Alexanders Albumtipp am Sonntag: Reinhard Mey – Das Haus an der Ampel

 In CD-Tipp

Reinhard Mey veröffentlicht seit stolzen 53 Jahren Tonträger, und mit dem im Mai 2020 bei Universal erschienenen 28. Studioalbum „Das Haus an der Ampel“ krönt er sein Alterswerk mehr als würdig. (Alexander Kinsky)

Fast 75 Minuten füllen die 16 großteils ausführlich erzählenden, feinfühlig von Manfred Leuchter arrangierten Strophenlieder – fast 75 Minuten ausgefüllte Lebenszeit voller musikalischer, liedpoetischer Lebensweisheit darf man da mitleben. Der Grundton ist ernst und würdig. Gelegentlich durchschimmernder Humor fließt unaufdringlich ein. Reinhard Meys Stimme ist brüchig geworden, damit aber umso großartiger authentisch.

Das Album wurde als Doppelalbum veröffentlicht. Auf der zweiten CD gibt es alle Lieder noch einmal, aber nur von Reinhard Mey auf der Gitarre begleitet – möglicherweise eine „Vorsichtsmaßnahme“, falls es doch nicht mehr zu einer größeren Tournee kommen sollte, aber die Fans dann die ja auch immer sehr beliebten „Unplugged“-Livefassungen vermissen könnten. Eine Spezialauflage mit größerem Hardcover-Buch mit erweitertem privatem Bildmaterial zu den einzelnen Liedern liegt auch vor.

Hört man das Album durch, fügen sich drei Abschnitte zusammen. Die ersten Lieder wiegen schwer, die mittleren Lieder kommen eher leichter daher, und gegen Ende gleicht es sich altersweise aus.

Über viele Jahre konnte man durchaus witzeln „Reinhard Mey kann wirklich zu jedem Thema ein Lied beitragen“. Und wie er das kann, auch hier wieder: der Bleistift, mit dem er seine Lieder schreibt, der treue Haushund, die guten Lebensfreunde, das Glücksgefühl der Menschen die Eis essen, die meist aufdringlichen Menschengruppen in der Öffentlichkeit sowie allerlei Hotelzimmer – sprachlich fein geschliffen und stets wunderbar einfühlsam bringt Mey anekdotisch bis poetisch-analytisch Alltagssituationen in seine typische Liederzählform. Alle diese Lieder reihen sich in die beim breiten Publikum beliebten Lieder ein, in denen sich praktisch jede, jeder irgendwo wiederfinden kann.

Dann gibt es einmal mehr persönlichere Lieder. Das eröffnende Lebensherbstlied Im Hotel zum ewigen Gang der Gezeiten legt atmosphärisch ungemein eindringlich den Grundton frei, der nichts beschönigt und doch alles liebend verklärt und liedpoetisch überhöht. Der Vater und das Kind besuchen ein Reinhard Mey Konzert, und wie nahe es dem Künstler geht, diesen Vater mit seinem Rollstuhlkind im Publikum wahrzunehmen, diese liebende Weltoffenheit im kleinsten vielfach das Leben belastenden Bezugssystem, so nahe ist man als Zuhörer dabei, tief betroffen und demütig. Wesentliche Karrierestationen erlebte Reinhard Mey In Wien, ihm offenbar wichtig genug, dieser „Schwesterstadt“ (Mey) seiner Geburtsstadt Berlin auch noch ein Lied zu schenken, ein ganz spezielles Liebeslied, nicht anbiedernd, sondern tiefgehend herzlich, wie alle Lieder dieses Albums. Gerhard und Frank waren zwei Lebensfreunde, die durch Dick und Dünn gingen, aber eine Krebsdiagnose verändert alles. Reinhard Mey traut sich, uns auch in so eine zwischen Zürich und einem Kaffeehaus endende Geschichte mitzunehmen. Betroffenheit erzeugt er auch hier nicht voyeuristisch und plakativ, sondern auf seine ganz eigene Art ungemein einfühlsam.

Und dann sind da noch die ganz persönlichen, die familiären Lieder. Die gehen diesmal extrem nahe – Lebensbilanz und Rückschau sowie Gegenwart.

Gegenwart: Bleib bei mir beschreibt bewegend offen aber auch nie voyeuristisch, wie schwierig es sein muss, als an sich standfester Mensch auch langfristig mit einer überfordernden Lebenswendung zurechtzukommen. Die nahezu flehentliche Bitte dieses Liedes wird auf berührende Art beantwortet und harmonisiert, aber nicht im Lied selbst, sondern eher versteckt, auf einer Seite der Buch-Sonderauflage. Man ist sehr erleichtert, diese Seite entdecken zu dürfen. Ein poetisch-naturverbundenes Wiegenlied fürs Enkelkind darf hier auch nicht fehlen. Hier lohnt es besonders, auch nur den Text zu lesen. Wenn es eines letzten Beweises bedurfte Reinhard Mey einen großen Dichter zu nennen – hier ist er.

Lebensbilanz und Rückschau: Durchaus selbstbewusst kann Mey konstatieren – Wir haben jedem Kind ein Haus gegeben. Wie völlig verschieden die Häuser geworden sind, geht selbstverständlich sehr, sehr nahe.

Noch deutlicher, sogar ganz konkret wird er im über acht Minuten langen Titel- und Hauptlied des Albums Das Haus an der Ampel, das anrührt wie selten ein Mey-Lied zuvor (und das will was heißen). Das John Lennon „Norwegian Wood“ Zitat, das immer wieder anklingt, weckt wehmütige Vertrautheit. Reinhard Mey, am CD-Cover im wie immer großartigen Jim Rakete Coverfoto aus dem Auto blickend, fährt am Elternhaus vorbei, und die Erinnerungen werden aneinandergefügt, den Bogen über drei Generationen spannend. Man muss heulen bei so einem Lied, so wunderbar fürchterlich nahe geht das.

Das vorletzte Lied Was will ich mehr zieht allgemein harmonisierend und abrundend Bilanz und blickt künstlerisch-anekdotisch frech-witzig auf eine mögliche Todesart vor. Einmal noch blitzt da der Schelm durch, der alles vom Haderlumpen- und Künstlerleben (von dessen Freuden und Verwerfungen!) weiß, solidarisch und selbstironisch.

Scarlet Ribbons (For Her Hair) ist ein amerikanischer Schlager aus dem Jahr 1949, geschrieben von Evelyn Danzig und Jack Segal und erstveröffentlicht von Jo Stafford. Die Geschichte vom Vater und seiner Tochter mit ihrem Wunsch nach “scarlet ribbons for her hair” lässt Mey-Werkkenner sicher gleich an die Mey-Lieder Kleines Mädchen (1990) und Spangen und Schleifen und Bänder (2013) denken. Scarlet Ribbons wurde zu einem Standard und unzählige Male gecovert, unter anderem von Harry Belafonte (1952), The Browns (1959) und Cliff Richard (1991), aber auch von Joan Baez, Glen Campbell, The Cats, Perry Como, Michael Crawford, Bing Crosby, Doris Day, Burl Ives, Frankie Laine, Trini Lopez, Willie Nelson, Sinéad O’Connor, Roy Orbison, Roger Whittaker und vielen anderen. Folgerichtig, vielleicht auch als “Staffelübergabe an die nächste Generation”, ist er hier zum Abschluss des Albums als berührende Duettversion Meys mit seiner Tochter Victoria-Luise zu hören.

Von „Ich wollte wie Orpheus singen“ (1967) bis „Das Haus an der Ampel“ (2020) – was für ein gewaltiger Liederbogen scheint sich da abzurunden!

Ja, das so persönliche Album „Das Haus an der Ampel“ hat schon etwas ziemlich Abrundendes, etwas doch dezidiert-eindeutig Finaleskes. Aber bei Künstlern weiß man ja nie…

Die Homepage von Reinhard Mey: https://www.reinhard-mey.de/

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