Der große Bluff

 In FEATURED, Kultur, Politik (Inland)

Zeichnung: Wilhelm Busch

Wie der Staat sich die Herrschaft über die Sprache sicherte. Die Rechtschreibreform von 1996 hatte mächtige Befürworter, aber zweifelhafte Rechtsgrundlagen. Und sie stand am Beginn einer unheilvollen Entwicklung unserer Demokratien. Anpassungen der Rechtschreibung folgten bisher dem realen Sprachgebrauch im Volk. Erstmals in der Geschichte versuchten Politiker nun Sprache von oben zu verordnen. Ein gefährlicher Präzedenzfall postdemokratischer Machtanmaßung. Denn wer die Sprache der Menschen prägt, prägt auch ihren Geist. Millionen wertvoller Bücher waren nach der Reform nicht mehr verfügbar, wurden aus den Bibliotheken genommen, damit Schüler nicht die „falsche Rechtschreibung“ lernten. De facto eine Art Bücherverbrennung ohne Feuer, der vor allem Werke abseits des kommerziellen Mainstreams zum Opfer fielen. (Roman Müller)

Wußten Sie schon …?
Der passive Widerstand
beginnt mit der Rechtschreibung.

Spätestens seit Gründung des wirtschaftsliberalen EU-Projekts in Maastricht 1993 beobachtet man in Europa eine konsequent umgesetzte Politik der „Reformen“, die sich in aggressiver Weise gegen die moderne Sozialdemokratie und unsere sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts richtet. Diesen offenkundigen Verfall unserer demokratischen Kultur hatte der britische Sozialforscher Colin Crouch im Jahr 2004 als „postdemokratische Entwicklung“ beschrieben, „im Zuge derer viele Errungenschaften des 20. Jahrhunderts rückgängig gemacht werden könnten“. Daß Colin Crouch in seinen Ausführungen noch weit davon entfernt ist, den Kapitalismus als solchen in Frage zu stellen, oder daß der postdemokratische Kulturverfall schon weiter fortgeschritten scheint, als Crouch es wahrhaben wollte, mag hier von untergeordneter Bedeutung sein.

Seit zwei Jahrzehnten wird nunmehr in Europa eine gezielte Aushöhlung unserer Demokratien vorangetrieben, nach dem Modell einer reaktionären Ideologie, dem Wirtschaftsliberalismus. In den vergangenen Zeiten der Könige und Kaiser mochten die Liberalen vielleicht fortschrittlich gewesen sein. Heute erblicken sie in der modernen Sozialdemokratie ihr größtes Feindbild.

Zwar verpflichten unsere Staatsverfassungen die gewählten Regierungen zur Sozialstaatlichkeit, die allen Bürgern und Bürgerinnen ein angemessenes Auskommen zusichern muß. Dieses Recht gilt es heute wieder einzufordern. Seit Jahren werden uns eine Reihe rückschrittlicher „Reformen“ und der massive Abbau der Sozialsysteme als wirtschaftsliberaler „Fortschritt“ aufgezwungen. Die Bevölkerung, deren „Leidensfähigkeit“ besonders unter der Armutsgrenze mitten in Friedenszeiten offenbar auf die Probe gestellt werden soll, kann es spüren, eine gewaltige Umwandlung ist im Gange, weil die liberale Ideologie sich in allen Bereichen der Politik festgesetzt hat. Unter dem übermächtigen Einfluß wirtschaftsliberaler Lobbyverbände und Denkfabriken sollen unsere Sozialdemokratien schrittweise in „liberale Demokratien“ umgewandelt werden. Die Reformen der Liberalen drohen in unseren Demokratien keinen Stein auf dem anderen zu lassen.

Aber es geht in Wahrheit um mehr: Es handelt sich bei dieser reaktionären Umwandlung um eine „Neuordnung des gesamten Denkens, die alle Bereiche des Lebens sowie den Menschen selbst einem ökonomischen Bild entsprechend verändere – mit fatalen Folgen für die Demokratie“ (Wendy Brown.)

Dann nämlich wird eine menschenverachtetende Ideologie, die überall nur Profit sucht und keinerlei soziale Verantwortungspflicht anerkennen will, sich Staat und Volk unterworfen haben. Die Gesellschaft insgesamt soll „liberal“ (nach den Bedürfnissen des Kapitals) denken lernen, und die rückschrittliche Entwicklung der Sozialpolitik als „Fortschritt“ wahrnehmen.

Ich möchte nun behaupten, daß die Rechtschreibreform, die im Jahr 1996 unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne jede äußere Notwendigkeit eingeführt wurde, ein allererstes Experiment zur Umsetzung postdemokratischer Herrschaftsformen gewesen sein könnte. Natürlich wurde neoliberale Politik bereits in den 1980er-Jahren gemacht, aber erst mit Hilfe der EU sollte der Wirtschaftsliberalismus seinen Siegeszug antreten.

So erscheint also die Rechtschreibreform als Feldversuch der Wirtschaftseliten, ob es gelingen würde, eine an sich nutzlose Reform völlig unmotiviert auf nicht allzu demokratische Weise in deutschen Landen umzusetzen, ohne daß es darüber ein großes Geschrei geben würde, was auch gelang.

Damit wurde die Rechtschreibreform zum Modell einer Politik hinter verschlossenen Türen, die sich gegen den Sozialstaat richtet, und bei der uns mittlerweile das bloße Wort „Reform“ schon kalte Schauer über den Rücken jagt, weil dann nur wieder neues Unheil über die bestürzte Menschheit zu kommen droht.

Im Rückblick erscheint es geradezu bemerkenswert, daß diese ganze Welle von Überwachung, Medienmanipulation und wirtschaftsliberaler „Reformpolitik“, die wir heute erleben, zuerst mit der Rechtschreibreform begonnen hat, mit der Sprache also, denn gerade durch die Sprache beeinflußt man das alltägliche Denken der Menschen – das kann jeder Psychologiestudent bestätigen.

Natürlich wurde die Reform mit fadenscheinigen Argumenten begründet: Das Schreibenlernen in „den Schulen sollte erleichtert werden!“ „Die im Laufe der Zeit etwas kompliziert gewordene Duden-Rechtschreibung schien dem berechtigten Wunsch im Wege zu stehen, die Bildungsreserven der ärmeren und nichtakademischen Gesellschaftsschichten auszuschöpfen“ (Theodor Ickler; Die sogenannte Rechtschreibreform: ein Schildbürgerstreich.)

Welch ein Humbug! Durch die Reform wurde überhaupt nichts erleichtert. Die alten Rechtschreibregeln waren mehr oder weniger genauso kompliziert wie die neuen – aber dafür einleuchtender und logischer, weil sie noch den allgemeinen Sprachgebrauch der Bevölkerung widerspiegelten. Dagegen sind die künstlich geschaffenen Regeln nicht eindeutig, sondern widersprüchlich, sie verändern teilweise die Aussprache der Wörter, und haben unweigerlich ein regelrechtes Chaos in der Rechtschreibung angerichtet. Es sind viele Wörter einfach verschwunden, die literarische Ausdruckskraft der Sprache wurde eingeschränkt, und die neuen Schreibregeln haben die Lesbarkeit des geschriebenen Wortes nicht gerade verbessert.

Dabei sind die Gehirne junger Menschen enorm aufnahmefähig, vor dreitausend Jahren haben Kinder und Jugendliche sogar die „komplizierte“ Hieroglyphenschrift der Alten Ägypter gelernt. Ich selbst komme aus einer nichtakademischen Familie, und hatte dennoch keine Probleme mit der deutschen Rechtschreibung, obwohl ich nicht einmal ein besonders guter Schüler gewesen bin. Mit den gleichen Argumenten könnte man behaupten, daß auch die Mathematik in den letzten Jahrhunderten eigentlich recht kompliziert gworden sei, und dringend einer Reform bedürfe. Man könnte dann nur noch Rechenaufgaben zulassen, die mit zehn Fingern zu lösen sind. Das würde die Mathematik und den Schulbetrieb doch ungemein erleichtern, kann ich als „Experte“ nur sagen!

Wenn Sprache der unmittelbare Ausdruck unseres individuellen Denkens ist, und nur die Philosophen im rechten Moment zu schweigen wissen, dann scheint hinter der Rechtschreibreform von 1996 nicht allzu viel linguistische Gedankenarbeit zu stecken! „Wissenschaftliche Argumente spielten keine große Rolle, da die Reformwilligen sich ohnehin als Vorhut des historischen Fortschritts fühlten“ (Theodor Ickler). Mit dem Fortschritt war es aber nicht weit her! Die neuen Regeln folgen größtenteils einer Rechtschreibung, wie sie um 1860 üblich gewesen war – also zurück zur goldenen Zeit des Manchester-Kapitalismus und dessen größten literarischen Kritikern – Karl Marx und Charles Dickens. Somit sind die neuen Rechtschreibregeln ein Rückschritt, wie alles, was uns seit Jahren als „Reform“ verkauft wird.

Nun kann man dem Wirtschaftsliberalismus viel nachsagen, nur nicht, daß er wissenschaftlich fundiert sei.

Schon dessen „Religionsgründer“ Friedrich von Hayek auf demMont Pèlerin, dessen Evangelium von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ geschrieben ward, hatte ein empirisches Wissenschafts- und Theorieverständnis abgelehnt. Auch dessen Nachfolger haben darauf verzichtet, ihre Postulate wissenschaftlich und empirisch zu begründen, vermutlich aus Arroganz. So sind die Wirtschaftsreformer von heute mehr indoktrinierte Ideologen als Wissenschaftler, die jedoch durch überhandnehmende Privatisierung von Universitäten und Forschungseinrichtungen dieselben unter ihre Kontrolle gebracht und nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichtet haben.

Bei staatlichen Universitäten wird die „Drittmittelfinanzierung“ zum Enterhaken. Die Reichsbank von Schweden stiftete dem ganzen Unfug sogar einen „Erinnerungspreis an Alfred Nobel“. Es kann daher nicht verwundern, daß sich ein eigener, für die postdemokratische Entwicklung typischer Berufszweig von „Sachverständigen“ und privaten „wissenschaftlichen Instituten“ herausbildete, die gegen Bezahlung jegliches Gefälligkeitsgutachten oder zweifelhafte Studien liefern.

Reformiert wurde die Rechtschreibung zudem mit Monstrositäten wie „Missstände, Seeelefanten, Schifffahrt, Basssaite“, deren ausgesprochen dümmliche Verdreifachung der Konsonanten nicht unbedingt zur leichteren Lesbarkeit beiträgt – und auch die ursprüngliche Aussprache (Phonetik) der Wörter verändert, wenn man sie allzu buchstäblich nimmt. Wie wenig wissenschaftlich gearbeitet wurde, zeigt auch das Wort „greulich“, das jetzt „gräulich“ geschrieben wird, weil es irgendwie mit der Farbe Grau zusammenhängen soll. Ein kurzer Blick in das Wörterbuch der Brüder Grimm lehrt uns jedoch, daß die Farbe Grau auf die althochdeutsche Wurzel „grâo“ zurückgeht, während das Wort „greulich“ (griulich) erst im Mittelhochdeutschen bekannt wurde, und sich wohl aus der lateinischen Vokabel „crudelis“ entwickelte.

Die Wörter grau und greulich haben demnach überhaupt nichts miteinander zu tun! O sancta simplicitas! Da wurden ja linguistische Verschwörungstheorien aus der Giftküche der Pseudowissenschaft verbreitet! Man bemerkt, daß greulichste Unbildung auch in akademischen Gesellschaftsschichten wohnt. In Wahrheit hatte die Rechtschreibreform niemandem etwas erleichtert, und als die ersten Kritiken ruchbar geworden waren, sorgten die „Nachbesserungen“ von 2004 und 2006 vollends dafür, daß die neue Rechtschreibung noch unübersichtlicher und komplizierter wurde als je zuvor. Die Regeln sind dermaßen abstrakt, daß man sie auch nicht „ins Gefühl“ bekommen kann. Es wurde sozusagen mutwillig und zerstörend in das organische „Ökosystem“ der Sprachentwicklung eingegriffen.

Genauer ausgeführt wird diese willkürliche Deformation der Sprache anhand zahlreicher Beispiele in dem erwähnten Buch von Theodor Ickler. Es ist mir hier aber nicht daran gelegen, die Flachköpfe bloßzustellen, die diese Rechtschreibreform elend zusammengestümpert haben, und deren Eseleien im einzelnen zu rezensieren, sondern zu den politischen Hintergründen vorzudringen.

Demokratische und rechtsstaatliche Legitimation der Reform zweifelhaft

Rechtlich hatte der Staat keinerlei Befugnis, eine Rechtschreibreform anzuordnen. Alle früheren Linguisten-Kongresse der Vergangenheit hatten nichts anderes getan, als den allgemeinen Gebrauch der Sprache lediglich zu beobachten, und beschreibend (deskriptiv) zu dokumentieren. Niemals hatte die Sprachwissenschaft direkt in die Entwicklung eingegriffen. Es hatten daher auch keine früheren „Rechtschreibreformen“ stattgefunden, wie fälschlich gesagt wurde. Somit konnte der Deutsche Bundestag am 26. März 1998 den Beschluß fassen:

„Zwar kann die Schreibweise der deutschen Sprache letztlich nur regelhaft erlernt werden. Doch darf [man] die dafür erforderliche Normierung der durch gesellschaftliche Übereinkunft im deutschen Sprachraum entstandenen und dokumentierten Entwicklung der Sprache nur aufnehmen, aber nicht selbst hoheitlich ordnen und damit Änderungen aufzwingen. Die Sprache gehört dem Volk. Der Staat ist darauf beschränkt, Verfahren zur Feststellung der tatsächlich verwendeten Sprache festzulegen.“

Zu dem Zeitpunkt war es aber schon zu spät, die Rechtschreibreform von 1996 wieder rückgängig zu machen, umso weniger sich die Reformisten von ihren autoritären Plänen abhalten ließen. Besonders der deutsche Bertelsmann-Verlag, der wohl nicht zufällig später auch die „Hartz IV-Reformen“ herausbrachte, scheint eine der treibenden Kräfte hinter der Rechtschreibreform gewesen zu sein. Eine bereits vor dem November 1994 fertiggestellte Ausgabe einer Broschüre, und später die Publikation des neuen Regelwerks, die dann in aller Eile (vor den „Nachbesserungen“ von 2004 und 2006) an den Mann gebracht werden sollten, haben dem Verlag einen Millionengewinn abgeworfen. Die weitgehend abgeschirmte Öffentlichkeit erfuhr erst 2003 aus der Süddeutschen Zeitung, „daß einige Mitglieder der Kommission ein wirtschaftliches Interesse an der Rechtschreibreform hatten“ (Ickler). Deren Interessen reichten über Druckaufträge bis hin zu Rechtschreibkursen an Volkshochschulen.

Der „Reformstreich“ war von langer Hand vorbereitet. Schon im Jahr 1987 – unter dem Kanzler Helmut Kohl – hatte das Mannheimer „Institut für deutsche Sprache“ (Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft) in aller Stille einen staatlichen Auftrag „zur Erarbeitung der wissenschaftlichen Grundlagen für eine Neuregelung der Rechtschreibung“ übernommen. Dieser Auftrag wurde 1991 noch einmal bekräftigt. Da fehlten nur noch zwei Jahre bis zu den Maastrichter Verträgen und zur Gründung der wirtschaftsliberalen Europäischen Union (EU). Die Öffentlichkeit ahnte weiterhin nichts von einer geplanten Rechtschreibreform, bis dann überfallsartig mit der Wiener Orthographiekonferenz im November 1994 die Katze endlich aus dem Sack gelassen wurde.

Der Duden-Verlag ward nicht müde, die geplante Sprachdeformation als „kleine Reform der Vernunft“ anzupreisen, indem die Verlagsleiter selbst auf Millionengewinne durch die neue Ausgabe des Dudens hofften. Von Anfang an ging die Rede, daß die Umsetzung der Rechtschreibreform von den Regierungen in den jeweiligen Ländern nunmehr „durchgesetzt“ werden solle. Dies vor allem weil die rechtlichen Grundlagen fehlten, und weil man offenbar mit Widerstand rechnete. In einer (sozial gesunden) Demokratie werden Gesetze wohl beschlossen, verabschiedet, oder sie treten in Kraft – aber sie werden nicht „durchgesetzt“. Das ist kein verfassungsrechtlicher Begriff.

Das am 1. Juli 1996 unterzeichnete „Wiener Abkommen“ verfügte auch tatsächlich über keinerlei völkerrechtliche Relevanz, da das zugrundeliegende Dokument nichts als eine „Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ ohne jede Gesetzeskraft darstellte. Diese bloße Absichtserklärung wurde dann von den Regierungen quasi als „Ermächtigungsgesetz“ mißbraucht, und mit feierlichen Mienen wurde lediglich so getan, als wäre ein Gesetz erlassen worden. Die „Wiener Absichtserklärung“ war also zunächst nichts als ein Bluff. In einer Demokratie gibt es weder eine verfassungsrechtliche, noch eine rechtsstaatliche Legitimation für eine Regierung, willkürlich die Rechtschreibung vorzuschreiben. Denn der Staat kann „nicht selbst hoheitlich ordnen und damit Änderungen aufzwingen.

Die Sprache gehört dem Volk“, wie der deutsche Bundestag die geltende Rechtslage unmißverständlich formulierte. Niemand hat es gern, wenn ihm ins Handwerk gepfuscht wird – auch der Schriftsteller nicht.

Die weit verbreitete (aber falsche) Vorstellung, die Rechtschreibreform von 1996 sei gesetzlich vorgeschrieben, kann somit getrost als Mythos entlarvt und abgetan werden, zeigt aber in erschreckender Weise, wie durch suggestive Medienpropaganda breite Bevölkerungsschichten derart hinters Licht geführt werden konnten. So konnte es zwar kommen, daß aufgeregte Kontroversen um die Schreibweise einzelner Wörter entbrannten, wilde Fernsehdiskussionen und Zeitungsartikel von Sprachwissenschaftlern die öffentliche Debatte bestimmten, aber niemand die rechtlichen Grundlagen in Frage stellte.

Die Einführung der Rechtschreibreform war somit alles andere als demokratisch verlaufen. Das Kalkül der aufstrebenden neoliberalen Wirtschaftselite war prächtig aufgegangen, und das künftige Modell postdemokratischer „Reformpolitik“ gefunden, um in der Folge den Sozialstaat des späten 20. Jahrhunderts für veraltet zu erklären und in kleinen Schritten zu zertrümmern. Bis durch ähnliche Ränke die wirtschaftsliberale Politik auch in die Staatsverfassungen aufgenommen wurde.

Am 1. August 2005 – nach einem Kleinkrieg mit oppositionellen Sprachforschern – erhoben sich die Regierungen in Deutschland und Österreich dazu, die reformierte Rechtschreibung per Dekret für „allgemein verbindlich“ zu erklären. Das wollte nicht viel besagen, machte aber Eindruck. In dieser schweren Stunde der Demokratie wagten in der Schweiz nur die Rechtschreibreformer Peter Gallmann und Horst Sitta ziemlich bestürzt den Einwand: „Wir halten es für ein Unglück, dass nun in allen Rechtschreibwörterbüchern das amtliche Regelwerk abgedruckt wird. […] Wir waren im Internationalen Arbeitskreis nie der Meinung, wir formulierten Regeln für den Alltagsschreiber. […] Das Regelwerk ist weder für den Laienleser geschrieben noch für ihn lesbar.“ Das Dekret von 2005 bezog sich nämlich explizit nur auf die Anwendung in Schulen und im Amtsgebrauch, wodurch sich die übrige Öffentlichkeit von der Reform nicht weiter angeblasen hätte fühlen müssen. Nur war dies in vollkommen anderer Weise durch die Medien kommuniziert worden.

Die Rechtschreibreform war keine „soziale“ Maßnahme, wie es zuerst geheißen hatte, um „die Bildungsreserven der ärmeren und nichtakademischen Gesellschaftsschichten auszuschöpfen.“ Schon der Ausdruck „ausschöpfen“läßt kaum sozialpolitische Gedanken vermuten. Wenn man heute darüber klagt, daß viele Schüler nicht mehr sinnerfassend lesen können, so dürfte die neue Rechtschreibung unter anderem nicht unwesentlich dazu beigetragen haben.

Die Reform war aber auch keine „Fehlentscheidung“ oder ein „Mißgriff“, wie uns deren Kritiker weismachen. Vielmehr wurde die Rechtschreibreform eingeführt, um ganz bewußt allgemeine Verwirrung zu stiften, und um sie als Hebel an den Fundamenten des demokratischen Sozialstaates anzusetzen. Deshalb war auch so wenig Rücksicht auf wissenschaftliche Aspekte genommen worden. Von da an triumphierte die wirtschaftsliberale Politik in ganz Europa, den sozialen Frieden aus Profitgier zerstörend.

Millionen wertvoller Bücher vernichtet

Unterdessen erging in deutschen Landen das barbarische Gebot, sämtliche noch vorhandene Lagerbestände an Büchern, die in alter Rechtschreibung gedruckt worden waren, ausnahmslos aus allen Schulbüchereien, Buchgeschäften und Verlagshäusern zu entfernen. Sogar in öffentlichen Leihbibliotheken war damit begonnen worden, die Bestände „auszumisten“, wie man sagte. Zwar fehlten – wie oben ausgeführt – jedwege gesetzliche Grundlagen dazu, aber im vorauseilenden Gehorsam wurde sogleich eine ungeheuerliche Büchervernichtung in Gang gesetzt. Millionen wertvoller Bücher wurden vernichtet, die, hätte man sie verschenkt oder verbilligt in Wühlkisten angeboten, jungen Menschen zur geistigen Nahrung hätten verhelfen können! Im Kapitalismus der Wirtschaftsliberalen wird aber niemandem etwas geschenkt, am allerwenigsten gute Bücher.

Das Kulturministerium in Wien (damals leistete sich die Republik noch eines) hatte im Jahr 2004 davor gewarnt, daß das erfolgte „Aussortieren“ von Druckwerken (das Büchermassaker nämlich) einen „Eingriff in die literarische Vielfalt bedeuten würde“, und so war es folgerichtig auch. Die Vernichtung all ihrer Lagerbestände konnten sich nämlich nur große Verlagshäuser und –konzerne leisten, die sich zusätzlich noch Millionengewinne durch neue Auflagen zur Rechtschreibreform sicherten. Die kleinen Verlage jedoch wurden in den Konkurs getrieben. Das kam einerseits der kapitalistischen Tendenz zur Monopolbildung zustatten, die schon Colin Crouch als große Gefahr der postdemokratischen Entwicklung für die Demokratie beschreibt. Andererseits hatten gerade kleinere Verlage vermehrt oppositionelle oder kapitalismuskritische Schriften publiziert, oder auch ausgefallene Literatur jenseits des „Mainstreams“.

Diese Konkurrenz fiel nun weg. (Es entwickelte sich allerdings zeitgleich das Internet als Medium einer neuen Schriftlichkeit, mit weitreichenden Folgen, worauf hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann.) Im Buchhandel sah die Situation ebenfalls betrüblich aus. Vor die Aufgabe gestellt, alte Bücher „auszusortieren“, und neue Bücher in reformierter Rechtschreibung anzuschaffen, mußten viele kleine Buchhandlungen zusperren. Überlebt haben das nur größere Buchgeschäfte und Handelsketten.

Die beschämende Vernichtung von Büchern, und somit eines Kulturguts, der Kahlschlag in den Verlagen, führte unmittelbar zu einer Knappheit an hochwertiger Literatur im Einzelhandel, und verlagerte so das Gewicht des Buchhandels hin zu „massentauglicher“ Lektüre.

Millionen literarisch hochwertiger Bücher sind vernichtet worden, die heute gar nicht mehr, oder höchstens noch zu einem Aufpreis von 50 Euro(!) für den Nachdruck erhältlich sind. Daß die kläglichen Restbestände antiquarischer Bücher heute durch monopolistische Internet-Konzerne wie Amazon oder Google vertrieben und kontrolliert werden, stimmt auch nicht fröhlicher. Was nützen uns auch die 28 Millionen Buchtitel, die Amazon auf seiner Webseite auflistet, wenn viele davon – und vor allem „anspruchsvollere“ Literatur oder selten gelesene Autoren – gar nicht lieferbar sind!? Und erst der ungläubige, ja beinahe fassungslose Gesichtsausdruck von Buchhändlern, wenn man ihnen Werke und Autoren aufzählt, die man vor zwanzig Jahren noch anstandslos kaufen konnte!

Nun könnte man aber denken, es würde einen verfassungsrechtlichen Bildungsauftrag geben, dem Volke das eigene Kulturgut und Geistesleben nicht vorzuenthalten, und zur größeren Verbreitung der bedeutenden Autoren der Zeitgeschichte beizutragen, damit solche Werke möglichst allen Gesellschaftsschichten zugänglich seien, und deren geistiger Horizont sich erweitere. Bücher, wenn sie von wahrheitsliebenden Autoren stammen, öffnen Türen in andere Geisteswelten. Es besteht ja immerhin die leise Hoffnung, daß eines schönen Tages nicht alleine kapitalistisches Gewinnstreben und unausgesetzter Konkurrenzdruck die Handlungen der Menschheit bestimmen werde. So wie es auch dem Feuerwehrmann Guy Montag aus Bradburys „Fahrenheit 451“ irgendwann zu dämmern beginnt, daß die ganze Büchervernichtung nur den (anonymen) Herrschenden dienen kann.

Aber nichts ist von den wirtschaftsliberalen Regierungen unserer Zeit mehr vernachlässigt worden als der öffentlich-rechtliche Bildungsauftrag, weil dieser offenbar mit marktwirtschaftlichen Interessen kollabiert. (Manche sprechen sogar von Massenverblödung.) Der eingangs zitierte Colin Crouch bezeichnet den Wirtschaftsliberalismus immer wieder als „Feind des Wissens“. Das kommt nicht von ungefähr. Die höchste Doktrin des Wirtschaftsliberalismus, die schon von Margaret Thatcher unermüdlich gepredigt worden war („Thereis no alternative!“), lautet bekanntlich, daß es „keine Alternative“ zum liberalen Kapitalismus geben könne. Da sind natürlich unangenehme Fragen außerhalb dieser Ideologie ein Tabu. Und gerade diese unangenehmen Fragen werden ja besonders in Büchern aufgeworfen, die laut Bildungsauftrag im Volke verbreitet werden sollten, aber tatsächlich einer rasanten Kommerzialisierung des Buchhandels zum Opfer fallen. Es wird nun im Buchhandel nur noch nach hohen Verkaufszahlen gearbeitet.

Die durch künstliche Verknappung herbeigeführte Teuerung bei den Buchpreisen (trotz Buchpreisbindung) errichtete eine unsichtbare (ökonomische) Barriere zwischen guten Büchern und arbeitenden Menschen. Über die üblichen Niedriglöhne, die heute ausbezahlt werden, brauche ich ja kein Wort zu verlieren. Bildungspolitik für die „ärmeren und nichtakademischen Gesellschaftsschichten“ stelle ich mir anders vor.

Ohne Zweifel muß diese Büchervernichtung als einschneidende Zensur betrachtet werden. Es sah ganz so aus, als hätte man alles Schriftgut, das vor der Gründung des neoliberalen EU-Projekts entstanden war, durch neue Bücher in reformierter Rechtschreibung vom Markt verdrängen wollen.

Wenn also heute Buchgeschäfte, und leider auch Drogeriemärkte, mit Bestseller-Schund, blutigen Thrillern und seichter Unterhaltungslektüre überschwemmt werden, geht der Bildungsauftrag flöten.

Zwar versicherten die großen Verlagshäuser unmittelbar nach der Reform, daß die meisten vernichteten Bücher (obzwar durch Reformorthographie verstümmelt) ehebaldigst nachgedruckt werden würden. Von den Milliardengewinnen aus dem Bestseller- und Unterhaltungssektor sollte der Nachdruck literarischer und philosophischer Werke finanziert werden. Das ging leider nur sehr schleppend voran. Klassische Werke sind im Buchhandel nur schwer zu bekommen. Diese werden auch nur vereinzelt nachgedruckt (und wohl nur, wenn keine „politischen Unkorrektheiten“ darin vorkommen.) Das sieht dann so aus, daß maßgebliche Autoren wie Anton Kuh, Charles Dickens, Émile Zola oder Arthur Schnitzler in neuen Ausgaben als „Wiederentdeckung“ oder „vergessene Autoren“ zu relativ hohen Preisen vermarktet werden.

Nur sind eben all diese Schriftsteller, deren Werke vor zwanzig Jahren noch in mannigfachen Ausgaben erhältlich waren, mitnichten vergessene Autoren – sie sind bloß nicht wieder gedruckt worden nach der Reform. Wie lange wird man wohl, vergeblich zwischen Büchergeschäften und Antiquariaten herumirrend, noch warten müssen, bis die Werke von Albert Paris Gütersloh, Ernst Weiß oder Pitigrilli und vielen anderen endlich auch „wiederentdeckt“ werden? Man will uns das Kulturgut offenbar in kleinen Häppchen verabreichen. Ich sagte schon – früher war gute Literatur noch viel leichter zu bekommen. – „Zur Hölle mit allem, was keinen Profit bringt“, – das ist die traurige Wahrheit unserer Zeit!

Denkt denn niemand an die Kinder?

Besonders in Schulbibliotheken wurden die Buchbestände mit harter Hand „gesäubert“. Wie besessen fahndete man noch in den entlegensten Winkeln von Deutschland und Österreich in allen Schulen und Bibliotheken nach Büchern in alter Rechtschreibung, oftmals wurden im Eifer des Gefechts zwei Drittel der Buchbestände ausgemärzt, oder die Büchereien vollständig geleert. Man mußte doch die Schüler vor der bösen, althergebrachten Orthographie beschützen! „Denkt denn niemand an die Kinder!?“ Der Wahn der „Bücherstürmer“erfaßte damals das ganze Land, und Hekatomben gehorteter Bücher, die ein Regierungsdekret dazu verdammt hatte, flogen aus den Fenstern der Schulen, um dort in Containern fortgeschafft und sodann vernichtet zu werden. Es geschah im kollektiven Rausch, und ohne, daß man das Recht dazu gehabt hätte. In welchem Maße indoktriniert die Lehrkräfte waren, die auf kleine Kinder losgelassen wurden, zeigte etwa die Vollzugsmeldung einer Schuldirektorin aus einem gottverlassenen Nest namens Hude: „Bücher aus der ehemaligen Schulbücherei sind nicht zu finden. Alle Bücher hier sind neu angeschafft. Das liegt an der Rechtschreibreform. Wir können den Kindern ja nicht zumuten, heute falsche Schreibweisen zu lesen.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Oktober 2009)

Wie bitte? Falsch liegt hier nur die Direktorin. Es kann höchstens Rechtschreibfehler, aber keine „falsche“ Rechtschreibung geben! „Liebe Kinder, wer von Euch weiß, wie das heißt, wenn der Staat bestimmte Bücher verbieten will?“ Richtig, Zensur! Gehörte es denn nicht vielmehr zu den Unterrichtsaufgaben, die Schüler mit verschiedenen Rechtschreibungen bekannt zu machen, damit ihnen die Dichtungen eines Wolfram von Eschenbach nicht verschlossen bleiben, oder die Dramen des jungen Schiller, oder Goethes „Urfaust“, in denen die veraltete Orthographie geradezu zum stilistischen Ausdrucksmittel wird? Texte von H.C. Artmann zum Beispiel, die durchgängig in Kleinbuchstaben geschrieben sind, waren noch Ende der 1980er-Jahre in österreichischen Schullesebüchern zu finden, und keiner Regierung wäre es in jenen Jahren beigefallen, dieselben wegen ihrer „falschen“ Rechtschreibung etwa zu verbieten oder nachträglich korrigieren zu wollen, der Gedanke wäre damals regelrecht absurd erschienen.

Doch die Zeiten wandelten sich gefährlich zum Irrationalen. In dem allgemeinen Wahn hätte bei dem ganzen Massaker an unschuldigen Büchern wohl nur wenig zur Errichtung von Scheiterhaufen gefehlt, womöglich noch vor einer ausgelassenen Schülermeute à la „Fack ju Göhte“.

In Salzburg, der „Kulturmetropole“ Österreichs, zeigte man sich im Umgang mit „ausgemusterten“ Büchern weitaus kreativer: „Rechtschreibreform liefert den Stoff für Kunstwerke. Bemerkenswert: Die Rechtschreibreform half der Kunstlehrerin Roswitha Hillebrand dabei, mit ihren Schülern Installationen zu kreieren: ‚Die nach der Reform ausrangierten Schulbücher haben wir teilweise aus Containern geholt, um sie für Kunstobjekte zu verwenden.‘ Die Bücher wurden bemalt, beklebt und zu Installationen verbaut.“ (Vlothoer Anzeiger, 10. Mai 2012) Das waren keine Kunstwerke. Das waren vielmehr schaurige Mahnmale der Postdemokratie im frühen 21. Jahrhundert. Besser man vernichtete gleich den ganzen Plunder, bevor noch ein Schüler etwa Gefallen an der Literatur finden konnte, die ihm künftighin nur noch schwer zugänglich gemacht werden würde. Derweil scheffelten die Schulbuchverlage mittels auflagenstarker Neuanschaffungen einen Millionenreibach.

Gut zwanzig Jahre nach Einführung der Rechtschreibreform sind die Bilanzen ernüchternd. Die Schüler und Schülerinnen machen heute nachweislich aus Verunsicherung nicht weniger, sondern ungleich mehr Rechtschreibfehler, weil die reformierten Schreibweisen auch jeder inneren Logik entbehren. Eine einheitliche Rechtschreibung ist in der Praxis gänzlich verlorengegegangen, und es steht zu befürchten, daß es niemals mehr eine einheitliche Rechtschreibung geben wird. Weiten Kreisen der Bevölkerung scheint das Sprachgefühl selbst abhanden gekommen zu sein, und man schreibt, wie es gerade in den Griffel kommt – eigentlich mehr nach Gehör. Tägliche Twitter-Meldungen zeugen von erschreckender

Gleichgültigkeit gegenüber der Orthographie.

Wie ein junger Gott – im Namen der Freiheit – kam der Liberalismus einhergezogen, und „befreite“ die Bevölkerung zunächst von ihrem Kulturerbe der Sprache.

Man entfremdete auf diese Weise die Menschen von ihrer Kultur, man führte sie geradewegs in die Geschichtslosigkeit. Es sollte in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch die Geschichte (beziehungsweise die Narrative) seit EU-Gründung 1993 zählen. Nichts sollte mehr an die Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts erinnern, selbst heutige Sozialpolitiker wollen von der einstigen Arbeiterbewegung nichts mehr wissen. Jüngere Menschen können sich kaum noch vorstellen, daß es in Westeuropa einmal Zeiten gab, in denen mannoch keine gemeinnützigen Tafeln und pfandflaschensammelnde Rentner notwendig hatte.

Damals war es der Sozialdemokratie mit staatlichen Eingriffen gelungen, durch sozialen Ausgleich die größten gesellschaftlichen Verwerfungen des Kapitalismus zumindest zu mildern – ohne gleich überschwenglich von „sozialer Gerechtigkeit“ sprechen zu wollen. Man wird es dennoch kaum für möglich halten – damals sollte die wirtschaftliche Leistung eines Landes gleichzeitig einen sozialen Fortschritt im Staate ermöglichen, ja, damals galten soziale Errungenschaften noch als Fortschritt!

So handelte die Sozialdemokratie im Sinne des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Stattdessen werden heute die Menschen von der liberalen Presse manipuliert, hinters Licht geführt und gefoppt, indem man sie von ihrem Sozialstaat und dem Arbeitnehmerschutz „befreien“ will.

Vollbrächte ein Staat nicht die größere kulturelle Leistung, wenn es gelänge, allen Benachteiligen der Gesellschaft tatsächlich eine angemessene soziale Sicherung und faire Löhne zu ermöglichen, sich um „die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen“ (Bundesverfassungsgericht), als das gesamte Gemeinwesen auf bloße Kosten-Nutzen-Rechnungen reduzieren zu wollen?

Nach neuer Sprachregelung habe es in Westeuropa schon seit der Nachkriegszeit nur „liberale Demokratien“ gegeben, deren Liberalismus „allen Bürgerinnen und Bürgern inklusive politische Partizipationsrechte einen freien Wettbewerb um Legislative bzw. Exekutive ermöglicht.“ Der Unterschied dieser beiden divergierenden Vorstellungen von Demokratie liegt im Vergleich mit Rousseau auf der Hand. Es wird nicht schwer zu erraten sein, zu wessen Gunsten der „freie Wettbewerb“ ausgehen wird – nämlich zugusten der Reichen. Es ist ein „freier“ Wettbewerb mit ungleichen Mitteln. Man denkt da unwillkürlich an den Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel aus Grimms Märchen, wo der kurzbeinige Igel so „liberal“ eingestellt ist, die Regeln des Wettlaufs zu „lockern“ (zu deregulieren), und den armen Hasen auf ganzer Länge zu bescheißen.

Die Bildung ist heute zur bloßen Ausbildung herabgesunken, und tiefere Wissensvermittlung nicht länger angesagt. Reine Zeitverschwendung im alleinseligmachenden Kapitalismus! Seit der französischen Revolution von 1789 fürchten die jeweils Herrschenden nichts mehr als ein allzu aufgeklärtes Volk. Im postdemokratischen Zeitalter des Liberalismus sollen die Menschen die Freiheit bekommen, einfach wieder an Märchen glauben zu dürfen. „In ihrer Existenz ist die liberale Demokratie erst bedroht, wenn wir aufhören, an sie zu glauben.“ (Die Welt) Nun gibt es in unseren Demokratien aber auch kein Verfassungsgesetz, das noch leichter und ungestrafter ignoriert werden kann, als der öffentlich-rechtliche Bildungsauftrag. Dieser liegt bei uns im argen.

In dasselbe Horn stößt oftmals auch das moderne Regietheater. Man hat schon lange von keinem klassischen Theaterstück mehr gehört, das nicht in irgendeiner Form willkürlich verstümmelt, abgeändert, mit eigenen Texten ergänzt, grausam zusammengestrichen, oder zu einer Wortkollage verarbeitet über eine Theaterbühne gegangen wäre. Durch weit hergeholte, allzu phantastisch überladene Inszenierungen wird das Publikum vom gesprochenen Wort des Dramas abgelenkt, und die schauspielerische Leistung von Regieeinfällen sabotiert. Sollte diese Unsitte darauf angelegt sein, der deutschsprachigen Bevölkerung das eigene Kulturerbe zu entfremden? Claus Peymann und Thomas Bernhard empörten einst im Wiener Burgtheater ganz Österreich. Gut so! Aber mit eigenen Theaterstücken. Sie hatten es nicht nötig, fremde Stücke zu entstellen.

Zwanzig Jahre nach Umstellung des Bildungssystems in Europa nach der sogenannten Bologna-Erklärung im Jahr 1999 – wieder so eine wirtschaftsliberale „Reform“! – werden allerorts Klagen laut, daß heutige Schulkinder nicht mehr richtig lesen und rechtschreiben können. Stellt sich denn niemand die Frage, ob diese Entwicklung nicht auch gewollt sein könnte? Auch die Rankings von Universitäten und öffentlichen Einrichtungen bewerten letztlich nicht die Wissensvermittlung, sondern nur inwieweit dieselben den marktwirtschaftlichen Prinzipien huldigen. Machen wir uns nichts vor. Die Rechtschreibreform, die fanatisch betriebene Büchervernichtung und die Umstellung des Buchhandels nach wirtschaftsliberalen Methoden stellte eine einschneidende Art von Zensur im deutschen Sprachraum dar.

Der geistige Horizont unserer Kultur verflachte. Es scheint dabei auch weitgehend egal zu sein, welche politischen Parteien gerade Regierungen bilden. Heute sind politische Parteien wie Joghurtbecher, die zwar in verschiedenen Geschmacksrichtungen geliefert werden – aber immer von demselben (wirtschaftsliberalen) Hersteller kommen. Wie unerfahrene Jungfrauen haben sich Politiker aller Farben vom Liberalismus verführen lassen. Bestimmt gibt es bessere Alternativen zur liberalen Marktwirtschaft – aber gibt es einen Notausgang?

Rechtschreibreform und Nationalsozialismus

In der Geschichte der deutschen Sprache hatte es bislang nur einen einzigen ähnlich autoritären Versuch gegeben, jener Sprache, die dem Volk gehört, eine Rechtschreibreform zu diktieren, im Jahr 1944 zur Zeit des Nationalsozialismus. Hitler und Goebbels hatten jedoch das Reformvorhaben als „nicht kriegswichtig“ wieder abgeblasen, obwohl Tonnen von Setzerblei hätten gespart werden können durch die geplante Kleinschreibung der Substantive. In aller Ausführlichkeit beschrieben haben dies die Autoren Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner in ihrem 2004 erschienenen Buch: „Rechtschreibreform und Nationalsozialismus: ein Kapitel aus der politischen Geschichte der deutschen Sprache.“ Bemerkenswert, daß Hitler schon im Jahr 1941 die altdeutsche Schrift verbieten ließ, mit der sich heutige Neonazis aber identifizieren.

Sogleich sorgten derlei Vergleiche bei Rechtschreib-Reformisten für helle Empörung. „Das Bestehen von Gemeinsamkeiten zwischen den Maßnahmenkatalogen von 1944 und 1996 konnte nur überraschen, weil die Rechtschreibprojekte der Nazizeit lange verschwiegen worden sind, der Hinweis auf sie nur deshalb empören, weil er das ganze Reformvorhaben gefährdet[e].“ (ebd.) Eines jedenfalls hatten die Rechtschreibrefomen von 1944 und 1996 gemeinsam: Sie waren ungesetzlich. Das wird wohl niemand mehr bestreiten können. Die Sprache bleibt Eigentum des Volkes!

Es steckt dieselbe Arroganz dahinter, die Politiker und Lobbyisten sagen läßt, das Volk wäre zu dumm, um eigene Entscheidungen treffen zu können. Wenn dem wirklich so wäre, so käme dafür nur ein Schuldiger in Betracht: nämlich die miserable Bildungspolitik ebendieser Politiker.

Passiver Widerstand beginnt mit den Worten. Zu denken, woher die Begriffe und Schlagworte kommen, die wir verwenden oder ständig zu hören bekommen, und welche Gedankenwelt hinter den Begriffen steht, die man uns in den Medien fortwährend wie Flöhe ins Ohr setzt. Entlarvt den Liberalismus in seinen Worten, und befreit Euch von seinem Denken!

Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

Dank an den Rubikon, wwww.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen