Brechsit oder All you need is cash

 In Ludwig Schumann, Politik (Ausland), Politik (Inland)

„Komm gib mir deine Hand/ Sie liebt dich“ – damals war das deutsch-britische Verhältnis noch intakt.

„Die Menschheit insgesamt ist blöde“ behauptete der Vater unsere Autors Ludwig Schumann. Dieser wollte das anfangs nicht glauben. In den Tagen von Brexit und xenophobem Besorgtbürgertum, von Aufrüstung und neuen Mauern, von immer schamloser werdenen Reichen und immer wehrloser werdenden Armen musste der Sohn jedoch sein Urteil revidieren… (Ludwig Schumann)

Erfurt. Frühsommer 1964. Kurz vor 19.00 Uhr. Am Fenster von Frau Scheidt gab es für die Nachbarskinder Zuckerbrote. Hallo! Dünne Scheiben, ganz sparsam mit Butter bestrichen, ebenso sparsam mit Zucker beträufelt. So schmeckte für uns das Paradies. Ich erhielt das Zuckerbrot, im Radio aus der Küche drangen die letzten Minuten vom „Aktuellen Plattenteller“ des Deutschlandfunks an mein Ohr: „Komm gib mir deine Hand.“ Ich wusste es vom a-moll-Akkord an: Das war meine Musik. Die Stimmen Lennons und Mc Cartneys wurden mein musikalisches Erweckungserlebnis. Die britische Invasion begann, zum Leidwesen meiner Eltern. Da half auch nichts, dass erst mit dieser Musik im Ohr sich auch mein Verständnis für Mozart und Grieg entwickelte. Natürlich wollte ich die bei AMIGA erschienen Beatles-Platten. Allerdings musste ich mir zunächst einen Plattenspieler ersparen. Als ich ihn endlich hatte, waren auf Walter Ulbrichts „Yeah-Yeah-Yeah“-Diktum die Platten wieder aus den Läden. Die Beatles also, inbesondere Mc Cartneys Stimme, erweckten mich zur Musik, Walter Ulbricht schenkte mir den Jazz, weil der Beat weg war aus den Läden. Und auch da kam etliches an Musik aus GB, Kenny Ball beispielsweise, natürlich Chris Barber. Will sagen: Ohne die Briten wäre mein Leben ein vollständig anderes gewesen, obwohl die DDR damals weder Mitglied der EG noch des britischen Commonwealth gewesen ist.

Berlin. Frühsommer 2016. mit Verspätung nach 20.00 Uhr. Auf der Waldbühne warten die Mädchen, die damals bis zur Ohnmacht „gekrischen“ haben. Sie kommen jetzt ergraut, mit Krückstock, eher der Großmutter der ebenfalls anwesenden Frau Mc Cartney ähnelnd als deren Konkurrentin. Aber immer noch fröhlich, enthusiastisch. Mc Cartney singt die Wolken weg, es wird ein großartiger Abend mit zweieinhalb Stunden Konzert ohne Pause und von einem Mann auf die Bühne gebracht, der vier Tage vor seinem 74. Geburtstag mit jungenhaftem Charme sein Publikum diese Zeit über problemlos bei der Stange hält. Ja, hatte ich gedacht, bevor sie nun alle in der Zeit verschwunden sind, will ich doch wenigstens einen von ihnen noch live erleben. Ich gestehe meine Begeisterung. Zumal Mc Cartney mit der B-Seite der Abbey-Road-LP, der letzten, die sie gemeinsam aufnahmen, die Zugabe beendete – mit wunderbar rockigen Gitarrensoli, die an eine kreuzjunge Band eher erinnerten, als ans eigene Alter. Als wir dann zum Ende kamen, merkte ich, wie sich bei mir Wehmut einschlich: Nun hatte ich ihn noch mal erlebt. Und er bot einen Querschnitt durch sein Schaffen, vom ersten Titel, den sie unter dem Namen „Beatles“ aufnahmen bis zum Mc Cartney-Rihanna-Kanye-West-Titel „Four Five Seconds“. Ein Requiem, schien mir, jetzt zum Ende des Konzerts. Aus der Euphorie wurde Nachdenklichkeit. Der Mozart unserer Tage und der von ihm erweckte Musikliebhaber sind, so wurde es mir schmerzhaft bewusst, in der letzten Phase ihrer Liebe angekommen. Natürlich wissen wir nicht, wie ausufernd diese wunderbare Phase noch sein kann, aber es ist unwiderruflich die letzte.

Und nun verlassen die Briten Europa. Europa? Was für ein Quatsch. Sie treten aus der EU aus. Was bedeutet das für mich? Rein äußerlich erst mal nichts. Es hat mich bisher nicht einmal auf die Insel getrieben. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die überall hinreisen müssen. Mir reicht ein Bildband über England, über seine Gärten. Da bin ich ganz und gar ein Hobbit. Ich glaube, Hobbits waren auch so langsame Leser wie ich. Dann aber Wehmut. Warum? Ich gehöre noch einer Generation an, für die der Frieden nicht nur ein Wort, sondern nach den Erzählungen der Eltern-Generation und der Erfahrung des Kalten Krieges eine existentielle Verfassung gewesen ist, deren Wahrhaftigkeit, deren Körperlichkeit die Europäische Union gebildet hat – ihr Bestand, dachten wir, ist der Garant für diese Friedenszeit. Ich habe die sonderbaren Alleingänge europäischer Länder beispielsweise in der Flüchtlingsfrage nie verstehen mögen. Diesen Unwillen, in das offene Europa hineinwachsen zu wollen.

Wie man eine solche Kostbarkeit wie die europäische Grenzenlosigkeit, die Einheit in der Vielfalt, das Fest der Kulturen freiwillig aufgeben kann, übersteigt mein Fassungsvermögen. Wie man ganz und gar die Europäische Union umformen will zu einer „säbelrasselnden“ (Zitat Steinmeier) Gemeinschaft aggressiver Staaten, siehe Nato-Manöver- und Stationierungen im Osten, wie es die östlichen EU-Länder für sicherer halten, also im Gefolge der NATO-Optionen nun auch in den Ländern der EU aufrüsten will, im Bundestag wurde es gerade angekündigt, wie man freiwillig nach der Verleihung des Friedensnobelpreises ein derartiges politisches Versagen verantworten will, bleibt mir ein Rätsel.

So wie der Brechsit (ist nicht falsch geschrieben, sondern eine vorsichtige Umschreibung des Gefühls bei dem Thema) letztendlich nichts anderes ist, als das offenbare Versagen einer Politikergeneration, die nicht mehr viel von dem versteht, was sie da anrichtet. Wie wir einen Landesvater haben, der seinert Bevölkerung einredet, dass sie von der Flüchtlingsschwemme völlig überfordert ist (ca. 1 Million Sachsen-Anhalter haben als Wirtschaftsflüchtlinge das Land verlassen – 34 000 sollen das Land überschwemmen?), anstatt die logistischen Voraussetzungen schaffen zu lassen, dass eine schnelle Integration möglich ist. Will sagen, wenn ich so kontinuierlich Verunsicherungen schaffe, wenn ich so kontinuierlich eine Gesellschaft baue, in der die Armen und in die Armutskaste gedrückten Mittelständischen die Geldmittel aufbringen müssen, den Staat zu erhalten, während die Kaste der Betuchten nicht annähernd zu einer solidarischen Gesellschaft finden müssen, wenn ich also nach diesen vielen Jahren immer noch das amerikanische neoliberalistische Lied pfeife, das alle Lasten gleichmäßig auf die Geringverdiener verteilt, gleichzeitig aber das Lied singen lässt, dass die Renten gefährdet, die Sparanlagen passé sind, der Wohnraum immer unbezahlbarer wird, die Autobahnen privatisiert werden sollen… Dass dann ohne Wenn und Aber Geld für Aufrüstung zum Bombardieren fremder Bevölkerungen ohne Kriegserklärung, wie das beispielsweise das Natoland Frankreich unter Mithilfe der Bundesrepublik praktiziert, da sein soll – muss ich mich da wundern, wenn die Menschen wieder unterwegs sind, die Schuldigen zu suchen?

Und, nur mal nebenbei? Hören Sie auch, wie leise, wie unhörbar der Protest gegen diese dämlichste aller Geldausgaben, die auch noch das Leben unserer Kinder fordern kann, ist? Väter, Mütter? Ja, und genau so ist das, wenn wir nun sagen müssen: Europa? Haben wir versemmelt. Nein, nicht die Politiker. Die haben wir ja gewählt. Unser Nichtwiderstand gegen eine Entwicklung, die lange vorhersehbar war, hat das ermöglicht. Aber wir haben ja schon wieder jemand, dem wir wie die Deppen hinterherrennen können.

Fazit: Wenn ich seinerzeit meinen Vater auf den Menschen ansprach, schüttelte er den Kopf und wiederholte geradezu gebetsmühlenhaft den Satz: „Die Menschheit insgesamt ist blöde.“ Ich wollte ihm das nie glauben. Wir haben uns Abende darum gestritten. Heute tue ich ihm Abbitte.

In der Abendlandschaft meines Lebens steht nun wieder eine Mauer. Nein, nicht nur eine aus Stein. Diesmal ist es eine aus gestorbenen Herzen gezimmerte. Über die vorige Mauer – das hat viel Geduld erfordert – konnte ich irgendwann klettern. Diese werden wir zunächst kaum wahrnehmen. Aber ihre Realität wird uns verändern. In der Abendlandschaft meines Lebens also steht wieder eine Mauer. Das macht mich nicht stolz. Man kann es auch weniger vornehm sagen: Mir ist zum Kotzen. Was bin ich andererseits dankbar, dass die andere Erfahrung, die von 1964 am Beginn meines bewussten Lebens gestanden hat.

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