Bedrohliche Sicherheit

 In Georg Rammer, Politik (Inland)

„Precog“ (Medium, das die Zukunft sehen kann) in Spielbergs Film „Minority report“

Wer Zukunft sicher gestalten will, muss sie präzise vorhersagen können – eine fast esoterisch zu nennende Fähigkeit, in die unseren geplagten Innenpolitikern in unsicheren Zeiten abverlangt wird. Wo prägognitiv begabte Medien – wie in Spielbergs Film „Minority Report“ gezeigt – fehlen, müssen Computer und Algorithmen diese Funktion übernehmen. Die können nämlich aufgrund objektiver Daten ganz genau vorhersehen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sie oder ich irgendwann einen Terroranschlag verüben werden. Das Schlimme ist: diese Vorhersagen könnten sogar stimmen, denn miese soziale Umstände machen es einfach wahrscheinlicher, dass jemand einmal gegen Gesetze verstößt. Anstatt diese Umstände zu verändern, stigmatisiert die Politik lieber die Betroffenen. Nähern wir uns dem Zeitalter der Präventivknäste? (Georg Rammer, Erstveröffentlichung in „Ossietzky“, www.ossietzky.net)

Bundesinnenminister de Maizière verkündete vor knapp zwei Jahren in der Bild-Zeitung: „Ich mache Deutschland sicherer!“ Er setzt dabei auf Predictive Policing, die Vorhersage von Tatmustern auf der Grundlage der Auswertung von Massendaten. Auch nach Ansicht der Landeskriminalämter ist die Zukunft der Sicherheit digital. Solang es um Aufklärung und Verhinderung von Wohnungseinbrüchen geht, wird kaum jemand Einwände erheben: Statt farbiger Stecknadeln auf großen Wandkarten der Polizei erzeugen Computer aus Daten über Ort, Zeit, Art der Beute und Einbruchsmerkmale tatspezifische Muster, die den Beamten die Arbeit erleichtern können. Die Methode des Predictive Policing ist zwar nicht besonders effizient, wie Statistiken zeigen, aber die Präkogs, Mutanten aus dem Science-Fiction-Klassiker „Minority Report“, die Verbrechen vorherzusagen imstande sind, können nun real durch Algorithmen abgelöst werden.

Bei der Aufklärung von Wohnungseinbrüchen wird es mit Sicherheit nicht bleiben. Die Entwicklung neuer Software zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten schreitet ebenso voran, wie die Zahl privater Sicherheitsfirmen zunimmt, die sie nutzen oder verkaufen.

Große Firmen verwenden ohnehin schon Prognose-Programme zu Personalauswahl und -einsatz, und milliardenschwere Internetkonzerne führen gigantische Mengen persönlicher Daten zusammen, um Persönlichkeitsprofile zu erstellen. Und da sollen sich Kripo und Geheimdienste raushalten? Nicht nur die Digitalisierung, auch die Ökonomisierung der Sicherheit erscheint unaufhaltsam, zumal sich in den USA die Zahl der Gefangenen seit 1970 versiebenfacht hat – wobei offen bleiben muss, ob wachsende Kriminalität den sprunghaften Anstieg der Zahl privater Knäste erzwingt oder eher umgekehrt.

Ein gigantischer Datenpool verlangt geradezu nach einer anlasslosen, automatischen Rasterfahndung. Wer wird schon zu bestreiten wagen, dass die Verhinderung von Gewaltverbrechen das Sammeln und Zusammenführen personenbezogener Informationen nicht nur rechtfertigt, sondern geradezu moralisch erzwingt. Und nach Ansicht der Befürworter des Predictive Policing weisen nur übersensible Sozialwissenschaftler auf das Dilemma hin, dass Korrelationen, rein statistische Zusammenhänge also, auch völlig unschuldige Menschen einem Generalverdacht aussetzen. Aber wenn es doch der Sicherheit dient!

Betroffene, oft Menschen ethnischer Minderheiten, werden anders reagieren. Denn den scheinrationalen, scheinobjektiven Algorithmus, der sie zu Verdächtigen macht, werden sie nicht widerlegen können, auch wenn er als Vorverurteilung wirkt. Racial Profiling, das Handeln von Sicherheitskräften nach äußeren Merkmalen, trifft sie ohnehin schon brutal, manchmal sogar tödlich. Ein mit statistischen Massendaten gefütterter Computer wird sie erst recht als verdächtig markieren – umso mehr, als die scheinbar objektiven empirischen Daten die Wahrnehmung der Kripo und der Terroristenfahnder vorbahnen und ihr Handeln prägen. Wie stark tief verwurzelte und staatlich sanktionierte Einstellungen das Vorgehen von Polizei und Geheimdiensten beeinflussen oder sogar bestimmen, können wir im Fall der immer wieder verhinderten Aufklärung der NSU-Morde verfolgen und auch beobachten, wie unterschiedlich Terror gewertet und geahndet wird, je nachdem, ob er als fremdenfeindlich-rassistisch oder als salafistisch etikettiert wird.

In der öffentlichen Aufmerksamkeit drohen grundlegende Aspekte des Themas gänzlich unterzugehen. Überzeugte Vertreter der Vorhersage-Programme behaupten, schon für ungeborene Babys könnten sie mit signifikanter Wahrscheinlichkeit vorhersagen, ob diese später mal Verbrecher werden. Fatal ist nicht die überhebliche Allmachtsfantasie hinter dieser Aussage; fatal ist vielmehr, dass sie stimmt. Die eingegebenen Daten, aus denen die Prognosen für bestimmte Populationen errechnet werden, stammen nämlich aus der sozialen Realität. Zwar hat der Programmierer eine gewisse Definitionshoheit über die Eingabekriterien und damit auch über die Bewertung unsozialen Verhaltens. Aber entscheidend ist, dass eine radikale soziale Ungleichheit, die sich an Wohnviertel, Ausbildung, Einkommen, Ethnie festmacht, stark den Werdegang und die Lebenschancen der Menschen prägt. Nicht die Ergebnisse der Vorhersage-Programme sind also diskriminierend; diskriminierend ist die soziale Realität! Ein enger statistischer Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Ungleichheit und sozialen Schäden und Krankheiten ist eindeutig erwiesen und betrifft nicht zuletzt reiche Länder (vgl. Richard Wilkinson/Kate Pickett: „Gleichheit ist Glück“, 2009, aus dem Englischen von Edgar Peinelt und Klaus Binder). Die Studie „U.S. Health in International Perspective: Shorter Lives, Poorer Health“ zählt all die Krankheiten auf, bei denen die USA „führend“ sind, und stellt fest: „In keinem anderen hoch entwickelten Land der Welt ist die Wahrscheinlichkeit, dass man seinen 50. Geburtstag nicht mehr erlebt, so groß wie in den USA.“

Vorhersagen kriminellen Verhaltens aus Massendaten sind eine Form von Sozialrassismus. Denn die Daten über Risiko- und Belastungsfaktoren werden nicht dafür verwendet, diese zu bekämpfen und zu beheben; vielmehr werden die Menschen generalisierend abgestempelt, die unter ihnen zu leiden haben und von denen einzelne vielleicht tatsächlich kriminell werden. Genau zu verfolgen war dieser sozialrassistische Effekt der Politik nach den sozialen Unruhen von Paris und London, als in abgehängten Stadtteilen Jugendliche aufbegehrten, „Respekt und Gerechtigkeit2 forderten, aber auch eine hassgetriebene Gewalt eskalierte. Politiker reagierten nicht mit Ursachenforschung und -bekämpfung, sondern mit Hetze (wie der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy, der 2005 die unruhigen Pariser Vorstädte „kärchern“ – „nettoyer au karcher“ – wollte, www.ina.fr/video/I09086606) und polizeilicher und juristischer Gewalt.

Ein weiterer Aspekt geht oft sogar in kritischen Betrachtungen unter. Die Definition von Kriminalität, von Gewalt und sozialschädigendem Verhalten ist eine Form der Machtausübung und hilft, die Herrschaft einer Elite oder Klasse zu sichern. Alle Programme für Vorhersagen, alle Kriterien für die Rasterfahndung erfassen nur einen bestimmten Ausschnitt von Kriminalität und Asozialität, sparen aber systematisch die Gewalt und die gemeinschaftsschädigenden Machenschaften elitärer Institutionen aus. „Kriminalität“ ist in Deutschland meist Kriminalität „kleiner Leute“.

Durchaus nützlich für die Gesellschaft könnte ein Atlas von Gemeinschaft schädigenden Handlungen sein, der auch Steuerhinterziehung, Menschenrechtsverletzungen und Klimaverbrechen einbeziehen würde. Müsste eine weniger voreingenommene Presse es nicht Verbrechen nennen, wenn Gemeineigentum, wenn die Daseinsvorsorge durch Freihandelsverträge wie TiSA reichen Investoren zum Kauf angeboten werden sollen? In welchen Statistiken von Polizei und Verfassungsschutz tauchen die „Warlords“ der Rüstungskonzerne auf oder „Oligarchen“, die Gemeinschaftseigentum verhökern? Wo sind „Mafiosi“ erfasst, die mit Wasser und Wohnungen Geschäfte machen, oder Spekulanten, die mit Nahrungsmittelverteuerung Kinder töten? Eine systematische Weiterentwicklung des von LobbyControl herausgegebenen Reiseführers durch den „Lobbydschungel2, über Lobby-Organisationen und Netzwerke im Berliner Regierungsviertel, könnte die Orte durchleuchten, an denen in geheimen Absprachen mutmaßlich kriminelle Akte wie Abgas-Manipulation, Cum-Ex-Deals, sozialschädigende Steuervermeidung von Konzernen mit erheblicher krimineller Energie getroffen und verabredet werden; sie könnte die Verfolgung solcher Verbrechen effizienter machen. Es ist dabei nützlich zu wissen, dass auf jeden Euro Sozialmissbrauch, der scharf verfolgt wird, 1388 Euro an Steuerhinterziehung kommen (Thomas Gebauer in Blätter, 3/2016). Auch die Studie der New Economic Foundation zeigt Schwerpunkte schädigenden Verhaltens: Danach werden Berufe mit geringem gesellschaftlichem Ansehen schlecht bezahlt, obwohl sie einen hohen Nutzen für die Bevölkerung erbringen, während hoch bezahlte Manager und VIP-Steuerberater der Gesellschaft einen hohen Schaden zufügen. Solche wertvollen Untersuchungen könnten systematisch ausgebaut und im Sinne eines Predictive Policing verwendet werden. Die Kategorien „schädliche Neigungen“ und „kriminelle Energie“ dürften jedenfalls nicht nur bei jugendlichen Schlägern und Einbrechern geprüft werden.

Es ergäbe sich ein Atlas sozialer Brennpunkte der anderen Art. Nützlich für die Gesellschaft und für die Menschen wären auch strikte staatliche Kontrollen in Fällen, in denen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Konzerne, Banken oder politisch einflussreiche Zirkel geheime Absprachen gegen bestehende Gesetze, Grund- und Menschenrechte oder gegen das Völkerrecht treffen. Ein solcher Verfassungsschutz für das Volk könnte kontinuierlich den Stand seiner Ermittlungen der Bevölkerung mitteilen, müsste nicht gesetzwidrig Akten vernichten, Fahndungskriterien vertuschen oder Untersuchungsausschüsse belügen: Er hätte Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern. Und die EU könnte durch den Massenzuspruch neuen Glanz bekommen.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen