Bücher neu gelesen: Die Roadmap für Frieden in Kurdistan

 In Buchtipp, FEATURED, Politik

Transparent bei einer Demonstration auf dem Münchner Marienplatz im Oktober 2018.

Seit Monaten droht Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit dem Einmarsch der türkischen Armee in die autonomen nordsyrischen Gebiete in Rojava. Nach der völkerrechtswidrigen Besetzung des Kantons Afrin im Januar 2018 dürfte auch der nächste Angriffskrieg erneut mit deutschen Panzern und Waffen durchgeführt werden. Vor wenigen Wochen hat Erdoğan die demokratisch gewählten Bürgermeister*innen in den kurdischen Großstädten in der Türkei durch Zwangsverwalter ersetzen lassen. Vor dem Krieg soll die Opposition ausgeschaltet werden.
Letzte Woche haben wir an den kürzlich verstorbenen Immanuel Wallerstein und sein großes Werk erinnert. Heute lassen wir den Vordenker für eine gerechtere Gesellschaft ein außergewöhnliches Buch vorstellen: Die Roadmap für Verhandlungen des kurdischen Politikers und Gefangenen Abdullah Öcalan. mb

Wenn Krieg droht, ist es umso wichtiger vom Frieden zu sprechen. Und vor allem über konkrete Visionen und Perspektiven für einen gerechten Frieden: Das 2012 auf Deutsch erschienene Buch Roadmap für Verhandlungen bildete das Herzstück des geheimen Dialogprozesses zwischen Abdullah Öcalan und dem türkischen Staat, der 2009 begann und Mitte 2011 von der AKP-Regierung abgebrochen wurde. Trotz der Kriegsrhetorik und der Massaker der türkischen Regierung in den vergangenen Jahren wird die Roadmap für alle weiteren Gespräche über einen gerechten Friedensprozess in der Türkei, in Kurdistan und im gesamten mittleren Osten auch in Zukunft von zentraler Bedeutung sein. Deshalb lohnt es sich, dieses Buch heute erneut zu lesen: „Seine Bedeutung für die Türkei, ja die komplette Region zwischen Bosporus, Kaukasus und Teheran kann kaum überschätzt werden – hinzu kommen die Millionen im Exil lebenden Kurden: Abdullah Öcalan, seit Jahrzehnten an der Spitze der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, gilt sowohl als Stratege des türkischen Bürgerkriegs als auch als potenzieller Friedensbringer“, schrieb Hannes Heine über die Gefängnisschriften des PKK-Gründers Abdullah Öcalan am 1. Juli 2013 im Berliner Tagesspiegel.

In seinen Gefängnisschriften entwickelt der prominenteste kurdische Politiker Öcalan, der seit 1999 auf einer kleinen Gefängnisinsel im Marmarameer in Isolationshaft sitzt, seine grundlegenden Überlegungen und definiert die nötigen Schritte für den Beginn eines wirklichen Friedensprozesses. Gleichzeitig skizziert er, so die Herausgeber des Buches, die Internationale Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan„eine echte Lösung für die kurdische Frage. Jenseits traditioneller Lösungsmodelle wie Eigenstaatlichkeit oder territorialer Autonomie zeichnet er die Vision einer demokratischen Nation und einer gemeinsamen Heimat für alle Staaten, in denen Kurden leben – ja, für den gesamten Mittleren Osten. Indem er konventionelle Argumente entkräftet, schafft er Denkanstöße für sämtliche Parteien des Konflikts.“

Das Vorwort für dieses Buch hat Immanuel Wallerstein geschrieben und darin die Bedeutung dieser friedenspolitischen Roadmap gewürdigt. Wallerstein ordnet dabei den Prozess der kurdischen Freiheitsbewegung um eine Demokratisierung der Türkei und der gesamten Region in den globalen Kampf für eine Alternative zum zerstörerischen System des Kapitalismus ein:

„Die Roadmap schlägt »eine Lösung für die kurdische Frage« in der Türkei vor. Doch schneidet das Buch Themen an, die viel grundsätzlicherer Natur sind und viel weiter reichen als die spezifischen geohistorischen Fragen, die es behandelt. Nach meinem Eindruck gibt es die folgenden vier unterschiedlichen, wenn auch sehr stark miteinander verwobenen Widersprüche in der Funktionsweise des modernen Weltsystems, das eine kapitalistische Weltwirtschaft ist:
1.) die Suche der Staaten nach Souveränität
2.)  das Bestreben aller Staaten, Nationen zu werden
3.)  die Forderungen, dass Staaten demokratisch sein sollen
4.) die Methoden, durch die der Kapitalismus sein Gleichgewicht aufrecht erhält
Um sie angemessen zu behandeln, müsste jedem dieser Widersprüche ein Buch gewidmet werden. An dieser Stelle kann ich die Themen nur kurz anreißen.

(1) Souveränität: Die formale Struktur des interstaatlichen Systems, das als Teil des modernen Weltsystems geschaffen worden ist, besteht darin, dass alle Staaten souverän sind. In der Theorie bedeutet Souveränität, dass die Staaten autonom Entscheidungen treffen, ohne Einmischung anderer Staaten oder institutioneller Strukturen innerhalb der Grenzen des Staates.

Sobald man diese theoretischen Merkmale geltend macht, ist es natürlich offensichtlich, dass kein einziger Staat diese Souveränitätskriterien erfüllt. Es stellt sich heraus, dass der Anspruch eines Staates, souverän sein zu wollen, im Kern ein Anspruch, ein Ziel ist, dem manche Staaten mehr, andere weniger gerecht werden, das jedoch keiner vollständig erreicht.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass dieser Anspruch sich in zwei Richtungen erstreckt – nach außen, jenseits der Staatsgrenzen, und nach innen, bezogen auf Gruppen innerhalb des Staates. Je weniger ein Staat in der Lage ist, sich nach außen zu verteidigen, desto mehr legt er seinen Schwerpunkt darauf, sich gegen die innere Erosion seiner Souveränitätsansprüche zu verteidigen. Die Republik Türkei fällt unter die letztere Kategorie, wobei dies natürlich nicht nur für die Republik Türkei gilt. Die große Mehrheit der Staaten im modernen Weltsystem
befindet sich in dieser Situation.

(2) Der Nationalstaat: Der grundsätzliche Mechanismus, mit dem Staaten versuchen, ihre Souveränität gegen Gruppen oder Institutionen innerhalb ihrer Grenzen zu verteidigen, ist der sogenannte Jakobinismus. Man kann den Jakobinismus sehr einfach definieren. Es geht um zwei Aspekte. Erstens ist dies die Forderung, dass alle »Bürger« eines Staates ihre Zugehörigkeit zu einer einzigen »Nation« anerkennen – wie auch immer sich diese Nation definiert. Zweitens geht es um die Forderung, dass die Loyalität gegenüber dieser Nation Priorität haben soll vor allen anderen Bezugspunkten des Bürgers – seien es Loyalitäten gegenüber seiner Klasse, dem Geschlecht, einer religiösen Gemeinschaft, einer »Ethnizität« oder gegenüber Verwandtschaftsgruppen, kurz: Priorität der »Nation« vor jeder anderen Gruppe als der »Nation«, wie sie vom Staat definiert wird.

Während der Druck, diese nationale Loyalität zu erzeugen (wobei diese dann das Etikett des Patriotismus bekommen kann), den Staat hinsichtlich seines Souveränitätsanspruchs nach außen zu stärken scheint, sorgt er offensichtlich für erhebliche innere Spannungen. Alle Arten von möglichen Gruppen widersetzen sich der Unterwerfung unter die Forderung nach nationaler Loyalität. Und manchmal, sogar ziemlich oft, führt dieser Widerstand zur Anwendung von Gewalt. In den letzten Jahrzehnten hat der Jakobinismus seinen Glanz verloren, und in vielen Ländern gibt es die Forderung, der Staat solle sich als »plurinational« definieren – was viele verschiedene institutionelle Formen annehmen kann. Die Schwierigkeit besteht darin, die institutionellen Formen und»Grenzen« des Plurinationalismus zu definieren. Allein durch die Behauptung, dass ein Staat plurinational sei, wird das Problem nicht gelöst.

(3) Demokratie: Eines der großen Vermächtnisse der Französischen Revolution war die weltweite Legitimierung des Konzepts, dass »Souveränität« weder einem Herrscher, noch einer Legislative gehört, sondern dem »Volk«. Das Problem ist, dass dieses Konzept, wenn es auch rhetorisch legitim ist, die Machthaber, Prestigeträger und Privilegierten abschreckt. Sie versuchen, diesen Anspruch auf jede nur erdenkbare Weise zu negieren.

Was das ausgehende 20. Jahrhundert angeht, so blieb kaum ein Staat übrig, der nicht behauptet hätte, »demokratisch« zu sein. Normalerweise wurde dieser Anspruch darauf gestützt, dass es nationale Wahlen und ein Mehrparteiensystem gab. Es ist nicht schwierig aufzuzeigen, dass es wohl kaum der Idee der Volkssouveränität genügt, alle paar Jahre solche Wahlen abzuhalten und die repräsentative Macht auf Parteien – sogar abwechselnd auf mehrere – zu übertragen, deren tatsächliche Programme sich nur begrenzt unterscheiden. Ich persönlich glaube nicht daran, dass es heute irgendeinen Staat gibt, der meiner Definition von Demokratie entspricht, obwohl einige sicherlich schlimmer sind als andere.

Der Kampf um die Demokratisierung ist im Verlauf der letzten fünfzig Jahre sehr viel aktiver und intensiver geworden, indem immer mehr Gruppen auf ihrer tatsächlichen Teilhabe an der Entscheidungsfindung bestehen. Das ist sehr positiv, jedoch ist es eine Aufgabe, mit deren Lösung gerade erst begonnen wurde, und sie ist weit davon entfernt, auch
nur zur Hälfte bewältigt zu sein.

(4) Kapitalismus: Unser modernes Weltsystem ist ein kapitalistisches System; es basiert auf dem Streben nach der endlosen Akkumulation von Kapital. An diesem Maßstab gemessen war es in den letzten fünfhundert Jahren ein recht erfolgreiches System. Das Kapital hat sich stetig vermehrt, und es kam zu einer fortgesetzten Konzentration und Zentralisierung in den Händen der Kapitalbesitzer.

Wie alle in irgendeiner Weise variablen Systeme fluktuieren seine Prozesse mit einer gewissen Regelmäßigkeit – in den zyklischen Rhythmen eines Systems. Das System überlebt, weil es eingebaute Mechanismen gibt, die diese Fluktuationen zurück in ein Gleichgewicht zwingen, ein sich bewegendes Gleichgewicht. Langsam, aber unerbittlich nähern sich diese Prozesse Asymptoten an. Langfristig gibt es den Trend, dass Punkte erreicht werden, an denen die Fluktuationen sich zu weit vom Gleichgewicht entfernen; und das System kann die relativ stabile Umwelt, in der es normalerweise operiert hat, nicht länger aufrechterhalten.

Wenn das geschieht, gerät das System in eine tödliche Krise. Es spaltet sich und wird »chaotisch«. In den dann folgenden politischen Kämpfen geht es nicht länger um das Überleben des Systems, sondern darum, welcher der sich auftuenden alternativen Ausläufer der Gabelung gewinnt und zur Basis eines Ersatzsystems wird. Gegenwärtig befinden wir uns in dieser Periode eines systemischen Übergangs. Uns stehen weitere zwanzig bis vierzig Jahre des Kampfes bevor, bis die kollektive »Entscheidung« getroffen worden sein wird.

Es ist intrinsisch unmöglich, das Ergebnis vorherzusagen, aber es ist sehr wohl möglich, es durch
unsere individuellen und gemeinschaftlichen kollektiven Aktivitäten zu beeinflussen. Ein mögliches Ergebnis ist ein neues System, das in einem nicht-kapitalistischen System die schlimmsten Merkmale des kapitalistischen Systems nachahmt, – ein System, das hierarchisch, ausbeuterisch und polarisierend ist – in einem nicht-kapitalistischen System, das vielleicht noch schlimmer ist als das kapitalistische. Das andere mögliche Ergebnis ist ein relativ demokratisches und relativ egalitäres System, wie es die Welt noch nie gesehen hat – das jedoch durchaus möglich ist.

Schlussfolgerung: Wir können den Nutzen politischer Aktionen innerhalb der Türkei, innerhalb der kurdischen Gemeinschaft nicht bewerten, wenn wir unsere Analyse nicht im Kontext dieser vier Widersprüche sehen: des fortgesetzten Strebens des türkischen Staates nach Festigung seiner Souveränität; des Drängens vieler Menschen in der Türkei darauf, dass die Implementierung und Anwendung der jakobinischen Option bestätigt wird; des Strebens vieler Menschen danach, ein höheres Maß an Demokratisierung zu erreichen; und der Weise, auf die all diese Arten politischen Handelns den weltweiten Kampf darüber beeinflussen werden, welche Art von System das nun dem Untergang geweihte kapitalistische Weltsystem ersetzen wird.“

Das Buch (14,90 €) ist bestellbar über:

http://ocalan-books.com/#/book/die-roadmap-fuer-verhandlungen

 

 

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