Der Mönch in den Songs (1/2)
Spiritualität in Lied und Leben Bob Dylans. Ein “amoralische Moralist und Märtyrer, der aufbegehrt gegen den universalen Verblendungszusammenhang von Macht, Korruption, Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit” – so wurde Bob Dylan beschrieben. Dem vielleicht wirkungsmächtigsten Songwriter des 20. Jahrhunderts wurden viele Etikette aufgeklebt: Rebell, Poet, Sonderling. Aber ein “Mönch”? Um die Denkweise von Bruder Thomas Quartier, selbst Mönch eines niederländischen Klosters, nachzuvollziehen, muss man einmal vom Modus des Stationären und Zölibatären absehen und andere Eigenschaften des Sängers ins Auge fassen. Der Autor nennt ihn einen “heiligen Outlaw”. Immer in Bewegung befindlich (“wie ein rollender Stein”), löst er sich aus gesellschaftlichen Zusammenhängen, erprobt dauerhafte Statuslosigkeit und öffnet sich so für das Transzendente. (Thomas Quartier osb)
“Was ich mache, das tue ich schon lange Zeit. Ich habe meine Lieder Tausende Male gesungen. Sie waren und sind stets der lebendige Kern von allem, was ich bin“. Diese Sätze würden einem Mönch nach Jahrzehnten des Psalmengesangs im Kloster gut zu Gesicht stehen. Sie stammen jedoch aus der Dankesrede des amerikanischen Dichters und Sängers Bob Dylan anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur am 10. Dezember 2016. Sie sind die Aussage eines Menschen, dessen Lied sein Leben ist. Sollte Bob Dylan wirklich etwas mit einem Mönch gemeinsam haben? “Ich will den Herrn loben in meinem Leben, meinem Gott singen und spielen, solange ich da bin” (Ps. 146, 2).
Bob Dylan (*1941) ist einer der einflussreichsten Songwriter des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Schwedische Akademie verlieh dem Sänger den Nobelpreis für Literatur, weil sie seine poetische Ausdrucksweise würdigen wollte, die in der großen Tradition Amerikanischer Folksänger steht und die seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Welt verändert hat. Bei der Verleihung war Dylan nicht zu sehen. Er blieb der Zeremonie fern, die öffentliche Seite der ihm zuteil werdenden Ehre ließ ihn kalt. Genauer betrachtet prägt diese Haltung seine ganze schon über fünfzig Jahre andauernde Laufbahn. Bob Dylan liebt es, eine Art Phantom zu sein, er entzieht sich gerne jeglicher Erwartung, die man von außen an ihn stellt.
Der Verleihung waren heiße Diskussionen vorausgegangen. Kann man den Nobelpreis jemandem verleihen, der ausschließlich Lieder schreibt? Der Künstler selbst hat zu dieser Entscheidung wochenlang geschwiegen. In seiner bereits zitierten Dankesrede, die vom amerikanischen Botschafter Azita Raji stellvertretend vorgetragen wurde, widmete er dieser Frage einen einzigen Satz, eine Bemerkung, die alles über seine Identität als Singer-Songwriter aussagt: “Nicht ein einziges Mal hatte ich während meiner Laufbahn Zeit, mir die Frage zu stellen, ob meine Lieder Literatur sind”. Ist das arrogant? Oder vielleicht übertrieben naiv? Ganz und gar nicht. Jemand der so eins ist mit seinen Texten und seiner Musik und für den das Singen die Mitte des Lebens bildet, hat in der Tat für nichts anderes Zeit. Er stellt nicht zu viele Fragen. Die Person Bob Dylan verschwindet hinter den Songs. Dann ist es nur logisch, dass der Meister es nicht wichtig findet, persönlich bei der Verleihung des Nobelpreises anwesend zu sein.
Diese Selbstvergessenheit hat etwas Monastisches. Natürlich wurde Dylans Dankesrede nicht hinter Klostermauern geschrieben. Sie entstand unterwegs (on the road). Dennoch lohnt es sich, Poesie und Persönlichkeit des Sängers im monastischen Spiegel zu betrachten, in seine mysteriöse Ausstrahlung einzutauchen und in jenem Spiegel unerwartete Dimensionen seines Schaffens zu entdecken. Es ist wahr, dass der Mönch in seinem Kloster wohnt und eine gewisse Sesshaftigkeit braucht. Aber ist er nicht eigentlich genauso permanent unterwegs wie der fahrende Sänger, auf der „Suche nach Gott“ (vgl. RB 58,7)? Und ist nicht auch der Künstler Bob Dylan in hohem Maße abgesondert von der Welt, wenn er vogelfrei auf Tournee ist? Ist seine Lebenswelt nicht eine Art mobiles claustrum, so widersprüchlich das auf den ersten Blick auch klingen mag?
Vielleicht ist die Route entlang der großen Bühnen der Welt für diesen Tamburinmann nichts anderes als ein geistlicher Weg, der ihn – nach Jahrzehnten oft verzweifelter Unsicherheit – befreite. Dann gibt es abermals keine Zeit und keinen Grund, der Verleihung eines Preises und den damit verbundenen Fragen allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ein solcher Preis fügt der Lebensweise als fahrender Sänger nichts hinzu und tut ihr auch keinen Abbruch. Er hat nur wenig mit dem zu tun, was man im tiefsten Innern ist. Dylan “lebt” in seinen Songs, besonders seit dem 7. Juni 1988, dem Tag, an dem seine Never Ending Tour begann. Er entschloss sich, permanent unterwegs zu sein und auf den Bühnen der Welt sein Lied zu singen. Dabei scheint er, wenn man ihn auf der Bühne beobachtet, manchmal zu vergessen, dass ein riesiges Publikum zugegen ist. Erneut – ganz wie ein Mönch, auf dem Weg nach innen. Ungefähr 2500 Konzerte hat er in dieser fast dreißigjährigen Periode gegeben. Der Weg nach innen verlangt wahrhaft klösterliche Disziplin von ihm. Ohne diese Disziplin wäre es für einen Fünfundsiebzigjährigen unmöglich, was für Dylan heute noch Abend für Abend selbstverständlich ist. Eine Mönchsarbeit in den Songs? Der Gedanke könnte durchaus eine verborgene Seite der mysteriösen Lebensform dieses Mannes beleuchten.
Der Dichter Bob Dylan hat sicher nie darüber nachgedacht, ob monastische Motive in seinen Songs zu finden sind oder wie diese im monastischen Spiegel klingen könnten. Er hatte dafür schlicht keine Zeit, genau wie für die Frage, ob er nun Literatur schreibt oder nicht. Aber welcher Mönch denkt schon darüber nach, ob er wirklich Mönch ist? Genauso wie das Nobelpreiskomitee sich die Zeit nahm, über den literarischen Gehalt von Dylans Liedern nachzudenken, ist es durchaus angebracht, dass wir den flüchtigen Schein, dass Dylans Leben und Werk monastische Züge haben, für einen Moment ernst nehmen. Nehmen wir uns die Zeit!
Geht es dann darum, Dylan zu einer Art “anonymem Mönch” auszurufen? Das wäre gänzlich unangebracht, denn nichts passt schlechter zum monastischen Ideal als Etiketten. Bei kaum einer anderen kulturellen Persönlichkeit unserer Tage lassen sich jedoch so viele Identitäten auflisten, die Leute in ihm gesehen haben: Dichter, Streuner, politischer Aktivist, Jude, Christ, Missionar, Eigenbrötler. Nichts spricht dagegen, dieser Liste auch die Lebensform “Mönch” hinzuzufügen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Spiegelung genauso viel über den Spiegel des monastischen Lebens zu sagen hat wie über den Betrachteten. Hat der Sänger monastisch etwas zu sagen?
Die Spiegelung, die wir in diesem Artikel vornehmen, richtet sich auf verschiedene Seiten Bob Dylans. Zunächst ist das seine außergewöhnliche Lebensform (1). Zweitens lohnt ein Blick auf seinen spirituellen Horizont (2), drittens auf sein Gottesbild (3) und viertens auf die Bekehrung, die er schon sein ganzes Leben lang zu vollziehen versucht (4). Zu jeder Seite werden wir Textfragmente und Kommentare von “Dylanologen” mit der Brille der monastischen Studien lesen. Gibt es einen Mönch in den Songs? Ist seine Kunst ein Kloster im Leben unzähliger seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts?
1. Lebensform: heiliger Outlaw
Im Werk Bob Dylans kommt das Verlangen nach einer Lebensform in unendlich vielen Varianten zum Ausdruck. Es geht zumeist um eine Person, die alle Statussymbole verloren hat, zum Fremden geworden ist. Ein Mensch, der unterwegs ist, der nirgends zuhause ist außer an seinem letztendlichen Ziel, ein Pilger „auf seinem Weg durch die Nacht“, wie der Theologe Knut Wenzel Dylan charakterisiert. Der “heilige Outlaw” ist die „zentrale Figur in der Mythenwelt“ Dylans, der „amoralische Moralist und Märtyrer, der aufbegehrt gegen den universalen Verblendungszusammenhang von Macht, Korruption, Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit“, so der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering. Dieser Ausgestoßene ist der Fremdling: jemand dem alles genommen wurde, dem aber zugleich eine unendliche Freiheit gegeben ist. Bereits in seinen frühesten Texten, die Dylan in der Tradition des Folksongs schrieb, tritt diese Figur in unterschiedlichen Rollen auf: als einsamer Landstreicher (hobo) oder fahrender Sänger. Aber auch als jemand, den das Schicksal auf die Probe stellt.
Die “Outlaws” öffnen sich auf eine merkwürdige Art und Weise für die Heiligkeit des Lebens. In Dylans Welt fallen die Masken und das Zaudern der Menschen weg, und sie fallen selbst ins tiefste Tal, wo sie nicht mehr sind als “rollende Steine”. In einem seiner berühmtesten Lieder, das die Musik der letzten Jahrzehnte wie kein anderes beeinflusst hat, kommt ein solcher “Findling” vor:
You used to laugh about everybody that was hangin’ out.
Now you don’t talk so loud. Now you don’t seem so proud
about having to be scrounging for your next meal.
How does it feel, to be without a home,
like a complete unknown, like a rolling stone?
Like a rolling stone.
In diesem Song wendet der Sänger sich einer Frau zu, die zum Establishment gehörte und nach deren Pfeife die ganze Welt zu tanzen schien. Urplötzlich muss diese Frau alle Eitelkeiten fallen lassen. Die Glitzerwelt hat sie betrogen.
Was beabsichtigt der Sänger mit dieser außergewöhnlichen Perspektive? Will er sich an einer ehemaligen Geliebten rächen? Geht es um scharfe Gesellschaftskritik? Keines von beiden. Der ellenlange Text offenbart, dass Dylan dem „rollenden Stein“ oder dem “Findling” mit Sympathie begegnet und sich damit identifiziert. Das Lied handelt von der “verlorenen Unschuld und der Härte des Lebens“, so Musikkritiker Robert Shelton. Erst wenn das Leben einen diese “Weisheit” gelehrt hat, wird man sein eigenes Selbst. Es geht also gar nicht um eine verwahrloste Person oder eine verderbliche Gesellschaft. Primär ist die Frage, wie Selbstverlust sich anfühlt. Dylan kanalisiert die Gefühle, die jeder verarbeiten muss, der die Lebensform des heiligen Outlaws anstrebt. Damit liefert er implizit eine Referenz für die monastische Lebensform, die genau diesen Selbstverlust in einem lebenslangen Experiment der Statuslosigkeit erproben will. Im tiefsten Tal des Lebens wird der Mönch auf der Suche nach Sinn offen für Spiritualität.
Später wird Dylan dieses Motiv wieder aufnehmen, und zwar in einem Text aus dem Jahr 1983, der explizit an einen geistlichen Weg erinnert. Er selbst ist dann schon lange auf einem religiösen Pfad unterwegs. Nachdem er seine jüdischen Wurzeln jahrelang erkundet und gelebt hat, bekehrt er sich nämlich zum Christentum. Aber er bleibt suchend. Die Anfechtungen und Versuchungen kommen auch weiterhin, nur nicht mehr aus der Gesellschaft oder der Scheinwelt des Glamours wie im vorigen Text, sondern aus dem eigenen Innern:
Shedding off one more layer of skin,
keeping one step ahead of the persecutor within.
Jokerman dance to the nightingale tune.
Bird fly high by the light of the moon.
Oh, oh, oh Jokerman.
Der Jokerman scheint im ersten Moment im krassen Gegensatz zu einem introvertierten Mönch zu stehen. Er richtet sich mit seinem nächtlichen Lied nicht nach innen, sondern fliegt in schwindelerregende Höhen. Zugleich fühlt er sich jedoch von Eigenwahn und Geltungsdrang bedroht, dem inneren Verfolger. Kämpften die Wüstenväter nicht mit vergleichbaren “Dämonen”?
Letztlich gelingt es dem Jokerman, die Bedrohung, die eitlen Gefühle, die in seinem Innern hausen, zu neutralisieren. Dazu musste er immer wieder eine Schicht seiner eigenen Haut abstreifen. Indem er sich selbst immer mehr bloßstellt, kann er seinen Verfolger hinter sich lassen. Der Sänger ist am Ende dieses Liedes nicht mehr der Jokerman, der alles kann, sondern der demütige Büßer, der sich dem mühsamen Gefecht um das Gute stellt. Er wird zu einem “Geläuterten”, der auch dem Bösen nicht mehr zwanghaft ausweichen muss.
Wenn man jeden Prestigedrang am Boden der Existenz loslässt wie ein rollender Stein und den inneren Kampf um Läuterung nicht scheut, dann ist man der monastischen Lebensform zumindest verwandt. Dylan ist eine Art Mönch, der nirgendwo anders als in seinen Songs seine Wohnstatt hat. Das Kloster des heiligen Outlaws sind in der Tat seine Lieder. Detering schreibt: “Sein Leben derart konsequent auf nichts gestellt zu haben als auf eine dann allerdings mit religiöser Inbrunst betriebene Kunst, die ständige Beweglichkeit als Lebensform: diese Radikalität ist von Beginn an Teil von Dylans Charisma gewesen.” Ob Dylan selber diese Umschreibung als Outlaw-Mönch zu schätzen weiß, ist nicht relevant. Er selber hat immer wieder jede Umschreibung fallengelassen. Ist er ein Mönch in der Welt? Der italienische Philosoph Girogio Agamben schuf für solche Lebensformen den Begriff des homo sacer: der vogelfreie Mensch, der das Paradies immer wieder verlassen muss und der dadurch nach irdischen Maßstäben bedroht ist. Das tut der Mönch in Agambens philosophischem Entwurf. In ähnlichen Worten spricht Dylan in seinem autobiographischen Buch aus dem Jahr 2004 über seine eigene Motivation: „Ich suchte nicht nach Geld oder Liebe. Ich hatte geschärfte Sinne und feste Gewohnheiten, ich war unpraktisch und obendrein ein Visionär“. Im monastischen Spiegel wird eine unerwartete Lebensform sichtbar.