Brutale Beschlüsse – und Zukunftsmusik

 In GRIECHENLAND

69. Bericht zu unserer Spendenaktion „Helfen wir den Menschen in Griechenland!“ Wenn es Menschen schlecht geht, beginnen sie gegen die Verhältnisse aufzubegehren; wenn es ihnen sehr schlecht geht, was folgt dann daraus: die große Revolution, die alle Ungerechtigkeiten hinwegfegt? Nicht unbedingt: drastische Armut, andauernde Demütigung, wiederholtes vergebliches Aufbegehren und das Fehlen jeglicher Hoffnung lähmen die betroffenen Menschen, lassen sie krank werden und machen einen Umschwung ab einem gewissen Punkt der Eskalation wieder unwahrscheinlicher. So geschehen in Griechenland, das sich wieder einmal derart harten “Rettungs”-Auflagen beugen muss, dass man den Polit-Tätern eigentlich jedes Gewissen absprechen muss. Eine Maschine könnte die Zerstörung des Landes nicht gnadenloser exekutieren. Wer in dieser Situation ein bisschen Menschlichkeit, ein bisschen Hoffnung schenkt, tut etwas Wichtiges, weil er eine farbige Alternative zum allgegenwärtigen Grau(en) aufzeigt. Auch die Fähigkeit, selbst für seine Rechte einzutreten, wächst, wenn hilfreiche Impulse von außen kommen. Auch deshalb hofft Holdger Platta, dass die Spenden für unsere GriechInnenhilfe in der nächsten Woche wieder ein bisschen anziehen. (Holdger Platta)

Liebe HdS-Leserinnen und liebe HdS-Leser,

gestern, am Donnerstag, den 18. Mai, hat die Tsipras-Koalition tatsächlich den Vereinbarungen zugestimmt, die ihr Finanzminister Euklidis Tsakalotos am 1. Mai mit den Granden der Euro-Staaten beschlossen hatte. Trotz zahlreicher Streiks und Demonstrationen konnte die Tsipras-Koalition mit ihrer knappen Mehrheit (153 von 300 Stimmen) die neuen Beschlüsse durch das griechische Parlament bringen. Ich komme darauf noch ausführlicher zurück. Doch vorweg zum Spendenertrag der vergangenen Woche:

Leider sind die Zahlen weiter zurückgegangen. Hatten in den sieben Tagen davor 7 Spenderinnen und Spender immerhin noch 265,- Euro auf unser Hilfskonto eingezahlt, konnten wir dieses Mal nur einen Geldeingang von 85,- Euro verbuchen, überwiesen an uns von 4 Unterstützerinnen und Unterstützern. Selbstverständlich danke ich auch diesen SpenderInnen sehr! Aber traurig stimmt dieses Ergebnis doch. Selbst der bewegende Bericht von Tassos Chatzatoglou aus der letzten Woche hat also diesen Rückgang nicht verhindern können. Und selbst die Werbeaktionen von Bettina Beckröge und von mir – lest gegebenenfalls noch einmal nach in meinem 68. Bericht! – scheinen wirkungslos geblieben zu sein.

Das schmerzt vor dem Hintergrund der letzten Ereignisse in Griechenland doch sehr. Und damit zu dem, was gestern in Athen beschlossen worden ist.

An Protesten gegen diese Planungen hat es in der griechischen Bevölkerung während der letzten Tage wahrlich nicht gefehlt. Gestreikt hatten Flugpiloten, Staatsbedienstete, Lehrer und Ärzte. Seeleute hatten mit einem 48-stündigen Warnstreik die griechische Küstenschiffahrt lahmgelegt. Im Radio und im Fernsehen gab es keine Nachrichten. Und die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr von Thessaloniki sind, seit Montag dieser Woche, sogar in einen unbefristeten Warnstreik getreten, deshalb nämlich, weil ihnen seit dem März überhaupt keine Löhne mehr ausgezahlt worden sind (Ursache vermutlich: der Umstand, dass sich der Nahverkehr in Thessaloniki seit einiger Zeit in Privathand befindet, anders als – noch – in Athen). Genutzt hat dieses alles nichts. Und auch die Protestdemonstrationen gestern in Athen blieben am Ende wirkungslos. Deshalb vielleicht, weil nur einige tausend Menschen auf die Straße gingen – kaum verwunderlich in diesem zermürbten Griechenland? Jedenfalls mehren sich die Berichte, dass völlige Hoffnungslosigkeit die Menschen in diesem kaputtgeretteten Griechenland lähmt. Und auch im heutigen Abschlussbericht von Tassos Chatzatoglou über seine Hilfsfahrt durch Griechenland wird davon die Rede sein. Doch zuvor noch Mal zu den Beschlüssen, die gestern im griechischen Parlament gefasst worden sind. Und zu diesem Zweck zitiere ich noch Mal einige Partien aus meinem Bericht vor vierzehn Tagen.

Euklidis Tsakalotos, der griechische Finanzminister, hatte am 1. Mai bei der sogenannten „Troika“ – der EU-Kommission (KOM), dem Euro-Rettungsfonds (ESM) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – erneut antanzen müssen, weil Griechenland in der Pflicht steht, bis Mitte Juli des Jahres 7 Milliarden Euro an die sogenannten „Geberländer“ zurück überweisen zu müssen. Er hatte das zu tun, weil ansonsten Griechenland der Staatsbankrott drohte – wegen Nichtauszahlung der eigentlich längst vereinbarten Neukredite an Griechenland (zum Hintergrund und zur Bewertung dieser neuerlichen Erpresserpolitik der Euro-Staaten gegenüber Griechenland lest ebenfalls, so erforderlich, in meinem 67. Bericht noch Mal nach!). An diesem Tag stimmte Tsakalotos den folgenden Auflagen zu – und dies betreffend zitiere ich noch Mal die Passagen aus meinem Bericht, den ich Euch vor vierzehn Tagen gab):

1. Ab dem 1. Januar 2019 werden die Renten in Griechenland erneut gekürzt, bis zu 18 Prozent, im Schnitt um 9 bis 10 Prozent. Einsparungsziel: 1,8 Milliarden Euro. Das dürfte dann die dreizehnte Rentenkürzung in Griechenland seit Beginn der „Rettungsaktionen“ sein.

2. Ab dem 1. Januar 2020 kommt es zu erneuten Steuererhöhungen. Gleichzeitig wird der Steuerfreibetrag von jetzt 8.636,- Euro pro Jahr abgesenkt auf 5.581,- Euro pro Jahr. Heißt: setzte bereits jetzt die Steuerpflicht ein bei einem Monatseinkommen von 720,- Euro, werden dann bereits Menschen mit 473,- Euro Monatseinkommen zur Kasse gebeten. Einsparungsziel: ebenfalls 1,8 Milliarden Euro.

3. Noch leichter als zuvor soll für die Unternehmer die Kündigung von Arbeitskräften möglich sein. Und nicht zuletzt:

4. Die Privatisierung von Staatsbetrieben wie E-Werken, Eisenbahn und Hafengesellschaften (in Piräus und Thessaloniki) wird fortgesetzt.

Diese Auflagen kommentierte ich in meinem 67. Bericht unter anderem so:

„Dies alles bedeutet: vielen Menschen in Griechenland wird es noch schlechter gehen als bisher; gleichzeitig werden sie früher und im stärkeren Ausmaße als bislang abgabepflichtig. Und der Staat wird – gerade im Bereich der Daseinsvorsorge – einer weiteren Welle der Zwangsenteignungen ausgesetzt.“

Nun, liebe HdS-Leserinnen und HdS-Leser, genau dieses wird nun in Griechenland von der Tsipras-Regierung, auf der Basis der Parlamentscheidungen gestern, Stück für Stück in die Tat umgesetzt. Das bedeutet konkret: die für 2019 geplanten Rentenkürzungen werden einen Umfang haben von einem Prozent der gesamten Wirtschaftsleistungen in Griechenland – das käme in Deutschland einer Rentenkürzung von 31 Milliarden Euro gleich, wobei, anders als in Deutschland, von den Rentenzahlungen in Griechenland oft auch die Kinder und Enkel abhängig sind. Millionen Bürgern in Griechenland droht also noch größeres soziales Elend als bisher. Und nimmt man die anderen Maßnahmen noch hinzu, sieht das alles noch viel schlimmer aus: noch mehr Steuerbelastungen, noch mehr Privatisierungen, noch mehr Abbau von Arbeitnehmerrechten. Wobei ich, der Vollständigkeit halber, auch das Folgende nicht unerwähnt lassen will: Die griechische Regierung plant auch – unterschiedlich in den deutschen Medien betitelt – „Gegenmaßnahmen“, „Ausgleichsmaßnahmen“, „Hilfsmaßnahmen“ gegen diesen weiteren Verelendungskurs. Ich zähle sie hier einmal, hoffentlich einigermaßen vollständig, auf – freilich: mit all der Vagheit, die ja insgesamt für die bundesdeutsche Berichterstattung über Griechenland typisch ist:

1. Hilfe für „ärmere Familien“ (Finanzvolumen bis dato unklar!);
2. Mietzuschüsse bis zu 1.000,- Euro pro Jahr für 600.000 „verarmte Familien“;
3. Senkung der Immobiliensteuern (bis dato unbeziffert);
4. Kindergeld für das 1. und 2. Kind bei „verarmten Familien“ (veranschlagt: 260 Millionen Euro);
5. Schaffung von 200.000 neuen Arbeitsplätzen (veranschlagt: 200 Millionen Euro);
6. Kinderkrippenplätze für jedes 3. Kind bis zum 4. Lebensjahr (bis dato unbeziffert);
7. kostenlose Schulspeisung für etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler an Grundschulen und Gymnasien (bis dato unbeziffert);
8. Minderung der Selbstbeteiligung der PatienInnen an Arzneikosten (bis dato unbeziffert).

Ich möchte diesen Katalog der „Gegenmaßnahmen“, angesichts der vielen Unklarheiten, heute von meiner Seite aus nur mit einem einzigen Satz versehen: wunderschöne „Zukunftsmusik“, vielleicht, aber wie hinter einem Vierfach- oder Fünffach-Vorhang gespielt. Kaum kann man da noch Trompetensignale von Schalmeienmusik unterscheiden. Oder prosaischer formuliert: nix Genaues weiß man nicht! Vor allem aber:

Alle diese „Gegenmaßnahmen“, so SPIEGEL-Online vom gestrigen Tage, müssen von den Gläubigern genehmigt werden! Und: sie werden nur in dem Maße umgesetzt, in dem der Primärüberschuss des griechischen Haushalts „die ohnehin sehr ambitionierte Marke von 3,5 Prozent“, so der SPIEGEL, übersteigen wird. „Was“, so Giorgos Christides auf SPIEGEL-Online in demselben Artikel, „im Umkehrschluss heißt: Wird diese Marke nicht erreicht, wiegt nichts diese neuen Einschnitte auf“. Eine 64-jährige Rentnerin, so der Athener Journalist, kommentierte diese „Ausgleichsversprechen“ jedenfalls so: „Die Kürzungen werden kommen, die Gegenmaßnahmen nicht“. Ich müßte lügen, wenn ich der Rentnerin mit Überzeugung widersprechen wollte!

Lasst mich den heutigen Bericht beschließen, indem ich ausführlich noch Mal Tassos Chatzatoglou zu Wort kommen lasse – und damit, indirekt, die konkreten Realitäten ganz unten in Griechenland! Ich würde mich riesig freuen, wenn dieser Bericht viele von Euch so bewegen würde, wie er mich bewegt hat. Tassos Chatzatoglou, mit Mail vom 17. Mai:

„Lieber Holdger, liebe Alle,

das ist vorläufig mein letzter Bericht aus Athen. Die Zeit hier vergeht sehr schnell. Ich nehme an, weil so viel zu tun ist. Es ist eine Tätigkeit, die alles mit sich bringt: Erfolgsgefühle, Traurigkeit, Wut, alles. Die Menschen, denen ich begegnet bin, wissen, woher das Geld kommt! Die Worte der Dankbarkeit bestätigen das. Die Frage, die ich immer wieder zu hören bekommen habe, ist: wann nimmt das Ganze ein Ende? Die Menschen hier, einst ein stolzes Volk, sind gebrochen. Sie trauen sich nicht mehr, direkt ihre Meinung kund zu tun. Sie haben Angst, Angst, dass die Hilfe auf einmal wegbleibt. Deutlich verspüre ich das, ich beherrsche die griechische Sprache, ich kann zwischen den Zeilen lesen. Ich spüre die Angst, die diese Menschen, mein Volk, tagtäglich verspüren. Das ist auch die Angst, die menschliche Würde zu verlieren!

Einst meinte meine Großmutter, dass man der Armut nicht auf dem Bürgersteig begegnen würde. Diese Worte habe ich jedes Mal im Kopf, wenn ich jemanden treffe, um Lebensmittelbons oder Bargeld für Therapien zu übergeben, oder Stromrechnungen bezahle. Ich versuche, den Menschen das Gefühl zu geben, dass wir nicht wie die Kirche Almosen verteilen. Wir helfen einfach den Menschen in Griechenland, die Krisenzeit zu überwinden, ohne dass sie ihre menschliche Würde dabei verlieren.

Nun zu den Aktivitäten seit meinen Zwischenbericht von voriger Woche.
Auf dem Zeitplan stand der Besuch bei “Το χαμογελο του παιδιου” (to chamógelo tou pedioú), einer Art Waisenhaus in Moshato in einem Athener Vorort. Ich übergab im Namen der IHW Babybekleidung, Windeln und Spielsachen, welche wir in Graz als Spende erhalten hatten. Ich erhielt sogar eine Bestätigung hierfür. Ein großes persönliches Dankeschön an die Spenderin.

Weiter ging es nach Korydallos. Frau Tisizoglou, die für die Osterhilfe Zuständige, übergab mir die Quittungen unserer diesjährigen Osterhilfe. “Die Betreuung der fast 600 Familien in Korydallos ist bis September gesichert”, erzählte sie mir. Dann aber wird unsere Hilfe abermals benötigt, um den Kindern beim Schulanfang ein Gefühl der Normalität zu vermitteln. Ich hoffe, dass sich für diese zukünftige Schulaktion auch dann wieder offene Spenderherzen finden werden.

Anschließend fuhr ich zu Sklavenitis, um Lebensmittelbons für Familie K. in Megara, Alexander, unseren arbeitslosen Schauspieler, sowie den an Multipler Sklerose erkrankten Spiros zu besorgen.

Ich habe mich auch nach den Kindern der Familie M. aus Andros erkundigt. Die beiden Jungen sind mittlerweile in einem Heim in der Nähe von Athen untergebracht. Das Heim befindet sich inmitten von Lemos Vouliagmenis, einem Ort direkt am Meer, wo nur Reeder und Millionäre ihre Domizile haben. Es ist mir ein Rätsel, warum die Kirche dieses Heim bisher nicht an einen Millionär veräußert hat. Die beiden Mädchen befinden sich nach wie vor im Kloster-Internat. Die dortige strenge Erziehung ist für deren Entwicklung sicherlich nicht förderlich. Die beiden Jugendlichen haben wie Gleichaltrige, die unter normalen Umständen heranwachsen, Bedürfnisse, die wir durch deren Patin ein wenig unterstützen konnten. Der regelmäßige Besuch bei einer Hautärztin zur Behandlung der Akne, die Fahrkarten, um die auf Andros lebende Mutter zu besuchen, der Kauf persönlicher Dinge, die die beiden Heranwachsenden sich wünschten, das alles konnte die Patin ermöglichen, wofür ihr die beiden Teenager auch sehr dankbar sind. Mittlerweile konnte der Vater Arbeit finden. Sein Verdienst scheint ausreichend zu sein, sodass er sich auch finanziell um seine Kinder kümmern kann. Wir behalten die Kinder trotzdem weiter im Auge, da man ja nie wissen kann, was die Zukunft bringen wird.

Auch der kleine Dionysis ist gut versorgt und braucht bis nächsten Monat kein Geld für seine Diät-Nahrung.

Es ist ein gutes Gefühl zu sehen, wie sorgsam unsere Bedürftigen mit den Spendengeldern umgehen.

Herzliche Grüße aus Athen,
Euer Tassos“

Liebe HdS-Leserinnen und HdS-Leser, das war, so vermute ich, eine weite Reise heute, für Euch und für mich. Wir haben nochmal Brüssel aufsuchen müssen, danach Athen, das Parlament dort, wir sind niederschmetternden Beschlüssen begegnet und angeblich wunderbarer Zukunftsmusik, wir mussten vor allem aber – wieder einmal – den furchtbaren Realitäten ins Auge schauen, wie sie überall im heutigen Griechenland anzutreffen sind, und konnten bestenfalls leise Freude verspüren, daß wir einigen Menschen auf diesem Versuchsfeld der europäischen Austeritätspolitik – diesem Mega-Experiment politischer Brutalität – zu helfen vermochten – und auch weiterhin zu helfen vermögen (so hoffe ich jedenfalls).

Und damit zu meinen obligaten Schlusshinweisen:

Wer uns bei unserer Hilfe für Menschen in Griechenland unterstützen will, unter dem Stichwort „GriechInnenhilfe“, oder wer auch uns Akteure wieder mal mit Organisationsgeldern helfen will (dann bitte unter dem Stichwort „HDS“), der überweise uns bitte Spendengelder auf das folgende Konto:
Inhaber: IHW
IBAN: DE16 2605 0001 0056 0154 49
BIC: NOLADE21GOE
Und hier nochmal die Kontaktdaten von Peter Latuska, an den Ihr Euch wenden könnt, wenn Ihr Patenschaften übernehmen wollt oder eine Spendenbescheinigung benötigt (für Spendenbeträge bis 200,- Euro genügt fürs Einreichen beim Finanzamt Kopie oder Original Eurer entsprechenden Kontoauszuges):
Peter Latuska
Theodor Heuss Str. 14
37075 Göttingen
Email: latuskalatuska@web.de
Mit herzlichen Grüßen
Euer Holdger Platta

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