Das Wilde in dir

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Schon mal was von Mystik gehört? Was für ein doch meist unverstandenes Wort! Und was hat das bitte schön mit unserem Thema, also mit „Wildheit“ zu tun? Und warum spricht man nicht mehr von „Wilden“, sondern von „Indigenen“. Selbst das gute alte Winnetou-Wort „Indianer“ ist verpönt. Aus ihm wurde der „nordamerikanische Ureinwohner“ am Marterpfahl der politischen Korrektheit. Gleichzeitig feiern die Germanen hierzulande wieder fröhliche Urständ. Dabei gab es die als Volk gar nicht. Seltsam, wirklich sehr seltsam. Aber es passt. Bobby Langer

„Sei nicht so wild!“, hätte wohl Senator Thomas Buddenbrook seinen vierjährigen Enkel ermahnt und sich dabei selbstgefällig den parfümierten Schnurrbart gestrichen. Sich den Schnurrbart parfümieren ist eben das Gegenteil von wild sein. Es ist nicht so lange her, da waren die Wilden noch nicht einmal als Menschen anerkannt. Man durfte sie nach Herzenslust versklaven, vergewaltigen, misshandeln, verstümmeln und umbringen, denn es fehlten ihnen angeblich „vernunftbegabte Seelen“. Erst am 2. Juni 1537 verkündete Papst Paul III. – er war lange von Missionaren dazu gedrängt worden –, dass es sich bei Indianern um „wirkliche Menschen“ handele.

Wilde Kinder – unerwünscht

Zum „Wildsein“ muss man also erst mal einen positiven Zugang finden. Und wild sein funktioniert ja auch in unserer wildnisfernen, dafür supermarktnahen, städtischen Welt nicht mehr so richtig. Ihr Kind sei ein „wildes Kind“ – welche Eltern hören das schon gerne aus dem Mund der Horterzieherin oder des Klassenleiters. Ein „wildes Kind“, das hört sich nicht nach „gut erzogen“ an und schon gar nicht nach „wahrscheinlicher akademischer Karriere“, eher doch nach Hartz IV. Spätestens in der vierten Klasse sollten Kinder mit Zukunft nicht mehr mit wilden Kindern spielen, damit deren schlechter Charakter nicht abfärbt.

Wild ist so etwas wie ungehobelt, ohne kulturelle Verfeinerung. Ein Mann, der wild wird, der schmeißt den Bierkrug krachend gegen die Wand, schlägt seine Frau und seine Kinder oder beschimpft Polizisten, die ganz zivilisiert und uniformiert einen Wasserwerfer bedienen. Und eine Frau, die wild wird? Was spricht da das Klischee? Man(n) kann sich’s denken.

Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung

Auf die Frage „Wann bist du das letzte Mal wild gewesen?“ dürfte ein ehrlicher Vierzigjähriger antworten: „vor 35 Jahren“ – wenn überhaupt. Vermutlich wird er sich aber gar nicht mehr erinnern können oder mögen. Auf Frauen dürfte das noch sehr viel mehr zutreffen. Aber mal ehrlich: Sollten wir überhaupt Zugang finden zum „Wilden in uns“? Bringt uns das letztlich nicht doch Ärger ein? Sagen wir mal so: Wer das Maß seiner Würde nach dem Schulterklopfen der anderen bemisst, dem sei dringend abgeraten. Wer hingegen Wege von der Fremdbestimmung hin zur Selbstbestimmung und zur eigenen Kraft sucht, der ist mit diesem Weg gut beraten.

Was heißt hier „Weg“? Tatsächlich handelt es sich um ein ganzes Bündel von Wegen, die in die potenzielle Freiheit führen.

Das Wilde schnuppern

Ein guter Anfang oder doch wenigstens ein Hineinschnuppern ins Wilde, ein Antesten wilder Erfahrung wäre die an indigene Rituale angelehnte Visionssuche, die inzwischen von vielen erfahrenen und kompetenten LehrerInnen angeboten wird (visionssuche.de). Ein Urgestein dieses Wegs, der Journalist Geseko von Lüpke, nannte seine Homepage nicht umsonst frei-verbunden-sein.de. Was der strengen Logik als Widerspruch erscheint, nämlich frei und verbunden sein zugleich, gehört im Wilden unweigerlich zusammen. Erst wer verbunden ist mit der Natur, der Mitwelt, dem Nichtmenschlichen, manche sprechen auch von Gott, der kann frei sein, ohne abzustürzen. Tatsächlich stehen die drei Wortbestandteile aber jeweils auch für sich. „Frei“ und „verbunden“ sind klar, aber was bedeutet „sein“? Am besten kommt dessen Gehalt (der hier zu weit führen würde) in dem von dem buddhistischen Lehrer Thich Nath Hanh geprägten Begriff „interbeing“ zum Ausdruck.

Die psychedelischen Wegweiser

Ein vielfach Ängste auslösender Weg ist der alte, in Deutschland weitgehend tabuisierte „Weg der Wilden“. Denn auch die Wilden waren ja weit weniger wild, als man zu wissen glaubte. Auch sie waren in ein Labyrinth von magischen Glaubensvorstellungen, Ängsten, Gewohnheiten und Tabus eingebunden, was ihre alltäglichen Schritte vielleicht nicht ganz so zuverlässig lenkte wie das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch, aber doch ähnlich. Einen großen Unterschied gab es allerdings in den meisten mir bekannten „wilden Gesellschaften“: das Wissen um einen Weg der Befreiung, gehalten von Weisen, ZauberInnen oder SchamanInnen. Sie kannten Pilze und Absude, mit deren Hilfe Menschen, eingebunden in schützende Rituale, wild werden konnten und durften, wo sie Kontakt bekamen mit der wahren Wildnis in ihnen, mit dem Urgrund, der sie mit allen anderen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen verband.

Dieser psychedelische Weg steht uns auch heute noch offen, freilich müssen wir vorsichtig sein, auf welche Torhüterin wir uns einlassen. Namen solcher Tore heißen beispielsweise Peyote, Ayahuasca, Meskalin, Psilocybin oder LSD. Wer freilich glaubt, er könne sich damit die Arbeit an sich selbst ersparen, dem seien Samuel Widmers Worte mitgegeben: „Die Droge schenkt uns nichts, was wir behalten können. Sie nimmt es uns am Ende der Erfahrung wieder weg. Sie zeigt uns nur den Weg, zeigt uns die Möglichkeit, ist Wegweiser und damit Hilfe, den Weg zu finden.“ Sehr viel umfassender, aber auch schwieriger zu begehen, ist der „Weg der Tolteken“.

Lebenspfade ins Herz des Wilden

Hilfe auf dem Weg zum wilden Sperrbezirk in uns schaffen drei miteinander verbundene und sich teilweise überschneidende Lebenspfade: der Weg der Achtsamkeit, der Weg der Meditation und der Weg der Schattenarbeit. Sie alle wären eigene, ausführliche Beiträge wert, denn jeder dieser Wege für sich kann die Anwender ins Herz des Wilden transportieren, muss aber nicht. Besonders erhellend für den Erstkontakt sind die Überschneidungszonen der drei Methoden: Achtsamkeit und Meditation überschneiden sich an ihrem Stillepunkt. Der Weg der Achtsamkeit gelingt am besten, wenn die Empfangsantenne unseres Geistes rausch- und filterfrei ist, ohne Fremdgeräusche, still; und Stille führt im Herzen der Meditation in direkten Kontakt mit dem Urgrund.

Eine nach innen gewandte, filterfreie Achtsamkeit schließt nichts aus und erlaubt dem ansonsten Ausgeschlossenen einen Weg an die Oberfläche bewusster Wahrnehmung. Dieses ansonsten Ausgeschlossene ist aber nichts anderes als der Schatten in uns; verdrängte, positive wie negative Persönlichkeitsanteile, die erhebliche Teile unseres Energiehaushalts gebunden und uns damit geschwächt haben. Einmal gesehen, sichtbar geworden, lassen sie sich mit achtsamer Betrachtung bzw. Kontemplation auflösen wie der Nebel auf dem Badezimmerspiegel durch einen Föhn.

Aus sich selbst stark werden

Mit welchem dieser Wegweiser oder Lebenspfade man experimentieren will, ist eine Sache der Neigung. Keiner davon funktioniert letztlich auf die Schnelle, und keiner lässt sich herbeizwingen. Eher klappt es mit dem Hofmachen, mit dem geduldigen Umwerben und liebevollen Annähern, das dann auch schon mal inbrünstig oder wild sein darf. Wild sein gestattet unserer inneren Natur, sich zu öffnen, aufzusteigen, es befeuert Kreativität und Intuition. Wild sein, das ist Freikörperkultur für die Seele; das ist „seine Stimme finden“; das heißt, sich mit dem „inneren Eingeborenen“ verbünden und aus sich selbst heraus stark werden – sich aufs Pferd schwingen ohne ideologische, konfessionelle oder esoterische Steigeisen. Und Mystik, zu guter Letzt? Mystik ist die aktive und zugleich demütige Annäherung an den wilden Urgrund, im besten Fall der KONTAKT.

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