Berlin 1945
Dieser Erlebnisbericht aus der privat veröffentlichten Autobiografie meines Vaters, Josef Rottenfußer, erzählt anschaulich vom Grauen der letzten Kriegstage in Berlin, von menschlicher Güte, aber auch vom Wahn derer, die angesichts der längst verlorenen Schlacht noch an den unmenschlichen Vorschriften der Nazis festhielten. (Text: Josef Rottenfußer, Vorspann: Roland Rottenfußer)
Deutsche Soldaten in langen Kolonnen rückten allmählich in Berlin ein. Nach einem Vorort von Berlin nannte man uns „Division Müncheberg“, welche aus den verschiedensten Truppenteilen der Restwehrmacht zusammengestellt war und als letztes Aufgebot die Russen doch noch aufhalten sollte. Auch ich war als Versprengter in diese Einheit eingegliedert. Unterwegs kamen wir immer wieder an aufgehängten deutschen Soldaten vorbei. Sie baumelten an Bäumen oder Masten, auf ihrer Brust Schilder mit der Aufschrift: „Ich bin ein Vaterlandsverräter“ oder „Ich bin ein Feigling“. Dieses Erlebnis machte mich sehr betroffen, und immer mehr wurde mir klar, wie hoffnungslos unterlegen an Waffen wir den Russen waren. Kaum hörte ich jemals das Donnern der deutschen Artilleriegeschütze, noch merkte ich etwas von einem Entlastungsangriff deutscher Panzer. Von unserer Luftwaffe war ebenfalls keine Spur.
Wir übernachteten zunächst in leer stehenden, oft schön ausgestatteten Vorortsvillen von Berlin. Nach und nach wurden wir in Kampfgruppen eingeteilt und drangen immer weiter ins Zentrum der Stadt vor. Berlin war in dieser Zeit, also etwa Mitte April 1945, von den Alliierten schon mächtig zerbombt, und viele Zivilisten irrten zwischen den Trümmern scheinbar ziellos umher.
Die Russen hatten Berlin inzwischen weitgehend eingekesselt und griffen massiv an. Es gab nun schlimme Straßenkämpfe, in die wir verwickelt wurden. Hinter Ruinenmauern und aus Kellerfenstern beschossen wir uns gegenseitig. Manchmal konnten wir unsere momentane Stellung halten, manchmal mussten wir aufgeben und zurückweichen. Größtenteils brannten die Häuser, und dazwischen lagen tote Soldaten oder Zivilisten.
Der Ring um das Zentrum der Stadt zog sich immer mehr zu, und ich wurde ins Reichsluftfahrtministerium befohlen, von wo aus immer wieder kleine Kampfgruppen in verschiedene Stadtteile zum Straßenkampf geschickt wurden. Es war schon Ende April, als ich von einem hohen Offizier den Befehl bekam, in die Siegessäule, wo im bunkerartigen Fundament eine deutscher Kommandozentrale etabliert war, als Kurier eine Meldung zu überbringen.
Dort angekommen, wurde ich von einer Wache in den Bunker geführt. In strammer Haltung machte ich Meldung und übergab die Nachricht. Alsdann musste ich abtreten und hatte eigentlich keine Orientierung mehr, wo sich meine letzte Einheit befand.
Ich lief durch lange, parkähnliche Anlagen und bemerkte plötzlich, dass ich immer wieder an toten Tieren vorbei kam, die ein exotisches Aussehen hatten. Ich sah zum Beispiel Springböcke, Büffel mit gekrümmtem Gehörn und sogar Löwenbabys. Nun erst wurde mir klar, dass ich mitten durch den Berliner Zoo lief. Schließlich erreichte ich zufällig eine Stadtzone, die offenbar noch von Kämpfen verschont war und setzte mich erschöpft und nicht wissend, was nun zu tun sei, auf eine Gartenbank. Da näherte sich mir eine ältere Dame mit ärmlicher Kleidung und grauem Haar: „Na Jungchen, was ist denn mit dir, du bist ja ganz alleine. Du siehst ja furchtbar aus!“, sagte sie mütterlich und voll Mitgefühl zu mir. Ich erklärte ihr kurz meine Situation, worauf sie sagte: „Dann komm doch mit mir in meine Wohnung, damit du dich wieder etwas erholen kannst.“ Sie wohnte in einem nahe gelegen Häuserblock. Mit gewissen Skrupeln folgte ich ihr dorthin.
„Jetzt setz dich erst mal, du brauchst sicher was zu essen“ sagte sie. Sie ging an den Herd und kochte mir eine Suppe. „So, und jetzt zieh mal deine Schuhe aus“. Als ich die Schuhe auszog, wurde mir bewusst, dass ich diese schon wochenlang nicht mehr von den Füßen gebracht hatte. Meine verschwitzten, schmutzigen und an den Füßen klebenden Fußlappen verbreiteten einen fürchterlichen, unanständigen Geruch, und ich schämte mich sehr.
Ohne zu zögern nahm die gütige Frau meine Fußlappen und fing an, sie am Becken in der Küche zu waschen. In einer Schüssel durfte ich mir dann auch noch meine Füße reinigen. „Hier auf dem Sofa kannst du jetzt ein bisschen schlafen“ meinte sie gütig zu mir, worauf ich mich hinlegte und sofort einschlief.
Die Türklingel schrillte brutal und hartnäckig und riss mich jäh aus meinem Schlaf. Noch ganz benommen hörte ich eine Männerstimme im Gespräch mit meiner Gastgeberin. Sie kam ganz aufgeregt zu mir und sagte: „Du musst sofort aus dem Haus! Der Blockwart hat dich gesehen und hat gesagt, wie ich mir erlauben könnte, einen deutschen Soldaten bei mir in meiner Wohnung aufzunehmen. Wenn du nicht sofort gehst, lässt er mich verhaften“.
Hastig musste ich mit meinen nassen Fußlappen in die Stiefel steigen und mich nach einem kurzen Dank schleunigst verabschieden. Den mitleidsvollen Abschiedsblick und innigen Händedruck der alten Dame werde ich nie vergessen. Voller Angst schlich ich die Treppe hinab. Während ich an einer halb geöffneten Wohnungstür vorbei eilte, verfolgte mich der böse Blick des Blockwarts. Schnell lief ich hinter eine Hausecke in Deckung.