«Besser leben» mit Angela und Martin
Im deutschen Wahlkampf, der nun seinem Höhepunkt entgegenschlurft, scheint der Geist der Wellness-Spiritualität (»Alles, womit du dich wohlfühlst, ist gut«) nun auch die Mainstream-Politik erreicht zu haben. Es stimmt ja, dass unsere Entscheidungen (»choices«) und Überzeugungen Einfluss auf unser Leben haben. Aber sie sind nicht die einzige Kraft, die unser Leben gestaltet. Der Mainstream übernimmt aus den spirituellen Subkulturen immer nur den kompatiblen Teil. Heute ist das der zum Neoliberalismus passende Teil. (Wolf Sugata Schneider, www.connection.de)
Nur nichts Radikales (bis zur Wurzel Gehendes), nur keine Visionen. Nur nichts, was die Passagiere auf der Titanic aus ihrer Komfortzone heraus locken könnte. Meine langjährige Treue als Wähler der Grünen stelle ich gerade in Frage und überlege mir ein Bekenntnis zum bedingungslosen Grundeinkommen, das auf dem Wahlzettel auch angeboten wird, den ich als Briefwähler schon bekommen habe. Sonneborns »Die Partei« steht leider nicht dort mit drauf.
Seichtspiritualität im Mainstream
Heute morgen war ich beim Penny einkaufen (ich weiß, das ist pfui, aber einiges kaufe ich nicht im Bioladen) und sah dort gegenüber dem Fließband an der Kasse eine Einkaufstasche mit dem Spruch: Life is the sum of all your choices, statt der gewohnten »Erstmal zu Penny« oder dem Slogan »Besser leben« (von Rewe; der Lebensmitteldiscounter Penny gehört zur Rewe-Group, die 54 Mia € pro Jahr umsetzt). Der Spruch erinnert mich an den Weltbestseller The Secret und die Grundsätze der Avatar-Bewegung: »Was du erlebst ist das, was du dir durch deine Überzeugungen erschaffen hast«. Ist die Seichtspiritualität, die ich jahrzehntelang mit meiner Zeitschrift Connection gegeißelt habe, nun voll im Mainstream angekommen? Wann werden Nestlé und Bayer (mit Monsanto) solche Slogans übernehmen?
Selbstverwirklichung vor dem Penny-Regal
Es stimmt ja, dass unsere Entscheidungen (»choices«) und Überzeugungen Einfluss auf unser Leben haben. Aber sie sind nicht die einzige Kraft, die unser Leben gestaltet. Der Mainstream übernimmt aus den spirituellen Subkulturen immer nur den kompatiblen Teil. Heute ist das der zum Neoliberalismus passende Teil. Dass die Lieblingsfigur der Deutschen bei ihrer Gartengestaltung heute nicht mehr der Gartenzwerg, sondern der Buddha ist, hat die Liebhaber dieser Figur ja nicht meditativer oder achtsamer gemacht. So wenig wie der Nutzer dieser Penny-Tasche nun gewahr wird, wie sehr seine Werte und Entscheidungen sein Leben gestalten. Eher wird er nun vielleicht glauben, dass seine choices vor dem Penny-Regal auf eine Art von Selbstverwirklichung hinauslaufen.
Wanted: Earth OS 2.0
Ich meine, dass unsere Zivilisation Erde ein ganz neues Betriebssystem braucht, nicht immer nur weitere neue Apps. Im deutschen Wahlkampf sehe ich nur neue Apps, die auf dem alten System laufen, das dabei ist unsere Erde und uns selbst zu ruinieren. Auch bei der Wahl in den USA wurden nur Apps fürs alte System angeboten, Hillary wäre auch kaum besser gewesen als Trump. Ähnlich in den anderen nationalen Demokratien. Einen echten Internationalismus, wie der Sozialismus ihn bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs vertrat, sehe ich nirgends, auch bei den Grünen und den Linken nicht. Wenn die aktuellen Varianten der Demokratie nur sowas wie Trump, Erdogan, Orban, Putin und Narendra Modi produzieren können, dann gute Nacht Demokratie. Dieses System wird uns nicht aus der Krise herausführen. Wir brauchen für unseren Planeten ein neues Betriebssystem.
Selektion und Erzählung
Können die aktuellen spirituellen Subkulturen das leisten? Auf dem Heartbeatfestival auf Schloss Buchenau konnte ich (wie auch sonst in der Gesellschaft) in flagranti beobachten, wie drei Vorgänge unsere Wahrnehmung von der Welt verfälschen. Als erstes selektieren wir unter den Daten, die unsere Sinnesorgane uns zuführen: Wir nehmen nur wahr, worauf wir fokussieren. Das ist eine Selektion im Faktor 1: 105 bis 107. Zweitens selektieren wir unter dem so Ausgewählten nochmal im Speicher unserer Erinnerung, indem wir von dort nur das aufrufen, was gerade zu unserer Absicht passt (zu unserer choice, der Auswahl unter dem Vorhandenen). Drittens fabrizieren wir aus dem so Gefilterten eine Story: Wir arrangieren die gemäß der beiden vorigen Vorgänge auf mehr als ein Millionstel des Vorhandenen reduzierten Daten und peppen sie ein bisschen auf, so dass sie eine erzählbare Geschichte ergeben: Erzählkunst als kreative Leistung. Das Erzählte hat allerdings nicht mehr viel mit dem Erlebten zu tun, das es wiederzugeben behauptet.
Kult ums Erwachen
Haben die buddhistische Subkultur, die Osho-Sannyasins oder die Advaita-Vedanta-Schüler dem etwas entgegenzusetzen? In ein paar Tagen bin ich auf dem Erleuchtungskongress in Berlin. Einige gratulieren mir dazu, dass ich dort nun sogar als Co-Präsentator dabei bin, andere nehmen es mir übel. Denn in Bezug auf Erwachen und Erleuchtung scheint es zwei Parteien zu geben. Die einen halten die Aussage »Ich bin erwacht« für eine narzisstische Angeberei, auch wenn es nur durch die Blume gesagt wird, wie etwa in: »Übrigens gebe ich jetzt Satsang«. Die anderen glauben, dass Buddha damit Recht hatte, dass Nirvana der höchste Punkt menschlicher Verwirklichung ist, alias die Advaita-Vedanta-Variante, dass Egolosigkeit im Diesseits nicht nur erreichbar ist, sondern auch erstrebt werden sollte.
Der spirituelle Lehrer Gaia versteht sich eher als Begleiter und Impulsgeber auf Augenhöhe denn als Guru. In der Ankündigung seines Auftritts auf dem eben genannten Erleuchtungskongress schrieb er: »Mein Erwachen oder meine Erleuchtung ist eine Illusion, da es niemanden gibt und kein ‚ich‘ gibt, dem das geschehen könnte«. Was Nitya in seinem von mir sehr geschätzten taoistischen Blog überschwänglich lobte, mit einem Seitenhieb auf die Veranstalter dieses Kongresses. Auf der anderen Seite stehen Lehrer wie der zur Zeit sehr erfolgreiche deutsche Advaita-Lehrer Christian Meyer, aber auch viele buddhistische Lehrer. Sie wollen ihre Schüler von hier (Ego) nach dort (Erleuchtung, Befreiung) bringen, und verkaufen ihnen dazu passend ihre Kurse und Sessions; oft auch Anleitungen zur Hingabe (surrender). In die Hingabe oder Demut kann man jedoch niemanden schubsen, so wenig wie man Gnade erringen oder Authentizität erlernen könnte – man kann dort nur hineinfallen.
Festhalten an Überzeugungen
Es ist eben nicht leicht, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Oft scheint das vermaledeite Ego dabei das Hindernis zu sein. Im täglich erscheinenden Wissenschaftsrundbrief von spektrum.de fand ich hierzu folgenden Hinweis: »Für das Gehirn macht es zu einem gewissen Grad … keinen Unterschied, ob wir körperlich bedroht sind oder ob unsere Identität bedroht ist, … – und je heftiger unsere emotionale Reaktion auf diese Bedrohung ausfällt, desto eher halten wir an unseren Überzeugungen fest«, und »nicht selten sind es gerade Überzeugungsversuche anderer, welche die ideologischen Abwehrkräfte stärken. Der Sozialpsychologe William McGuire (1925–2007) von der Yale University prägte dafür den Begriff der Inokulation, zu Deutsch: Impfung. Analog zum medizinischen Vorgang, so fanden McGuire und seine Mitarbeiter heraus, können wiederholte, schwache Argumente gegen unsere Position uns gegen stärkere Attacken immunisieren. Wichtig dabei: Die Gegenargumente müssen so stark sein, dass wir sie überhaupt einer Widerlegung würdig finden – aber dennoch nicht stark genug, um unsere Überzeugung ernsthaft zu erschüttern.«