Das Flüchtlings-Dilemma

 In FEATURED, Politik

Die öffentliche Debatte wurde auf die Frage verengt, ob wir „für“ oder „gegen“ Flüchtlinge sind. Im Kapitalismus basiert der Wohlstand der einen auf gnadenloser Ausbeutung der anderen. Lange konnten die Industrienationen das Elend verbannen. Das ist vorbei. Die Fluchtkrise transportiert es vor unsere Haustüren. Das befördere soziale Verwerfungen, schüre Hass und treibe das deutsche Proletariat nach rechts, sagen Linke, die für Abschottung plädieren, während andere moralisch dagegenhalten. Beides ist falsch: Die Fluchtkrise stellt uns vor den Grundwiderspruch des Kapitalismus. Der ist innerhalb des Systems nicht lösbar. (Susan Bonath)

Landraub, Verwüstung, gnadenlose Ausbeutung, Kriege, zerfallende Staaten, in denen Oligarchen mit ihren bewaffneten Banden um Einfluss ringen: Millionen Menschen sind auf der Flucht vor unmenschlichen Lebensbedingungen. Zehntausende folgen den Warenströmen nach Europa. Wer nicht schon in einer Auffangstation im Niger strandet oder in der Wüste verdurstet, landet in libyschen Folterlagern. Und steigt, wenn er kann, in eins der seeuntüchtigen Schlauchboote. Nur weg von dort, koste es, was es wolle. Mehr als 600 Menschen sind alleine im Juni im Mittelmeer ertrunken.

Die Überflüssigen

Und es könnten noch mehr werden. Seit Anfang Juli sind alle Rettungsschiffe der NGOs festgesetzt. Zuvor fuhren sie tagelang übers Meer, weil niemand die geflüchteten Menschen haben wollte. Als gehe es um überflüssiges Schüttgut, das niemand braucht.

Europa schottet sich ab – vor überflüssigen Menschen, produziert vom global wütenden, hochtechnisierten Kapitalismus. Massenelend stumpft ab. Mitgefühl? Fehlanzeige.

Schüttgut kann man zur Not im Meer versenken. Das ist die Realität.

Auch selbsterklärte Linke, sogar sich als Kommunisten, Sozialisten oder Marxisten Bezeichnende, reden inzwischen vom Abschotten und Sortieren der Geflüchteten in nach Recht und Gesetz Asylberechtigte und „illegale Einwanderer“. Man gibt sich rational: Man könne doch nicht ganz Afrika hereinlassen. Oder: Wer ganz Kalkutta aufnehme, werde selbst zu Kalkutta, meinen besonders zynische Vertreter.

Andere verweisen – nicht zu Unrecht – auf drohende weitere soziale Verwerfungen in Deutschland. Die fremden Lohnabhängigen würden als billige Arbeitskräfte missbraucht und erzeugten immer mehr Spaltung innerhalb des Proletariats, das letztlich nach rechts drifte, heißt es. Das gelte es zu verhindern.

Natürlich: Die Argumente sind nicht falsch. Sie erscheinen logisch und rational. Doch ihre Konsequenz ist fortgesetztes Massensterben von tausenden Opfern der kapitalistischen Profitmaschine. In dieser so rational klingenden Logik steckt letztlich jener Nationalismus, mit dem rechte und faschistische Kräfte die Höherwertigkeit des „eigenen Volkes“ erklären: deutsche Proletarier um der (nicht in Aussicht stehenden) Revolution willen, also zugunsten eines höheren Ziels, zuerst. Der Philosoph und Soziologe Max Horkheimer – man mag von ihm halten, was man will – sprach von „rationalisierter Unmenschlichkeit“.

„Sei misstrauisch gegen den, der behauptet, dass man entweder nur dem großen Ganzen oder überhaupt nicht helfen könne. Es ist die Lebenslüge derer, die in der Wirklichkeit nicht helfen wollen und die sich vor der Verpflichtung im einzelnen bestimmten Fall auf die große Theorie hinaus reden. Sie rationalisieren ihre Unmenschlichkeit. Zwischen ihnen und den Frommen besteht die Ähnlichkeit, dass beide durch höhere Erwägungen ein gutes Gewissen haben, wenn sie dich hilflos stehen lassen“ (1).

Hätte, könnte, wäre wenn…

Linke erklären Forderungen nach mehr Grenzschutz, um die deutschen Armen vor der Aufnahme zu vieler armer Geflüchteter zu schützen, allzu gern mit anderen Forderungen. Man verlange schließlich Abrüstung, den Stopp der Rüstungsexporte und Hilfsmaßnahmen in den Heimatländern der Betroffenen.

Das ist ja alles richtig und nötig. Nur: Es gibt diese Hilfe vor Ort eben nicht. Und weder sind die europäischen Regierungen daran interessiert, weitere Hilfsmaßnahmen zu finanzieren. Noch planen sie in irgendeiner Weise, den Waffenschmieden die Rüstungsproduktion und die Exporte zu untersagen. Das ist trotz noch so lauter Rügen auch nicht zu erwarten.

Denn kapitalistische Industriestaaten sind und bleiben die regionalen Management-Instrumente der herrschenden Klasse – innen- wie außenpolitisch.

Das heißt: Trotz all dieser richtigen und wichtigen Forderungen werden die Lebensbedingungen in der imperialistischen Peripherie nicht besser. Trotzdem fliehen Menschen in Massen vor den wachsenden sozialen und ökologischen Verwerfungen des marktkonformen Raubbaus zugunsten von Maximalprofit für die Eigentümer der Produktionsmittel. In ihrer Verzweiflung durchqueren sie die Wüsten, steigen in die Boote und gelangen, so sie überleben, an eine europäische Grenze. Das ist nicht zu leugnende Realität. Wie viele Opfer also rechtfertigen linke Ziele, wie die Rückeroberung des deutschen Sozialstaats für Sozialdemokraten oder der Aufbau eines nationalen revolutionären Subjekts für Kommunisten?
Klassenverrat

Gern wird auch argumentiert, die Ärmsten der Armen würden es ohnehin nicht bis nach Europa schaffen. Es kämen also gar nicht die bedürftigsten Opfer. Diese könnten die „Schlepper“ schließlich nicht bezahlen. Wobei dieses auch von der Bundesregierung benutzte Wording bewusst manipulativ ist: Menschen werden gegen ihren Willen verschleppt, um sie etwa zur Prostitution zu zwingen oder anderweitig zu versklaven.

Das ist bei den in Libyen festsitzenden Geflüchteten anders.

Jene „Bootsunternehmer“ tun nichts anderes im Kleinen, was jeder gewöhnliche Konzern im Kapitalismus im Großen auch tut: Sie machen Gewinne auf Kosten von Menschen, die unabwendbare Bedürfnisse haben. Sie erschließen Profitquellen dort, wo sich Profit generieren lässt.

Sie spielen mit, wie Bayer Monsanto und Nestlé auch. Ein Kapitalist, der sich um Menschenleben schert, ist kein guter Kapitalist im Sinne der bestehenden Wirtschaftsordnung.

Die meisten Geflüchteten retten nur ihr nacktes Leben nach Europa, selbst wenn sie aus einer Schicht stammen, die in ihrer Heimat schon die Mitte darstellt.

So wichtig und richtig es ist, darauf zu verweisen, dass täglich Zehntausende an Unterernährung sterben und die ärmsten Kriegsopfer mangels finanzieller Mittel nicht einmal bis zu ihrer Landesgrenze kommen: Dies rechtfertigt es auch aus humanistischer Sicht nicht, akut betroffene Opfer gegen andere akut betroffene Opfer auszuspielen, weder bezüglich der Armen im eigenen Land noch bezüglich der Ärmsten in der imperialistischen Peripherie.

Jede Abwägung, ob Aufnahme Geflüchteter nun aufgrund diverser höherer Ziele sinnvoll sei oder nicht, läuft letztlich auf eine Frage hinaus: Überlässt man die in Not Befindlichen sich selbst und nimmt ihren Tod in Kauf? Oder enthält man sich der Debatte um offene und geschlossene Grenzen und verlangt stattdessen Rechte für alle Armen, ob sie schon immer hier leben oder es hierher geschafft haben. Jede andere Option als letztere ist nicht nur inhuman. Sie mündet in einem nationalistischen Pakt mit den Herrschenden. Im marxschen Sinne ist das Ausspielen verschiedener proletarischer Gruppen gegeneinander nichts anderes als purer Klassenverrat.

Wacklige Argumente

Sicherlich wird die Wirtschaft zusehen, die menschlichen Kollateralschäden des globalen industriellen Wettbewerbs auch in Deutschland mithilfe politischer Maßnahmen möglichst billig auszubeuten – und so das Gesamtgefüge der Reallöhne weiter drücken. Dass die Massenflucht allerdings willkürlich aus diesem Grund forciert wäre, wie es nicht wenige behaupten, darf bezweifelt werden.

Schließlich könnte das Kapital die Geflüchteten in ihrer Heimat viel effizienter ausbeuten. Im heutigen Stadium des hochtechnisierten Monopolkapitalismus boomt der Kapitalexport. Für Kapitalisten ist es in der Regel weit profitabler, Fabriken in Indien, Bangladesh, in Tansania oder im Kongo zu errichten, als Arbeiter nach Zentraleuropa zu locken. Zumal es leichter für den Staat wäre, stattdessen auf billigste Arbeitskräfte aus Osteuropa zurückzugreifen. Doch denen macht es die Bundesregierung etwa durch fortschreitenden Ausschluss von allen Sozialleistungen immer schwerer.

Schließlich ist ein Industrie-Imperium auf eine gewisse innere Stabilität angewiesen, die durchaus gefährdet scheint. Hunderttausende Geflüchtete verursachen zum einen Kosten für den Staat – Geld, das ihm für die Durchsetzung imperialistischer Interessen fehlt. Zum anderen würden bürgerkriegsähnliche Zustände – von Rechtspopulisten gern schon jetzt heraufbeschworen – die wirtschaftliche Vormachtstellung des Exportweltmeisters Deutschland im vereinten Europa womöglich zu Fall bringen.

Solidarität als Gegenmittel

Was aber die herrschende Klasse ganz sicher nicht will, ist Solidarität innerhalb der verschiedenen unterdrückten Schichten, die im besten Fall in der Organisierung selbiger münden kann. In den USA der 60er und 70er Jahre machten dem Imperium Zusammenschlüsse von afroamerikanischen Menschenrechtsbewegungen und aus Weißen bestehenden Friedensinitiativen schwer zu schaffen. Es bekämpfte sie nicht umsonst mit schweren Geschützen – zum Beispiel mit dem bekannten FBI-Programm COINTELPRO. In Deutschland wären Zusammenschlüsse von migrantischen Organisationen und verschiedenen sozialen Bewegungen Einheimischer der Stachel im Fleisch der Herrschenden.

Dass diese Solidarität zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, unterschiedlichen Kulturkreisen entstammen und über völlig andere Lebenserfahrungen verfügen, nur schwer herzustellen ist, steht zweifelsfrei fest. Allerdings mündet jede Alternative dazu immer und immer wieder in jener rationalisierten Unmenschlichkeit, die Horkheimer beschrieben hat.

Hinzu kommt:

Wer Abschottung befürwortet, nimmt dafür die Errichtung repressiver Polizeistaaten in Kauf. Er wird letztlich für Aufrüstung und Stärkung der Herrschaftsinstrumente des Kapitals plädieren müssen.

Schon gar nicht bekämpft er die Ursache der nationalen und globalen Verwerfungen, die sich durch zunehmend aggressive Monopolisierung und Umweltzerstörung so oder so weiter verschärfen und immer mehr Opfer produzieren werden: die kapitalistische Produktionsweise.
Was wir nicht ertragen können…

Die Fluchtkrise stellt uns vor ein Dilemma. Sie führt uns den Hauptwiderspruch des Kapitalismus zwischen Kapital und Arbeit in Form seiner Opfer direkt vor Augen. Ein Dilemma hat es an sich, dass es keine Lösung unter gegebenen Umständen bietet. All die Probleme, die sich daraus ergeben, sind im Kapitalismus nicht zu beheben. Nichts würde es nützen, einen Konzern darum zu bitten, nicht das Wasser in Zentralafrika abzugraben, auf Panzerlieferungen oder im Kongo auf Kinderarbeit zu verzichten.

Denn wer nicht über die Produktionsmittel verfügt, hat keine Macht über Arbeit, Produktion und Verteilung. Er kann weder Ausbeutung und Waffenexporte stoppen noch ausreichend Lebensmittel in Dürre- und Kriegsgebiete schaffen. Er kann der ökologischen Ausplünderung keinen Einhalt gebieten. Er kann nicht mal selbst entscheiden, seinen Arbeitsplatz in einer Rüstungsschmiede aufzugeben, wenn er ansonsten keine Möglichkeit hat, seine Familie zu ernähren.

Über die Waffengewalt und damit jede Macht verfügt der Staat als Instrument der Ausbeuter. Und dies wird er jederzeit einsetzen. Das Kapital und seine Apparate handeln nicht menschlich. Sie handeln stringent nach der Logik des Maximalprofits.

Bezahlen muss dafür eine wachsende Masse an Überflüssigen: Menschen, die aufgrund wachsender Automatisierung, Digitalisierung und Rationalisierung für den Kapitalverwertungsprozess alias Geld > Ware > mehr Geld – und so weiter – nicht mehr nutzbar sind.

Zu dieser wachsenden Masse gehören Flüchtlinge genauso wie Obdachlose in Hamburg, verarmte Rentner in Frankfurt, in Berliner Abrisshäusern kampierende ost- und südeuropäische Arbeitsmigranten, Leiharbeiter bei Amazon, Hartz-IV-Bezieher in Duisburg, oder Indiens Straßenkinder. Der Weg von einem unsicheren Job in einer deutschen Firma zur Schlange vor einem Jobcenter ist sehr kurz geworden. Ob durch Entlassung, Alter oder Krankheit: Treffen kann es fast jeden, der kein größeres Vermögen besitzt.

Die Flüchtlinge werden also kommen. Und eins ist gewiss: Sie werden innerhalb der gegenwärtigen global-kapitalistischen Entwicklung nicht weniger werden.

Dieser Grundwiderspruch ist schwer zu ertragen. Denn er bringt uns in die Bredouille. Weil er nur aufzulösen ist durch eine Vergesellschaftung der Wirtschaft und der Entmachtung der kapitalistischen Staatsapparate.

So utopisch dies heute auch erscheint, so alternativlos ist es wohl. Bevor diese Ursache der Probleme nicht behoben ist, stehen Linke vor der Geduldsprobe: Schaffen sie es, auch unter gegenwärtigen Bedingungen menschlich und klassensolidarisch zu bleiben? Oder opfern sie beides für ein fernes Ziel, wobei fraglich ist, ob dieses so erreicht werden könnte.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Max Horkheimer in: Dämmerung. Notizen in Deutschland, gesammelte Werke Band 2, Seite 341

Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

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