Nirit Sommerfeld: Drei Dinge noch: Krieg, Verhinderungen, Licht
„Wie kann es sein, dass Juden in Deutschland seit Jahren des Antisemitismus bezichtigt werden? Dass sie ausgeladen oder gar nicht erst eingeladen werden, nur weil sie finden, dass die israelische Regierungspolitik öffentlich kritisiert werden muss? Weil sie Palästinenser als gleichberechtigte Menschen, ja! — als MENSCHEN betrachten, denen Menschenrechte zugestanden werden müssen und die nicht weiterhin wie seit Jahrzehnten unter Besatzung in all ihren Rechten beschnitten werden dürfen? Warum begreifen deutsche Politiker und Institutionen, die sich mit Recht Juden gegenüber in einer historischen Pflicht sehen, nicht, dass die Sicherheit Israels sich niemals durch bloße Waffengewalt herstellen lässt, auch nicht durch noch so perfektionierte Besatzungsverwaltung, sondern im Gegenteil diese Form von Kontrolle, Rache, Vergeltung und Gewalt einen Hass und Gegengewalt sät, die in Jahrzehnten nicht zu einem sicheren Frieden führen wird?“ Nirit Sommerfeld
Liebe Brieffreundin, lieber Brieffreund,
gefühlt ist das mein 27. Versuch, diesen Brief zu schreiben. Soll ich beginnen mit:
Heute morgen wieder, wie jeden Morgen, als erstes die Daten der UNO-Organisation OCHAoPt gelesen: …in Gaza at least 18,787 fatalities and about 50,594 injuries…
Oder soll ich schreiben:
Seit dem 7. Oktober schwebt die Zahl „1.200 Tote“ wie ein Menetekel über meinen Gedanken, denn Israel handelt nicht nur nach dem Prinzip „Aug’ um Auge“, sondern auch nach dem Prinzip, dass für jeden getöteten Israeli zehn Palästinenser getötet werden müssen. Die Zahl 12.000 ist längst überschritten, und ich stelle mit Entsetzen fest, dass wir die Toten nur anfangs dutzendweise zählten und jede Zahl, jeder einzelne Tote uns erschaudern ließ, während wir mittlerweile nur noch in Tausender-Schritten zählen. Die Erschütterung fühlt sich taub an.
Mir ist in diesem Krieg noch einmal deutlich geworden, dass wir — ich meine wir, die darüber sprechen und berichten und warnen und mahnen — dass wir uns immer wieder bemühen müssen zu unterscheiden zwischen unserer emotionalen Sichtweise und der politisch-analytischen Betrachtung. Und dass das fast nicht zu trennen ist.
Zum desaströsen kriegerischen Wahnsinn in Gaza, zu Massenmord und Vertreibung, zur geplanten „großen Nakba“ meiner israelischen Regierung (die nicht in meinem Namen spricht!), zum US-Veto gegen Waffenstillstand (1 Stimme gegen alle anderen… wie nur kann man dagegen sein, die Waffen ruhen zu lassen?!), zu wiederholten deutschen Aufrufen, an der Seite Israels zu stehen (welches Israel genau ist gemeint? Das heutige rechtsradikal regierte? Das von vor 1967? Oder das Israel, das einst im Schatten des Holocaust Juden einen sicheren Hafen und gleichzeitig all seinen Bewohnern gleiche Rechte versprach?), zu einer drohenden Eskalation, die eine täglich größere Gefahr für die ganze Region darstellt (was geschieht nach dem Krieg, wenn also Gaza zerstört und von 2 Millionen Flüchtlingen die meisten obdachlos sind? Wird Ägypten ein neues Freiluftgefängnis im Sinai akzeptieren? Wird die Hamas wirklich eliminiert sein? Wird die arabische Welt ihre gegen Israel gerichteten Krieger und Raketen noch zurückhalten können/wollen? Wird sich dann die USA einmischen und womöglich dann auch der Iran? Wird, wie es die Staatsräson verlangt, Deutschland seine Soldaten aussenden, um an Israels Seite für die Sicherheit des jüdischen Staates zu kämpfen? Wird Israel das überleben??) — zu all dem kann ich nichts weiter tun als verzweifelt alle Menschen darum bitten, sich für eine De-eskalation einzusetzen! Geht auf die Straße, unterschreibt Petitionen für sofortigen Waffenstillstand und für Verhandlungen, um Geiseln und Gefangene zu befreien! Sprecht mit Euren Nachbarn, Freundinnen, Kolleginnen, mit Gleich- und vor allem mit Andersgesinnten und sprecht Euch aus für das, wofür ich in vielen Gesprächen stummes Kopfnicken ernte:
Frieden wird es nur mit Gerechtigkeit für alle geben.
Dafür müssen wir uns alle stark machen und lauter werden als die Kriegstreiber!
Und damit bin ich beim zweiten Thema dieses Briefes: Sich frei aussprechen heißt, über all die Dinge, über Historie und Fakten und Widersprüche laut und öffentlich nachzudenken, ohne dafür abgestraft zu werden. Wer ein bisschen Hannah Arendt gelesen hat, weiß: Das Sprechen ist ein Akt des Handels — und ja, dabei kann der Mensch Fehler machen (und sich nötigenfalls entschuldigen). Nun soll ausgerechnet der Hannah-Arendt-Preis an Masha Gessen, eine in der Sowjetunion geborene jüdische, denkende, schreibende, intellektuelle handelnde Person nicht verliehen werden. Ich konnte in ihrem langen, sehr lesenswerten Essay im New Yorker keine Fehler entdecken; sie macht sich sehr persönliche und große politische Gedanken und beschreibt an einer Stelle Gaza mit einem Ghetto. Das führt zu einem Aufschrei in der Bremer Deutsch-israelischen Gesellschaft — und zack! — schon ist die Preisverleihung abgesagt. Eigentlich eine Provinzposse, doch leider ist dies kein Einzelfall. Einer der größten Skandale ist die bevorstehende Schließung des Berliner Kulturzentrums Oyoun . Der Vorwurf: „versteckter Antisemitismus“, weil Oyoun mit der Jüdischen Stimme (sic!) eine Veranstaltung durchgezogen hat und die Leitung sowie das ganze Team nicht vor den Drohungen eingeknickt ist. Die Strafe folgte auf dem Fuße — eine unerhörte Entwicklung und eine große Gefahr für unsere Demokratie.
Für mich ist es mein täglich Brot, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, aber wenn ich es dann, wie jetzt hier, aufschreibe, greife ich mir wieder mal an den Kopf. Wie kann es sein, dass Juden in Deutschland seit Jahren des Antisemitismus bezichtigt werden???? Dass sie ausgeladen oder gar nicht erst eingeladen werden, nur weil sie finden, dass die israelische Regierungspolitik öffentlich kritisiert werden muss? Weil sie Palästinenser als gleichberechtigte Menschen, ja! — als MENSCHEN betrachten, denen Menschenrechte zugestanden werden müssen und die nicht weiterhin wie seit Jahrzehnten unter Besatzung in all ihren Rechten beschnitten werden dürfen? Warum begreifen deutsche Politiker und Institutionen, die sich mit Recht Juden gegenüber in einer historischen Pflicht sehen, nicht, dass die Sicherheit Israels sich niemals durch bloße Waffengewalt herstellen lässt, auch nicht durch noch so perfektionierte Besatzungsverwaltung, sondern im Gegenteil diese Form von Kontrolle, Rache, Vergeltung und Gewalt einen Hass und Gegengewalt sät, die in Jahrzehnten nicht zu einem sicheren Frieden führen wird? Das BDS-Argument zieht hier gar nicht, denn ob man Boykott gut oder schlecht findet, kann man sich in einer Demokratie aussuchen, das ist Meinungs- und Geschmackssache. Dass BDS per se nicht antisemitisch ist, sollte mittlerweile durch eindeutige Gerichtsurteile hinlänglich bekannt sein.
A propos Kontrolle: Vorletzte Woche enthüllte das israelische Magazin +972 in seinem Bericht den Einsatz von KI-gestützter Technologie im jetzigen Gaza-Krieg. Der Titel zitiert einen ehemaligen Geheimdienstoffizier, der so wie andere Quellen anonym bleiben will: ‘Eine Massenmord-Fabrik’: Israels kalkulierte Bombardierung des Gazastreifens . Aussagen früherer israelischer Militärs und Geheimdienstler zufolge operiert die IDF mit einer KI, die um ein Vielfaches schneller Ziele bestimmt, die dann ohne weitere menschliche Kontrolle bombardiert werden. Achtung: Die Bilder und Aussagen sind heftig.
Drittens: In der dunkelsten Jahreszeit sind Religionen und Mythologien bemüht, Licht in die Welt zu bringen — eine schöne Tradition, der ich mich mit unserer Konzert-Lesung JIDDISCHE WEIHNACHT alljährlich anschließe. In diesem Jahr werden wir dieses Programm am kommenden Samstag, den 16. Dezember um 20 Uhr in Chemnitz spielen, einen Steinwurf entfernt von dem Platz, an dem mein Großvater Julius lebte und wirkte und dessen Geschichte den roten Faden in der JIDDISCHEN WEIHNACHT spinnt.
Am Montag Abend erlebte ich in Chemnitz das öffentliche Zünden der Channuka-Kerzen an einem zentralen Platz; im Hintergrund hielten Pegida und andere Rechte ihre wöchentliche Montags-Demo ab. Die Chemnitzer Jüdische Gemeinde hatte für jede Kerze eine Patenschaft vergeben; am Montag hatte die Patenschaft für die fünfte Kerze ein Syrer. Hier ein Ausschnitt seiner Rede.
5. Kerze in Chemnitz (YouTube-Video)
Zum Schluss noch eine Liste mit den besten Publikationen zum Thema Israel-Palästina. Fürs Neue Jahr, in dem ich mich zu Beginn ein wenig zurückziehen werde, wünsche ich Dir das Allerbeste und hoffe, dass mit dem Licht auch Erleuchtung einziehen möge und wir friedlicheren Zeiten entgegengehen.
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Herzlichst, Nirit
- Michael Lüders bringt in einer guten Stunde alle wichtigen Themen in seinem Videoblog „Staatsraison“ und Kreisliga verständlich auf den Punkt:
- Haaretz: Gideon Levy benutzt das Bild eines Dampfdrucktopfes, in den die Palästinenser gezwängt sind; all seine Artikel findest Du HIER .
- medico international ruft nicht nur zu Nothilfe-Spenden für Gaza auf, sondern wirbt auch für die Petition Ceasefire NOW
- Judith Butler im Interview mit der Frankfurter Rundschau: „(…) ich versuche, eine Geschichte zu kontextualisieren, die nicht am 7. Oktober beginnt (…)“
- Pulitzer-Preisträger Chris Hedges hat einen eigenen Blog und schreibt u.a. über den Boomerang, den Israel mit seinen Angriffen auf Gaza auswirft
- Wer weniger lesen, sondern lieber hören will: MONDOWEISS hat auf allen gängigen Kanälen einen eigenen Podcast
- Deutschlandfunk berichtete in einer kurzen Nachricht vom Tod des Literaturprofessors und Dichters Refaat Alareer bei einem Luftangriff auf Gaza. Sein letztes Gedicht heißt:
If I must die, let it be a tale
If I must die,
you must live
to tell my story
to sell my things
to buy a piece of cloth
and some strings,
(make it white with a long tail)
so that a child, somewhere in Gaza
while looking heaven in the eye
awaiting his dad who left in a blaze—
and bid no one farewell
not even to his flesh
not even to himself—
sees the kite, my kite you made, flying up
above
and thinks for a moment an angel is there
bringing back love
If I must die
let it bring hope
let it be a tale
Refaat Alareer (23. Sep 1979 – 6. Dez 2023)
Ich hatte ja schon öfter erwähnt dass ich frei sprechen kann weil ich keine Schuld habe, keine hatte, aber auch das soll hier nicht sein, ich sollte mich * schuldig * fühlen nur weil ich hier geboren wurde –
wenn ich mich diesem * Schuldzwang * nicht unterwerfe, dann wäre ich ein Antisemit….
aber, wie sie es ja auch richtig sagen MUSS man Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen, das dürfte ich aber nicht weil ich Deutscher bin ?
Nein ! – mit mir ist derlei Schulderzwingung nicht zu machen, nicht mittels * Staatsräson “ aufzuzwingen,
auch nicht vom Zentralrat aufzudiktieren und es ist wohl eher so dass eine weltweite Ächtung die Verantwortlichen in Israel diese endlich zur Raison bringen würde.
Entweder gibt es ein Völkerrecht oder es gibt solches nicht, wenn es das gibt dann sind die Verantwortlichen in Israel deutlichst und unentwegt anzuklagen ! –
und das seit 65 Jahren.
Bleiben sie aufrecht dem Menschenrecht verpflichtet, sie haben es schwerer als ich.
Danke, Frau Sommerfeld, für Ihre kluge Stimme, und für diesen wichtigen, couragierten Artikel. Ich finde es trostvoll und ermutigend , wie viele Jüdinnen und Juden sich gegen den Krieg, gegen die Bombardierung der Zivillbbevölkerung Gazas aussprechen, und für eine Versöhnung, für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben mit den Palästinensern. Die Zahl dieser Menschen wächst, auch wenn in den Leitmedien immer wieder der Eindruck vermittelt wird, es gäbe sie nicht.-
Die Jüdin und kanadische Künstlerin/Filmemacherin _Yula_Benevolski_ hat kürzlich als Zeichen des Protestes gegen die anhaltende Bombardierung Gazas ihre israelischche Staatsbürgerschaft zurückgegeben:
https://www.youtube.com/watch?v=BWZSOZHy9WE