Der heimtückische Begriff „Chancengerechtigkeit“ – Analyse eines neoliberalen Propagandabegriffs
Von Holdger Platta ©
Klar ist: wo „Chancengleichheit“ – vergleichsweise nüchtern – mit dem Ton einer objektiven Tatsachenfeststellung daherkommt, da setzt der Begriff der „Chancengerechtigkeit“ von Beginn an ganz subjektiv auch auf einen Wärmeton. „Gerechtigkeit“, dieser Begriff ist assoziativ verbunden mit „Recht“, „Rechtlichkeit“, „Rechtsstaat“; für denjenigen, der christlich erzogen worden ist, mit einem gütigen Gott; und für die anderen, die eher an unsere Verfassung denken und deren Grundrechtekatalog, mit einem lauteren Staat.
Doch in Wahrheit täuscht dieser Begriff der „Chancengerechtigkeit“ nur ein Mehr an Wärme, Güte und Rechtlichkeit vor. In Wahrheit stellt er einen erheblichen Rückschritt gegenüber dem Begriff der „Chancengleichheit“ dar. Und: in Wahrheit verbergen sich hinter beiden Begriffen – dem alten wie dem neuen – hochproblematische Propagandavokabeln. Wieso?
Nun, fangen wir mit der Differenz der beiden Begriffe an, mit dem suggestiven Vorsprung der „Chancengerechtigkeit“ gegenüber der bloßen „Chancengleichheit“. Viele von uns haben es vermutlich schon häufiger erlebt: der Begriff der „Chancengleichheit“ stößt oft bereits beim ersten Äußern auf spontanen Widerspruch. „Menschen sind nicht gleich!“, heißt es da etwa oder „Gleichmacherei!“. Natürlich ist das Unsinn und ein Mißverständnis. Der Begriff der „Gleichheit“, der in dieser Wortverbindung Anstoß erregt, stammt aus der Französischen Revolution und meinte zu dieser Zeit wie späterhin keinesfalls die klon-identische Gleichheit der Menschen, meinte nicht idiotische „Egalisiererei“ und damit Verneinung der Menschen in ihrer jeweiligen Besonderheit. Sie meinte nichts anderes als die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz! Aber leider: menschliches Reagieren funktioniert nicht immer so rational. Und auf diese Emotionalität setzen eben auch die Propagandisten der neoliberalen Ideologie. Wo sich’s machen läßt, packt man in die Begriffe noch irgendwelche Psycho-Effekte hinein. Und in dieser Hinsicht ist die „Gerechtigkeit“ der „Gleichheit“ weit überlegen. „Gleichheit“, das ist nur objektive Feststellung: zwei Menschen sind gleich groß, haben das gleiche Gewicht, laufen beim 100-Meter-Sprint mit gleichem Tempo ins Ziel. Aber „Gerechtigkeit“? Da taucht plötzlich assoziativ die personale Zuwendung auf, der gütige Richter zum Beispiel. „Gerechtigkeit“, das ist sozusagen „Gleichheit“ mit einem ethischen Heiligenschein. Aber: dieser suggestive, dieser gefühlsevozierende Vorsprung der „Gerechtigkeit“ gegenüber der „Gleichheit“ beziehungsweise der „Chancengerechtigkeit“ gegenüber der „Chancengleichheit“ ist zugleich auch der kritische, der höchst fragwürdige Punkt! Denn unvermeidbar mengt sich damit auch Moral, mengt sich Ethik, mengt sich ein Urteilen, womöglich sogar Juristerei ins Spiel – und dort, beim Urteilen wie in der Juristerei, ist es mit der „Gerechtigkeit“ und Objektivität oft furchtbar schnell vorbei! „Gleichheit“, das läßt sich objektiv messen, „Gerechtigkeit“ nicht! Und zweitens: mit dem Urteilen kommt auch ein Beurteiler ins Spiel. Und da – ich sage es jetzt schon – ist es mit Demokratie fast schon vorbei! Denn:
Im Begriff der „Gerechtigkeit“ ist unvermeidbar eine höhere Instanz fantasiert, die über „Recht“ oder „Unrecht“ entscheidet. Wo in der Demokratie politisch über Interessen verhandelt und entschieden wird, zwischen Einzelnen und Gruppen – dem Ideal nach in Augenhöhe miteinander -, wird hier nun von oben herab über Interessen und Gerechtigkeit entschieden. Kurz: in diesem emphatischen Begriff der„Gerechtigkeit“ steckt im Unterschied zur nüchternen „Gleichheit“ ein Stück undemokratischer Autorität oder undemokratischer Sehnsucht nach Autorität. Dies gilt um so mehr, wenn es um politische, soziale und ökonomische Interessen geht, die sich gar nicht alle durch obersten Richterspruch regeln lassen. Vor allem dann nicht, wenn sich dieser „Gerechtigkeits“-Begriff zusammentut mit dem Begriff der „Chancen“, und an dieser Stelle wird der Begriff geradezu heimtückisch und verbirgt einen heimtückischen Hinterhalt. Ich meine das Folgende damit:
Der Begriff der „Chancengerechtigkeit“ rückt die reale „Gerechtigkeit“ der Welt selber ganz, ganz weit in den Hintergrund (nur bei der Verteilung der Chancen soll es noch „gerecht“ zugehen, die Welt selber braucht gar nicht „gerecht“ zu sein). Und mehr noch: der Begriff der Chancen macht nur deshalb Sinn, weil die Welt selber gerade nicht „gerecht“ ist (und schon gar nicht egalitär!). Bei genauerem Hinsehen gibt das der Begriff „Chancengerechtigkeit“ ja selber zu erkennen (und man entdeckt es sofort, wenn man auch dessen Rückseite anschaut und nicht nur gebannt auf seinen edlen Ethik-Anschein blickt!): wir leben in einer Welt des Oben und Unten, wir leben in einer Klassengesellschaft – und der Begriff der „Gerechtigkeit“ verschleiert diese Tatsache nur. Ein Ding aus dem Tollhaus – wieder einmal! Womit die üble Sache aber längst noch nicht zuendeanalysiert ist. Denn anders formuliert bedeutet das:
Der Begriff der „Chancen“ verlagert das Moment der „Gerechtigkeit“ (oder auch das Moment der „Gleichheit“ – in dieser Hinsicht gibt’s keinen Unterschied zwischen dem dürren Bruder „Gleichheit“ und dem ethtisch-edlen Verwandten „Gerechtigkeit“!) aus dem Bereich der Tatsächlichkeiten in den Bereich bloßer Möglichkeiten. Der Teilbegriff der „Chancen“ selber sagt uns das: nur theoretisch, nur als Absicht, dem Ziele nach, nur am Anfang eines Wettbewerbs oder knallharter Konkurrenz geht es – vielleicht! – gerecht zu. In Wirklichkeit aber und dem Ergebnis nach ist diese Art der „Gerechtigkeit“ – die „Chancengerechtigkeit“ – nur ein Ausgangsphänomen: am Ende steht jedesmal die Ungleichheit, die Hierarchie, die Welt der Sieger und Besiegten. Das Strukturprinzip „Gerechtigkeit“, das eigentlich die Tatsachenrealität einer Gesellschaft kennzeichnen sollte, schrumpft durch die Beifügung des Wortes „Chancen“ zusammen zu einer Wunschfantasie, zur Fiktion und wird in Wahrheit zu einem Signalbegriff, der für den sozialen Kampf aller gegen alle steht, zu einem billigen Trostwort an die Kämpfer vor der Schlacht, an deren Ende es stets die „loser“ und die „winner“ gibt. Doch damit nicht genug: die besondere Gemeinheit des Begriffs der „Chancengerechtigkeit“ – im Unterschied zur „Chancengleichheit“ – besteht darin, daß dieser speziellen Vokabel zufolge das Ergebnis des erwähnten Konkurrenzkampfes, die faktischen Ungleichheit am Ende, sogar moralisch oder ethisch völlig in Ordnung ist.
Ergo: dieser Austausch des Begriffs „Chancengleichheit“ gegen den Begriff „Chancengerechtigkeit“ bedeutet, daß die Menschen, die bei diesem Kampf aller gegen alle verloren haben, mit Fug und Recht verloren haben. Heißt: im Begriff der „Chancengerechtigkeit“ verbirgt sich auch noch die Schuldzuweisung an die Adresse der Verlierer. Und das macht die Heimtücke dieses scheinbar so gütigen Gerechtigkeitsbegriffes aus: wer unten landet, soll dieses auch noch als gerechten Ausgang betrachten. Er war für diese Kampfgesellschaft eben nicht gut und fit und schlau genug. Und vielleicht denkt er sich auch: ungenügend beharrlich, fleißig und konsequent! Der Begriff der „Chancengerechtigkeit“ enthält wegen dieser moralisch-ethischen Kontamination also auch einen brutalen Vorwurf an die Verlierer: selber schuld!
Und damit entlastet sich eine tatsächlich ungerecht strukturierte Gesellschaft des Unten und Oben sowie des Kampfes aller gegen alle selber von jedweder Schuld. – Ihre hierarchische Struktur: gerecht! – Ihre Benachteiligung der vielen Verlierer (bis weit in das Hinunterregieren dieser Niedergekämpften in die Lebenssituation des Dahinvegetierens unterhalb des Existenzminimums hinein): gerecht! – Die Millionengewinne dort, die Massenentlassungen von Zehntausenden von Menschen da: gerecht!
Kurz: der Begriff der „Chancengerechtigkeit“ ist kein Begriff, der vom lieben Gott kommt oder von einem gütigen Richter auf Erden, nein, der Begriff der „Chancengerechtigkeit“ stellt eine Selbstbeweihräucherungsvokabel sondergleichen dar, sie ist nichts anderes als die ethisch-aufgemotzte Selbstfeier einer in Wahrheit inhuman entfesselten Globalisierungswelt! Der Begriff der„Chancengerechtigkeit“ ist insofern nichts anderes als Ausdruck einer abgrundtief zynischen Menschenverachtung, die dem Menschen, der am Boden liegt, auch noch bescheinigt: „Recht so!“. Ausdruck also einer Brutalität, die das Opfer nicht nur ganz real zu Boden getreten hat, sondern danach auch noch moralisch zu Boden tritt.
Doch das Erschreckendste ist: manche von den Opfern glauben dieses selber sogar. Sie selber sind es, die sich als Versager empfinden, sie selber sind es, die sich schämen, die Schuldgefühle verspüren darüber, es nicht geschafft zu haben wie die anderen „da oben“. Kurz: wenn manche Aktive aus der Anti-Hartz-IV-Bewegung fragen: „Wo ist das Volk?“, so lautet die Antwort: zu einem Großteil in dieser Depression! Menschen, denen bereits während der Jahre ihrer Berufstätigkeit verwehrt war, Selbstbewußtsein und Ich-Stärke entwickeln und trainieren zu können, die werden auch bei ihrem Absturz in die Arbeitslosigkeit nicht über Nacht zu selbstbewußten Menschen, zu Helden und zu Kämpfern. Ganz im Gegenteil, sie fallen im Zustand der Arbeitslosigkeit um so leichter in diese Selbstbeschuldigungsfalle hinein: sie haben es – so „denkt“ es in ihnen selbst! – nicht geschafft, in einer „gerechten“ Gesellschaft ihren Anteil an Lebenschancen für sich selber realisieren zu können! Sie gleichen Menschen, die in den Dreck gestoßen worden sind und nun auch noch glauben – unbewußt zumeist -, daß sie selber es gewesen sind, die sich in den Dreck gestoßen haben. Sie legen das Versagen der Gesellschaft an ihnen als ihr eigenes Versagen aus.
„Die da oben“ aber glauben ernsthaft, daß sie verdienen, was sie verdienen: sie verwechseln Moral mit ihrem Kontostand. Sie glauben ernsthaft: weil es ihnen gut geht, wären sie auch gut. Dabei sind sie nur „fein raus“ – fein raus aus dem unbewußten Selbstbeschuldigungsdunkel der Verliererseelen; fein raus aus den Elendsverhältnissen; fein raus aus der Verfassungspflicht, allen BürgerInnen dieses Staates die Menschenwürde zu sichern, nicht aber nur den heimtückischen Menschenrechte-Ersatz „Chancengerechtigkeit“.
Mag sein, daß der Begriff der „Chancengerechtigkeit“ nicht einer der psychologisch wirksamsten Kampfbegriffe des Neoliberalismus ist; einer der niederträchtigsten Ideologisierungsvokabeln dieser Propagandisten ist er auf jeden Fall.
Oder übertreibe ich? Übertreibe ich vielleicht sogar maßlos?
Nun, der Landesverband der Jungen Liberalen in Baden-Württemberg hat sich im November 2007 ausführlich mit dem Thema „Chancengerechtigkeit“ auseinandergesetzt. Das Resultat:
1. Selbst dieses Jungvolk des Neoliberalismus erkennt an, daß es bei uns „soziale Unterschiede gibt“, unterschiedliche „materielle Möglichkeiten“ je nach Schichtzugehörigkeit. Doch was folgt für diese Nachwuchsleute der FDP daraus?
2. Keinesfalls, daß dieses geändert werden müsse. Keinesfalls auch, daß Bildungsnachteile für Unterschichtkinder z.B. ausgeglichen werden müßten durch mehr Krippenplätze oder dergleichen. Ganz im Gegenteil:
3. Solche Politik, so diese Ländle-Liberalen, vertrüge sich mit liberaler „Wert-Orientierung“ nicht. Denn: die „bildungsfernen“ Eltern seien an den Startnachteilen ihrer Kinder selber schuld – da haben wir sie also bereits: die Schuld der Opfer daran, daß sie Opfer sind (und die Kinder dann zu Recht Opfer dieser Opfer!) –, und helfen würde nur Stärkung der „Motivation“ dieser Eltern zur Förderung ihrer Kinder, indem man ihnen, den Eltern, die gleichen materiellen Chancen, wie sie in höheren Bildungselternhäusern vorhanden sind, gerade eben vorenthält! Diese Allzu-Jung-Liberalen wörtlich (www.libertaere-fdp.de):
„Wenn der Staat versucht Chancengerechtigkeit herzustellen dann untergräbt er damit die entscheidende Motivation für sozialen Aufstieg, indem er den Eltern die Verantwortung für die Zukunft ihrer Kinder nimmt.“
Und weiter:
„Statt einer Gerechtigkeitsgesellschaft brauchen wir eine Aufstiegsgesellschaft und das bedeutet einen Wandel in den Köpfen, nicht in der Verteilung materieller Mittel (…) Das Schlüsselwort liberaler Bildungspolitik lautet also nicht Chancengerechtigkeit, die letztlich ein Anspruchsdenken gegenüber dem Staat bedient, sondern Leistungsbereitschaft, und zwar nicht nur bei den Schülern, sondern genauso bei den Eltern.“
Und schließlich auch dieses noch:
„Unsere Gesellschaft befindet sich heute in einem Zustand, in dem weite Teile von ihr erst wieder den Wert von Bildung lernen müssen (…) Die Gesellschaft ist hier, wie in vielen Dingen gefragt, nicht der Staat oder die Politik.“ (Nebenbei: in diesen Zitaten der FDP-Jung-Gebildeten habe ich sämtliche Schreibfehler stehen gelassen, um das bemerkenswerte Mindermaß an Bildung bei diesen prachtvollen Nachwuchspolitikern im Origi-nal wiedergeben zu können…)
Daß diese FDP-Denke mit Demokratie nichts mehr zu tun hat, mit Sozialstaat nichts und nichts mehr mit Rechtsstaat, sei hier nur angemerkt. Angemerkt auch nur die grenzenlose Unbarmherzigkeit dieser Sätze, die Arschpauker- und Steißtrommler-Mentalität dieser Pädagogik, die Verantwortung der Menschen für ihre Kinder und Liebe zu ihnen nur unter den Prämissen des äußersten Zwangs noch zu denken versteht. Hier melden sich – aller zeitgenössischen pädagogischen Forschung zum Trotz – wieder die rabenschwarzen Erziehungsmaximen des 19. Jahrhunderts zu Wort; einhundert Jahre Bildungsgeschichte sind also an diesen Bildungspolitikern vorbeigegangen. Gleichwohl, zentraler Punkt dieser Ansichten in unserem Zusammenhang ist: meine These, am Ende dieses Denkens in den Kategorien der „Chancengerechtigkeit“ statt „Chancengleichheit“ steht der Schuldspruch für jene, die in unserer Gesellschaft auf der Strecke geblieben sind, diese These läßt sich kaum deutlicher fassen als in diesen FDP-Sätzen. Und ein zweiter, weitaus entsetzlicherer Befund kommt gleich noch hinzu: für das – vermeintliche! – Versagen der Eltern werden gleich auch noch deren Kinder in Sippenhaft genommen! Wir haben es hier mit nichts weniger als mit faschistoidem Denken auf dem Gebiet von Erziehung und Chancengleichheit zu tun. Diese FDP-Denke ist menschenverachtende Abkehr von jeglicher Solidarität: selbst völlig unschuldigen Kindern gegenüber.
Und die CDU?
Nun, da ist mit noch höherrangigem „Zitatenschatz“ aufzuwarten! Da kann man gleich aus den Grundsatzprogrammen dieser Partei zitieren – aus den Jahren 1994 und 1998 -, aus Grundsatzprogrammen, die an diesen Punkten heute noch gültig sind.
Um es vorwegzunehmen: auch hier – wie bei den FDP-Jungliberalen – gibt es zunächst auch Feines zu lesen. So heißt es im Kapitel „Gerechtigkeit“ (S. 94) ebenso verfassungstreu wie fromm:
1. „Grundlage der Gerechtigkeit ist die Gleichheit aller Menschen in ihrer von Gott gegebenen Würde und Freiheit.“
2. Doch keine zwei Sätze später geht es auch hier dieser Maxime schon an den Kragen, vor-bereitet durch einen Zwischensatz, der – unterdessen ein alter Bekannter für uns – wiedermal erst ganz auf den „Wärmeton“ setzt, mit Wörtern wie „Anerkennung“ und „Ausgleich“:
3. „Gerechtigkeit fordert die Anerkennung der persönlichen Leistung und Anstrengung ebenso wie den sozialen Ausgleich. Gerechtigkeit verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.“
Da haben wir’s: der Begriff der „Gerechtigkeit“ hat endgültig den Begriff der „Gleichheit“ aus dem Wege geräumt. „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich“ behandeln, das ist genau jenes angemaßte Richteramt, genau jene Bewertungswillkür von oben herab (leicht väterlich getönt), wie ich sie bereits am Anfang angesprochen habe. Zwar folgt dieser zentralen Aussage noch einiges Sozialblabla – Politik solle für „ausgleichende Gerechtigkeit“ sorgen z.B. -, aber das alles wattiert nur diesen zentralen Brutalsatz (Gleiches solle gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden) und wird wieder und wieder relativiert, zurückgenommen, mit Gegen-Sätzen torpediert. Zum Beispiel: „Absolute Gerechtigkeit ist nicht erreichbar.“ Dies die Relativierung. „Auch politisches Handeln stößt wegen der Unzulänglichkeit der Menschen an Grenzen.“ Dies die Zurücknahme (denn welcher Mensch wäre nicht „unzulänglich“?). „Gerechtigkeit schließt die Übernahme von Pflichten entsprechend der Leistungsfähigkeit des einzelnen zum Wohle des Ganzen ein.“ Dies der Satz, der alle Gleichheitssätze vorher torpediert: sozialstaatlicher Schutz nur für denjenigen noch, der sich selber zu irgend etwas „ verpflichtet“. Wer dächte da heute nicht an Zwangsarbeit in der Gestalt von 1-Euro-Jobs? Heißt: auch dieser Satz, der Sozialstaatsschutz an Bedingungen knüpft, ist verfassungswidrig! Hilfsbedürftigkeit – gleich welcher Art – setzt unserem Grundgesetz zufolge eben gerade nicht irgendeine Gegenleistung voraus. Auch hier – im CDU-Grundsatzprogramm – schrumpft das Sozialstaatsdenken als Staatspflicht also zusammen zum bloßen Gnadenakt, auch hier schimmert bereits das Bild vom Hilfsbedürftigen als pflichtvergessenen Sozialschmarotzer durch.
Der Germanist Jens Husmann-Driesen, der 2006 an der Uni Duisburg-Essen über die „Ideologiesprache von SPD und CDU“ promovierte, kommentiert in seiner Doktorarbeit diesen Abschnitt aus dem CDU-Grundsatzprogramm folgendermaßen:
„Die so verstandene leistungsorientierte Gerechtigkeit wird zu einer Erfolgsethik, die besagt: Derjenige, der erfolgreich ist, ist gerechterweise erfolgreich. Derjenige, der trotz er-brachter Leistung nicht erfolgreich ist, ist gerechterweise nicht erfolgreich.“
Heißt: auch hier, in diesem scheinbar so staats- und kirchenfromm definierten Begriff der „Chancengerechtigkeit“ im CDU-Grundsatzprogramm verbirgt sich jener Schuldspruch an die Adresse jener, die es nicht geschafft haben, nach oben zu gelangen, oder gar ganz unten gelandet sind: „Recht so, richtig so!“ Und Husmann-Driesen hat völlig zutreffend konstatiert, daß es bei dieser „Gerechtigkeit“ gar nicht mehr um Menschlichkeit geht, sondern nur noch um Erfolg. Diese Auffassung von „Gerechtigkeit“ und „Chancengerechtigkeit“ ist nichts anderes mehr als Selbstrechtfertigungslehre derer da oben und nichts anderes als die moralische Fertigmache all jener, die beim Lebenskampf auf der Strecke geblieben sind.
Oder um es ganz einfach zu sagen: dieses Gerechtigkeitsverständnis ist nichts anderes mehr als Ausdruck schäbigster Niedertracht!