Bindungen eingehen

 In Politik (Inland)

Gemälde: Van Gogh

Unzeitgemäße Anmerkungen zum Umgang mit Menschen – nicht nur im Gefängnis. Das Gefängnissystem behandelt Gefangene wie reparaturbedürftige Automaten, nagelt sie auf ihre schuldhafte Vergangenheit fest und ermutigt Heuchlei, indem stetig beteuerte Resozialisierungsbereitschaft zur Voraussetzung für Haftprivilegien gemacht wird. Versäumt wird es dagegen, auf gegenseitigem Respekt aufbauende Beziehungen zwischen Häftlingen und Betreuern aufzubauen, die weitaus wichtiger für günstige Sozialprognosen wären. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der “Edition Georg Büchner-Club” erschien im Juli 2016 unter dem Titel “Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst” der zweite Band seiner “Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus”. Dort hat er soeben unter dem Titel: “Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!” auch ein Bändchen zum Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht. (Götz Eisenberg)

Ich möchte versuchen, meine Einwände gegen die sich breitmachende mechanisch-maschinelle Terminologie im Umgang mit den Gefangenen und die damit einhergehenden sozial- und psychotechnischen Praktiken thesenartig zu erläutern.

Immer mehr Kollegen stellen sich die Beschädigungen der Gefangenen wie Wackelkontakte oder Schaltfehler vor, die davon Betroffenen wie defekte Autos, deren Schaltung zu reparieren oder denen Öl zuzusetzen ist. Pointiert gesagt: Das Gefängnis soll nach dem Muster einer Autofabrik und dem Fließprinzip organisiert werden. Mit der Einlieferung gerät der Gefangene auf ein Förderband, das ihn durch die verschiedenen Abteilungen transportiert. Eingangs soll er gecheckt und vermessen werden. „Den Gefangenen XY werde ich mal mit dem HCR scannen“, hört man Psychologen-Kollegen sagen. Eine Mängelliste wird erstellt, aus der sich Reparaturaufträge ergeben. Dann werden die Gefangenen irgendwo zwischengelagert und geparkt, bis sie eines Tages in der Reparaturableitung anlangen, wo von verschiedenen externen Experten und Dienstleistern an ihnen herumgeschraubt wird. Sodann wird der TÜV gerufen, der per Gutachten prüft, ob die Reparaturen erfolgreich durchgeführt worden sind.

Zum Traum von der Vermessung der menschlichen Innenwelt merkte Eberhard Schorsch in seinem Buch Kurzer Prozeß? an: „Hält man daran fest, dass die menschliche Person nicht wie eine Bremsspur ist, die sich vermessen lässt, dann sind solche Messlatten auch in Zukunft nicht zu erwarten.“ Ein lebender Mensch ist ein offener, vieldimensionaler Prozess, er ist der Inbegriff von Hoffnung, Erwartung, Sehnsüchten und besteht aus verschiedenen Teilpersonen. Wir müssen versuchen, uns an die Teilperson im Gefangenen zu wenden, die leben und glücklich sein will. Vor allem jüngere Gefangene halten in sich ein Double gefangen und verborgen, das sich nach idealisierungsfähigen Personen sehnt, mit denen es sich identifizieren, an denen es sich orientieren kann. Diese Rolle können auch gestandene und strukturierte Gefangene einnehmen, die als väterliche Objekte dienen oder die Position eines älteren Bruders ausfüllen. Ein solcher Gefangener zeigte mir unlängst den Brief eines jungen Mitgefangenen, der dieser Sehnsucht unverstellt und beinahe rührend Ausdruck verleiht. „Ach“, sagt er, „hätte ich doch einen wie dich zum Bruder oder Vater gehabt, ich wäre nicht hier gelandet und mein ganzes Leben wäre anders verlaufen.“  Manche Gefangenen sehnen sich nach einem Erwachsenen, der sie bei der Hand nimmt und zeigt, „wie Leben geht“.

Wenn es richtig ist, dass die aktenkundigen Auffälligkeiten, die die Gefangenen ins Gefängnis gebracht haben, das Produkt von Bindungslosigkeit, missglückten Beziehungen, wiederholten Beziehungsabbrüchen sind, wird man schnell verstehen, dass ein derart technizistisches Modell des Umgangs mit den Gefangenen keinen Segen bringen kann. Es fehlte den meisten Gefangenen die Bindung, verlässliche Beziehungen, die ihn halten und ihm die Gewissheit geben, dass er im Konfliktfall nicht verstoßen und weitergereicht wird, auch wenn ihm schwerste Fehler unterlaufen. In Beziehung sein und in Beziehung bleiben ist das einzige Mittel, das Gewalt hemmt. Sobald ich mich verbunden und gebunden fühle, kann man sich nicht mehr so ohne weiteres rücksichtslos und gewalttätig gegenüber seiner Um- und Mitwelt verhalten. Die Süddeutsche Zeitung berichtet in ihrer Ausgabe vom 19.02.2013 von der Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie, der 800 Metastudien über die Frage untersucht hat, was die wichtigsten Faktoren für einen guten Unterricht sind. Und was fand er heraus? Dass es die finanziellen Ressourcen einer Schule sind? Die fallen kaum ins Gewicht. Didaktische Reformen? Kann man vergessen. Ausgefuchste Mechanismen der Qualitätssicherung? Das ist lediglich Energie und Zeit raubender Firlefanz. Was zählt, ist der einzelne Lehrer! Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist der andere Mensch. Derjenige, der einem sagt: „Ich sehe dich! Ich nehme dich wahr! Mit liegt etwas an dir.“ Entscheidend sind Respekt, Anspruch, Autorität und Liebe, Liebe zum Fach und Liebe zu den Schülern.

Ganz Ähnliches hat Michael Balint bereits in den 1950er Jahren über die Person des Arztes gesagt: „Das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel ist der Arzt selbst.“ Manchmal, wenn der Arzt im Inneren des Patienten seinen Platz hat, hilft es schon, wenn er sagt: „Das wird schon wieder.“

Warum soll, was für guten Unterricht und Schulen gilt, nicht auch für Resozialisierungsbemühungen und Gefängnisse gelten?

Es wäre also „Beziehungsarbeit in Näheverhältnissen“ (Oskar Negt) vonnöten, das Eingehen von Bindungen, die Anschluss finden, an irgendwann gekappte lebensgeschichtlich positive emotionale Bindungen, „gute“ frühe Bezugspersonen und deren innere Repräsentanzen. Solche positiven Bindungserfahrungen haben ihren Niederschlag im Inneren hinterlassen und wurden später von anderen, gegenläufigen Erfahrungen überlagert und schließlich verdrängt. Nur wenn es gelingt, an die guten Bindungs-Erfahrungen anzuknüpfen, erreicht man die Gefangenen im Innersten, nur so rutschen Werte und Normen, die man mit ihnen praktizieren und leben muss, nach innen und können sich dort festsetzen. Die Mitarbeiter eines Behandlungsvollzugs, der diesen Namen verdient, müssten den perspektivlosen Gefangenen durch die Kraft persönlicher Übertragung Hoffnung auf sich selber geben und ihnen inmitten einer flüchtigen Welt ein stabiles, uneingeschüchtertes, menschliches Gegenüber bieten. Statt die vom Gefängnisalltag arbeitsteilig abgespaltenen Behandlungsstrukturen zu stärken, die auf technikorientierte Maßnahmenkataloge zur Reparatur aktenkundiger Auffälligkeiten setzen, käme es darauf an, Bindungen zwischen Mitarbeitern und Insassen entstehen zu lassen und Behandlung wieder in den Alltag der Gefangenen zurückzuholen und zur Sache aller am Vollzug Beteiligten zu machen. Bindungen entstehen nur unter der Bedingung der leiblichen Anwesenheit und der Bereitschaft, sich als „Mensch zu geben“ und in die Waagschale zu werfen. Nur auf der Basis von „Beziehungsarbeit in Näheverhältnissen“ und tragfähigen Bindungen hat das Gefängnis die Chance, die Gefangenen zur Umkehr zu bewegen und Normen und Werte menschlichen Zusammenlebens in ihnen zu verankern. Im Gefängnis gilt, was auch sonst im Leben zutrifft: Folgebereitschaft und Respekt bekunde ich nur demjenigen gegenüber, den ich anerkenne und der auch mich anerkennt! Wer Gefängnisse zu Dienstleistungsbetrieben machen möchte und an Input-Output-Modellen misst, verwechselt die Produktion von Autos mit der Herstellung von lebensgeschichtlicher Identität.

Entscheidend scheint, dass wir die Gefangenen mit unserer Leidenschaft anstecken und mitreißen und so das in ihnen verborgene Potenzial aus ihnen herauslocken. Die alten Griechen nannten das Enthusiasmus. Den hat ein Mensch und strahlt ihn dann auch aus, oder er hat ihn nicht und dann vermag er auch andere Menschen nicht mitzureißen und anzustecken.

Die Krux der sogenannten Kriminaltherapie besteht darin, dass sie die Gefangenen auf ihre Vergangenheit fixiert. Die ständige Betonung der Schuld, die der Gefangene durch seine Tat auf sich geladen hat, und der „kriminogenen Faktoren“ hält die Vorherrschaft des Gewesenen über das Kommende aufrecht und droht die Fähigkeit zu hoffen und nach vorne zu schauen außer Kraft zu setzen. Gefühle von Schuld und Scham sind zutiefst menschliche Regungen, die wir auch dann vom Straftäter erwarten, wenn wir wissen, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Reue und Besserung gibt. Die in unseren Gefängnissen inzwischen vorherrschenden behavioristischen, kriminaltherapeutischen Konzepte und Verfahren reduzieren den Gefangenen auf denjenigen, der die Tat begangen hat und deswegen ein reparatur- und hilfsbedürftiges Mängelwesen ist. Im Zentrum kriminaltherapeutischer Interventionen stehen „risikorelevante Defizite“, die zur „Reduzierung des Delinquenz-Risikos“ behoben werden sollen. „Kriminaltherapie ist Risikomanagement“, heißt es im technizistischen Neusprech der BWL-Psychologen, die sich unkritisch zu dem machen, was Stalin als „Ingenieure der Seele“ bezeichnet hat. Die Frankfurter Rundschau publizierte vor einiger Zeit einen Text des Lüneburger Professors Maelicke zur Reform des Strafvollzugs, den nur verstehen kann, wer über ein „Neusprech“-Lexikon verfügt. „Nach wie vor“, heißt es da, „fehlt es bei den Praktikern und Politikern am Verständnis für die Notwendigkeit eines ‚Prozessnetzwerks‘, das in jedem Einzelfall (Case-Management) und einzelfallübergreifend (Devianz-Management) den Prozess der Resozialisierung vor allem an den Übergängen und Schnittstellen der beteiligten Institutionen optimiert. Resozialisierung als durchgehende personenbezogene Wertschöpfungskette setzt sich international immer mehr durch (vgl. dazu den Reformprozess in England – National Offender Management Service – oder die EQUAL-Projektergebnisse in Nordrhein-Westfalen und Österreich mit verbesserter sozialer Integration und verringertem Rückfall).“ Verblüfft nehmen wir zur Kenntnis, dass Resozialisierung als „Prozessnetzwerk“ und „Wertschöpfungskette“ begriffen wird. Dem Internet-Lexikon Wikipedia können wir entnehmen, dass „Wertschöpfung vorhandene Güter in Güter mit höherem Nutzen transformiert und damit – in einer Geldwirtschaft – in Güter höheren Geldwertes. Der geschaffene Mehrwert wird zu Einkommen.“

Gegen den Vormarsch solchen Denkens und der aus ihm resultierenden psycho-technischen Praktiken hat unser ehemaliger evangelischer Anstaltspfarrer Otto Seesemann stets darauf beharrt: „Mein Büro ist keine KFZ-Werkstatt, sondern ein Fluchtpunkt der Seele.“ Seelische Prozesse mäandern wie Bäche, die im Naturzustand nicht schnurstracks von a nach b fließen, sondern sich so dahinschlängeln. „Das machen sie gern, die Bäch“, sagte Karl Valentin. Und Herbert Achternbusch ergänzt: „Früher hat man einen Bachlauf nicht verstanden, heute wird er begradigt, das versteht ein jeder.“ Alle Bereiche, in denen es um Heilen, Therapieren, um menschliche Bildungs- und Identitätsfindungsprozesse geht, müssen von der BWL-Logik freigehalten werden und verschont bleiben. Von Waren und wie eine Ware kann menschliche Identität nicht gefertigt werden. Dort, wo man es dennoch versucht hat und weiter versucht, erleben wir, wie diese Projekte gegen die Wand fahren und scheitern. In einigen dieser Bereiche wächst die Kritik und es sind erste Ansätze eines Umdenkens erkennbar. Die wie Fabriken organisierten Krankenhäuser verlassen die Patienten kränker als sie hineingekommen sind, in wie Lernfabriken funktionierenden Schulen und Universitäten werden junge Menschen nicht gebildet, sondern allenfalls mit Blick auf ihre ökonomische Verwertbarkeit ausgebildet, in nach dem Fließprinzip organisierten Gefängnissen wird der Versuch scheitern, straffällig gewordene Menschen für die Gesellschaft zurückzugewinnen.

Kein Mensch möchte eine Zukunft, die in Risiko- und Rückfallvermeidung besteht. Ein Mensch braucht Ziele, für die es sich lohnt zu leben und auf kriminelle Eskapaden und die falschen Himmelfahrten der Drogen zu verzichten. Solche Ziele sind aber nur in einem Sich-Losreißen von der Vergangenheit zu finden, nicht in deren ständiger Durcharbeitung. Es geht um nichts weniger als die Korrektur und den Widerruf von Lebensprogrammen und das Hervorbringen neuer Lebensentwürfe. Und die kommen nur zustande, wenn ich neue Erfahrungen mache, die mir sagen: „Du bist etwas wert, das macht Sinn.“

Therapeuten erwarten von ihren Patienten eine Haltung, die man „Compliance“ nennt, was so viel heißt wie Willfährigkeit, Gehorsam, Einverständnis. Diese wird der Patient dem Therapeuten aber nur entgegenbringen, wenn es diesem gelingt, die Nachfolge der „guten frühen Objekte“ anzutreten und sich an ihre Stelle zu setzen. Die frühen Bindungen sind häufig ambivalent und der Therapeut muss sich mit der Teil-Person im Inneren des Patienten zu verbünden versuchen, die leben und glücklich sein will. Die Bindung an die Eltern oder andere frühe Bezugspersonen ist primär, alle späteren Bindungen, die „Compliance“ ermöglichen sollen, müssen sich auf diese beziehen und sich aus ihnen ableiten. Die frühen Bindungserfahrungen gehen im Leben des Erwachsenen nicht völlig verloren, sondern treten in den merkwürdigsten Verkleidungen auf und gehen dabei ungeheuer komplexe neue Verbindungen ein. Voraussetzung für das Gelingen einer Therapie ist, dass es zu einer Bindung zwischen Therapeut und Patient kommt, die an gelungene frühere emotionale Bindungen und deren innere Repräsentanzen Anschluss findet und es so ermöglicht, irgendwann abgebrochene positive Entwicklungen fortzusetzen. Nach wie vor gilt: Wenn psychische Beschädigungen das Resultat missglückter oder gar fehlender Beziehungen sind, können sie nur innerhalb von Beziehungen wiederhergestellt oder nachgeholt werden.

Gefangene, die aus dem Labyrinth krimineller Wiederholungszwänge heraus und in ein straffreies Leben zurück gefunden haben, berichten häufig von einem Schlüsselerlebnis, das ihrem Leben eine andere Wendung gegeben hat. Ein Schlüsselerlebnis, was können wir uns darunter vorstellen? Es ist auf jeden Fall etwas, was im geregelten Ablauf einer Therapie eher selten vorkommt und das man Menschen durch noch so ausgefeilte therapeutische Techniken nicht vermitteln kann. Ein Schlüsselerlebnis ist ein individueller geistiger Akt, der aufgrund seiner einmaligen inneren Stärke eine Fixierung – zum Beispiel an Drogen, an ein eingeschliffenes Muster kriminellen Agierens oder ein „perverses Skript“ – aufheben kann. „Die großen, die glücklichen, die niemals erjagbaren Einsichten und Einfälle“, sagt der Philosoph Josef Pieper, „werden uns im Zustand der Muße zuteil. In solcher schweigenden ‚Geöffnetheit der Seele‘ mag auch dem Menschen einmal geschenkt werden, zu gewahren, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘ – vielleicht nur für die Dauer eines Blitzes, so dass nachher die Einsichten dieses Augenblicks in angespannter ‚Arbeit‘ wieder entdeckt werden müssen.“

Ein Schlüsselerlebnis ist etwas, was nicht von anderen oder von außen kommen kann; man muss es selbst zulassen oder sogar herbeiführen. Nötig ist dazu jenes „zögernde Geöffnetsein“ des Bewusstseins, von dem Siegfried Kracauer einmal gesprochen hat, eine Haltung, die man als aktives Warten bezeichnen könnte: Wer sich nach einem Schlüsselerlebnis sehnt, wird eines Tages auch eines haben können. Umgekehrt wird man mit Seneca sagen können: „Wer nicht weiß, welchen Hafen er ansteuert, für den ist kein Wind günstig.“ Dieser Satz Senecas benennt auch die Bedingungen des Scheiterns so mancher therapeutischer Pflichtübung, die den Gefangenen inzwischen als Teil der Strafe auferlegt wird. Von oben verordnete „Behandlungsmaßnahmen“, denen der Gefangene sich unterziehen muss, wenn er in den Genuss von Haftlockerungen und einer vorzeitigen Entlassung kommen will, erzeugen häufig nichts anderes als eine Knechtsgesinnung, eine Atmosphäre systematischer Heuchelei. Der Gefangene lernt Sätze zu sagen, die man von ihm hören will. Er legt sein Argot ab, den Slang der Straße und der Knäste, unterwirft sich dem psycho-sozialen Code der Behandlung und Besserung und reproduziert ihn in mitunter peinlichen Ritualen der Selbstbezichtigung.

Wenn meine Grundannahm richtig ist, dass Kriminalität (überwiegend) die Folge negativer Beziehungserfahrungen ist, würde sich daraus ein ganz anderes Konzept des Umgangs mit den Gefangenen ergeben. Nämlich eines, das auf Kontinuität und Verlässlichkeit setzt. Ich könnte mich mit dieser Annahme sogar auf Resultate der Hirnforschung berufen, die nachgewiesen hat, das Lernen in emotional besetzten Kontexten und mit emotionaler Begleitung leichter und besser in Gang kommt. Es braucht also persönliche Übertragung zwischen lebendigen Menschen, damit nachhaltiges Lernen in Gang kommt. Fehlt sie, ist Unterricht nur eines Dressur und seine Inhalte bleiben den Schülern äußerlich.

Es bedarf eines Milieus, in dem jenes „zögernde Geöffnetsein“ der Seele und des Bewusstseins zustande kommen kann, das die Voraussetzung für das Erleben von Sternstunden des Lebens darstellt. Es sind solche Schlüsselerlebnisse, die dem Leben eine andere Richtung geben, plötzliche Erleuchtungen, die einem zu ungeahnten Einsichten verhelfen. Das kann sich natürlich auch in einem sogenannten therapeutischen Setting ereignen. Was Imre Kertész in seinem Galeerentagebuch geschrieben hat: „Gott kann man überall finden, sogar in der Kirche“ lässt sich auch auf unseren Kontext übertragen: Man kann sein Leben überall ändern, sogar im Gefängnis und im Rahmen einer von ihm auferlegten Therapie oder eines sozialen Trainings. Wenn das der Fall sein sollte und auch gelegentlich der Fall ist, dann ist es einem Moment der Faszination geschuldet, der persönlichen Übertragung zwischen zwei Menschen oder einer bestimmten glücklichen Gruppenkonstellation. Ich denke aber, dass es andere Formen gestalteter Gemeinschaft gibt, die für das Erleben von Schlüsselerlebnissen günstigere Voraussetzungen bieten. Ein Schlüsselerlebnis kann sich ereignen, wenn ich die Erfahrung mache, dass mir jemand „grundlos“ solidarisch zur Seite springt, wenn ich irgendwo Schwäche zeigen konnte, ohne Stärke zu provozieren; wenn mir plötzlich in einem Gespräch „ein Licht aufgeht“ und ich ein so genanntes „Aha-Erlebnis“ habe; wenn es mir gelingt, über meinen Schatten zu springen und mich als jemanden zu erleben, der seine noch nicht gelebten Möglichkeiten entfaltet und über sich hinauswächst. Das kann überall da geschehen, wo Menschen sich auf etwas Drittes beziehen, das sie berührt, wenn sie etwas gemeinsam tun und dabei Bindungen eingehen. Das ist riskant, aber anders geht es nicht.

 

 

 

 

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