteilt werden, die überproportional den Vorgaben der Modeindustrie und zuletzt auch den Enthaarungsnormen der Pornobranche ausgesetzt sind. Aber auch für Männer gilt die — immer schon überzeichnete — Weisheit der literarischen Figur Tante Jolesch „Was ein Mann schöner is‘ wie ein Aff, is‘ ein Luxus“ längst nicht mehr: Fitte, muskulöse Männerkörper sind ebenso gefragt wie der richtige Haarschnitt und die angesagte Enthaarung. Männer können ein Scheitern an der Schönheitsnorm immerhin noch partiell durch Geld, Macht oder Intellekt ausgleichen. Für Frauen sind diese Möglichkeiten geringer. Aber auch Frauen sind — zumindest in den westlichen Gesellschaften — in viel stärkerem Ausmaß als früher „freie Warenbesitzerinnen“, können also über den Verkauf ihrer Attraktivität selbst bestimmen.
Oversexed and underfucked
Ist das Geschäft am Attraktivitätsmarkt einmal abgeschlossen, steht der Konsum der erworbenen Waren auf der Tagesordnung. Dann herrscht nicht Freizeit oder Erholung, sondern es gilt, auf dem Sex- und Beziehungsmarkt zu bestehen. Es geht nun darum, „gut im Bett“ zu sein, bestimmte Techniken und das zu guten Teilen gesellschaftlich genormte Spiel von laut und leise, von aktiv und passiv zu beherrschen, bestimmte Fassaden und Tabus zu berücksichtigen, zum richtigen Zeitpunkt und oft genug einen Orgasmus zu haben und insgesamt die passende Inszenierung. All das entscheidet schließlich mit über die Wiederholung des Tauschprozesses. Narzisstische Bodycounts sind integraler Bestandteil der Mechanismen am Attraktivitätsmarkt — in den meisten Milieus bei Männern sicher immer noch stärker als bei Frauen. Die Gesetzmäßigkeiten des Schönheitsregimes und von Angebot und Nachfrage wirken in allen Klassen und auch in den „kritischen“ linken Milieus.
Ein Ausstieg aus der Sex- oder Attraktivitätsökonomie ist im Rahmen des Kapitalismus kaum möglich. Was aber durchaus geht und passiert, ist die Bildung oder Erschließung einer Art von „lokalen Märkten“, also von Subkulturen, in denen die vorherrschenden Schönheitsideale und sonstige Attraktivitätsattribute teilweise außer Kraft gesetzt sind. Das heißt aber nicht, dass es in diesen Subkulturen keinen Attraktivitäts- und Sexmarkt gibt. Vielmehr gelten dort alternative Schönheitsregimes und andere Attraktivitätskriterien.
Beispiele für einen solchen „lokalen Markt“ sind die homosexuellen oder Queer-Milieus oder die SM-Szene. Ein spezieller Sexualmarkt hat sich auch zwischen europäischen Frauen, meist zwischen 40 und 70, und jungen Asylbewerbern aus Afrika oder Westasien entwickelt, die von diesen sich Liebe erhoffenden „Sugar Mamas“ umsorgt werden — bis sich der Aufenthaltsstatus ihrer Schützlinge verfestigt hat, die jungfräulichen Bräute nachgeholt sind und die Helferinnen als „alte Huren“ entsorgt werden. Relativ abgeschottete Beziehungsmärkte sind auch bestimmte migrantische Communities, in denen Hochzeiten weiterhin traditionell organisiert werden und in denen westliche Staatsbürgerschaft und Jungfräulichkeit bei Frauen zu den wesentlichen Marktkriterien zählen.
Die im Zuge der „sexuellen Revolution“ geübte Kritik an den monogamen Beziehungsstrukturen und den Begleiterscheinungen wie Besitzanspruch und Eifersucht war nicht antikapitalistisch, sondern die Kritik an einer bestimmten Beziehungsform im Kapitalismus. Tatsächlich wurden infolge des Aufbruches nach 1968 brachliegende Werte der Zirkulation am Attraktivitätsmarkt zugeführt; es kam zu einer Marktliberalisierung. Die Folgen waren eine verstärkte wertförmige Normierung und eine Ausweitung der Konkurrenz.
Durchgesetzt hat sich nicht eine „freie Liebe“, sondern ein wachsendes Angebot an kostenlosem und unverbindlichem Sex. Das führte in den 1970er-Jahren zu einem deutlichen Rückgang der Prostituiertenzahl und einem starken Preisverfall ihrer Dienste.
„Freie Liebe“ im Kapitalismus, also unter der Konkurrenzlogik und dem Schönheitsregime, bedeutet nichts anderes als freier Sexualmarkt. Und das Konzept „offene Beziehung“ ist ein letztlich schwieriger Spagat zwischen zwei kapitalistischen Normen.
Das 21. Jahrhundert brachte eine immer massivere und allgegenwärtige Sexualisierung der Gesellschaft. Vieles wurde enttabuisiert. Gleichzeitig entstanden jedoch neue Normen. Das betrifft Körper und ihre „Schönheit“, aber auch sexuelle Leistungsnormen: Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, Erfolg bei Orgasmen, Anzahl der Sexualpartner. Insbesondere führte die Sexualisierung zu einer Pornografisierung der sexuellen Beziehungen, was sich in Re-Inszenierungen von dem in pornografischen Darstellungen Gesehenen ausdrückt. Immer mehr Menschen müssen an Teilen von oder all diesen neuen Normen scheitern, verstecken ihre „unzulänglichen“ Körper, leiden unter sexueller Lustlosigkeit und haben immer weniger Sex und/oder sexuelle Beziehungen.
Die Frustrationen des freien Sexualmarktes sind eine wichtige Basis für die Bedeutung, die Ideale von romantischer Monogamie und Treue für viele Menschen haben. Das hat auch eine reale Basis, denn tatsächlich kann eine funktionierende feste Zweierbeziehung ein Zufluchtsort sein, wo man vor all der Konkurrenz, dem Stress und den Unwägbarkeiten des Attraktivitätsmarktes, aber auch der Konkurrenz und der Kälte der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt in Sicherheit ist, sich geborgen fühlen kann, wo intensive menschliche Nähe Platz finden kann. Natürlich kann sich diese Sicherheit immer wieder als trügerisch herausstellen — siehe Scheidungs- und Trennungsraten. Dennoch ist ein Leben in dem Refugium Zweierbeziehung für die meisten Menschen weiterhin das, was sie anstreben.
In Teil 2 wird es um transhumanistische Konzepte, um sexuelle Transhumanisierung, um Corona-Sex und die Folgen des Porno-Booms sowie um Entbiologisierung und Gender-Ideologie gehen.
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