Auf Seiten der Menschlichkeit: Anna Rottensteiner

 In FEATURED, Poesie

Poesie und Widerstand: Die Lyrik-Reihe auf „Hinter den Schlagzeilen“, ausgewählt und kommentiert von Siljarosa Schletterer.

 

Franz Wassermann: ‚WE WOULD NEVER PUT THAT IMAGE ON PAGE 1‘

DIE HÄLFTE DES LEBENS
Vorbeigezogen im Traum
Dann nüchterne Zeiten
Nun gefrieren sie
und brennen vor Kälte.
Die Mauern, von denen er spricht,
sind voll der Worte, nicht sprachlos
Worte des Hasses und der Gewalt.

Die Fahnen klirren wieder.
Die Kälte gleichgeschalteter Hirne.
Das eisige Loch im Herzen fast aller.
Meine wilden Rosen
Verblühen
Im sonnigen Steinbruch
Fern von hier.

Franz Wassermann: chilling-9-11-photo-shows-moments-after-plane-struck-twin-towers

 

OUTOPOS
Nämlich der Mensch.
Muss rein bleiben.
Sagt jener.

Nicht sprachlos bleiben.
Die Sprache ist auch meine.
Nicht nur die der
Machtliebendenhasser
Spaltzungenverhetzer
Heilsbotschaftenfälscher
Lügeninsvolkschleuderer
Frauenverachtungsmaniker

Deren
Rassenreinheitimgeschminktengesicht
Nicht zu zerschlagen
Ist der Akt der mir
Die ich rein bleiben will
Nämlich als Mensch
Jene Kraft abverlangt
Die ich meinem
Geliebten Nichtort
Dadurch entziehe.

 

 

Europa
Jagtest mit ihm übers Meer.
Er, dein Schiff mit den hellen Locken,
Sie hatten’s dir angetan,
Piratin du, noch voll der Träume.
Doch waren sie nichts im Vergleich
Zu den Farben und Wellen des Meeres
Azurblau und kühl aus der Tiefe
Gischt spritzt noch lange euch hinterher.

Hinweg übers Meer, der Enge entflieh’n.
Zeus, deine Fähre der Bulle
An Schiffen vorbei, schneller als sie
Die nach Jahrtausenden noch
Nordwärts von Süden her zieh’n
Träume an Bord, doch sie platzen
Lampedusa Palermo Neapel
An der Via Domitiana zerschellt
Riffe, mit denen keiner gerechnet
Das Festland versperrt, Feindesland
Dein Festland Kreta
Ein Verhältnis, das über Jahre
Auf Täuschung gebaut, Gewalt und Verrat
Immer wieder kam er zu dir
drei Söhne mit ihm
Minos, Feind der Piraten
Sarpedon, Herrscher von Lykien,
Rhadamanthys, Richter der Toten
Sie alle Söhne der dunklen Gewässer
Schwarz nun und düster das Meer
An der Oberfläche treiben die Körper
Nach Jahrhunderten noch, immer mehr

Deine Töchter sie weinen
Mütter nun, in Damaskus,
Asmara, Berbera, Barentu, Assab

Zu dir schicken sie ihre Söhne und Töchter
Zu finden das, was
auch du, als du loszogst
Gesucht.
Gutgläubig gut hoffend wie du
Sind auch sie, deine Söhne und Töchter
Körper an Körper gepresst auf den Schiffen
Das Bild ihrer Herkunft am Herz
Treibgut am Strand,
das ist es, was bleibt
Ohne Namen, doch ihr Gesicht
Das lacht uns entgegen.

Ihre Haut schimmert dunkel
Wie auch die deine, Europa,
Verschleppt und entzaubert,
aber am Leben
wie auch jene der Hirtin der Häfen und Wasser
deiner Verbündeten, Mutter des Kontinents
genau so wie du.

 

 

Von der Macht und der Verantwortung, von brennender Sprache und fühlendem Herz: Gedanken zu Anna Rottensteiners Gedichten (Siljarosa Schletterer)

Sprache kann missbraucht werden und Sprache wird missbraucht.  Dabei nicht zu verstummen und die eigenen wilden Rosen vergessen machen, stellt eine Aufgabe dar, muss Aufgabe sein. Dass wir nicht sprachlos bleiben dürfen, zeigt uns Anna Rottensteiner in ihren Zeilen immer wieder auf. Denn „Die Sprache ist auch meine“, sie gehört auch uns allen, wir sind SPRACHMÄCHTIG. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wie das lyrische Ich in den Gedichten. Um Mensch bleiben zu können, liegt es in unsrer Verantwortung einer machtliebenden, spaltendenden Sprache eine Sprache der Verständigung, eine Sprache des Mehrs und Vielschichtigkeit entgegenzusetzen. EINE SPRACHE DER POESIE.

Anna Rottensteiner, geboren 1962 in Bozen, studierte Germanistik und Slawistik in Innsbruck, wo sie nach dem Studium als Buchhändlerin und Lektorin arbeitete. Seit 2003 leitet sie das Literaturhaus am Inn. Sie ist zudem als Herausgeberin, Jurorin, Moderatorin, Organisatorin und Rezensentin tätig. Ihre intensive Auseinandersetzung mit Literatur führte sie auch zum eigenen Schreiben: 2013 erschien ihr Roman »Lithops. Lebende Steine« (edition laurin), der 2017 ins Italienische übersetzt wurde; 2017 folgte der Roman »Nur ein Wimpernschlag«. Sie ist Gewinnerin des Internationalen Preises Merano Europa für die beste Lyrik-Übersetzung aus dem Italienischen ins Deutsche (2017): https://www.passirio.it/premio-letterario-merano-europa-dodicesima-edizione-2017/traduzione-dall-italiano-al-tedesco-2017/

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