Der Schmetterlingseffekt

 In FEATURED, Politik, Umwelt/Natur

Die Natur ist ein Vorbild für den gesellschaftlichen Wandel. Wie kommt das Neue in die Welt? Das Neue, wie es jetzt gebraucht wird, in dieser Zeit des Übergangs, des schmerzhaften Verfalls und des hoffnungsvollen Neubeginns. In der sich das alte System als selbstzerstörerisch erweist. Wohl wissend, dass es untergehen muss, bäumt es sich noch einmal auf. Mit einem Großen Neustart versuchen seine Protagonisten das Ruder noch mal herumzureißen und die Welt endgültig in den Griff zu bekommen. Aber das Neue hat sich schon längst hervorgewagt. Unaufhaltsam breitet es sich aus. Können wir aber wirklich sicher sein, dass es trägt und der Wandel unaufhaltsam ist? Wer könnte besser darüber Auskunft geben als das Leben selbst? Seit Milliarden von Jahren bringt es das Neue in immer komplexeren Transformationen hervor. Margit Geilenbrügge

 

Das Newton‘sche Maschinenmodell, mit dem wir uns die Welt so lange erklärt haben, verschwindet allmählich aus unseren Köpfen. Und es öffnet sich ein Raum für neue Vorstellungen und neue Denkweisen. Komplexitätswissenschaften wie die Chaostheorie, die evolutionäre Systemtheorie oder die Synergetik, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, haben das wissenschaftliche Denken revolutioniert (1). Ihre Weltsicht floss unter anderem in die Neue Medizin und in die Neue Biologie ein.

Eine neue Weltwahrnehmung

Die Komplexitätswissenschaften sehen die Welt als ein offenes, sich entwickelndes, durch hochkomplexe Wechselwirkungen verbundenes und sich selbstorganisierendes System an. Die großen Bereiche der Evolution: Materie, Leben und Geist/Kultur sind durch gleiche, dynamische Muster miteinander verbunden und bilden eine Einheit (2). Das Grundmuster, auf dem alles aufbaut, ist das Holon, das Teil/Ganze. Ihm wohnt eine Dynamik schöpferischer Selbstorganisation inne, die die Evolution vorantreibt. Denn sie ermöglicht den Teilen eines Systems, sich zu einer komplexeren Ganzheit zu verbinden, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. So konnte es geschehen, dass aus Atomen Moleküle, aus Molekülen Zellen, aus Zellen Organismen und aus Organismen höhere Lebewesen wurden (3).

Im Bereich der geistig-kulturellen Evolution zeigen sich die gleichen Muster wie in der Natur. Auch hier führt Entwicklung zu immer größerer Komplexität: zu mehr Komplexität im Denken und zu einem immer umfassenderen Bewusstsein.

So wurde im Laufe der menschlichen Entwicklung aus einem archaischen Denken ein magisches, aus dem magischen Denken ein mythisches und aus dem mythischen ein rationales Denken. Eine weitere Bewusstseinsstufe ringt gerade darum, in uns geboren zu werden, sie heißt „integral“. Hier wird der geistige Horizont so weit, dass wir die Welt als Einheit sehen können (4).

Beispiel „Neue Medizin“

Auch die Neue Medizin sieht den Menschen als ein sich entwickelndes und sich selbstorganisierendes Wesen an. Körper, Psyche, Geist und kultureller Hintergrund stehen durch unendliche viele Wechselwirkungen miteinander in Verbindung und beeinflussen Leben und Gesundheit. Heilung kommt nicht von außen, kann nicht „gemacht“ werden. Sie geschieht einfach, wenn die richtigen Bedingungen dafür da sind (5).

Der Soziologe, Umweltaktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises Nicanor Perlas beschreibt ein evolutionäres Muster, das sich sowohl bei der Metamorphose der Raupe zum Schmetterling als auch bei der Transformation der menschlichen Gesellschaft zeigt (6).

Die Wandlung der Raupe zum Schmetterling und die Umwandlung der Gesellschaft

Das Wunder der Verwandlung der Raupe beginnt, nachdem sie sich in einen Kokon aus selbstgesponnenen Fäden eingehüllt hat. Nach den Erkenntnissen der Neuen Biologie laufen jetzt zwei gegensätzliche Prozesse gleichzeitig ab: Der eine führt zu Zerfall und Unordnung, der andere zu neuen Strukturen und höherer Ordnung.

Die verpuppte Raupe beginnt sich in einer Art Selbstverdauung ganz allmählich aufzulösen. Der Zustand eines „biologischen Chaos“ setzt ein. In diesem Chaos ist das Potenzial einer neuen, höher-komplexen Ordnung aber bereits enthalten und wartet darauf, zur Entfaltung zu kommen. So taucht dann auch bald eine völlig neue Art von Zellen auf, die in der Neuen Biologie imaginale Zellen oder Imago-Zellen genannt werden. Sie tragen das Bild, die Vision oder das Potenzial des Schmetterlings in sich.

Am Anfang ist das Immunsystem der Raupe noch in Takt. Es erkennt die neuen Zellen als Feinde und vernichtet sie. Es bilden sich jedoch immer wieder neue Imago-Zellen. Sie stabilisieren sich bald gegenseitig, indem sie sich zu Zellgruppen zusammenschließen. Immer neue Gruppen bilden sich, die sich in einem weiteren Schritt durch Zellstraßen miteinander verbinden. So entsteht ein stabiles Netzwerk von Imago-Zellen.

Der Identitäts-Shift

Zu einem bestimmten Punkt kippt das „System Raupe“ und die Imago-Zelle „erkennen“, dass sie Teil von etwas Neuem sind. Jede einzelne Zelle weiß nun, welche Aufgabe ihr im „System Schmetterling“ zukommt und an welchen Platz sie gehört. Nach diesem Identitäts-Shift geht alles dann ganz schnell. Und nach nur wenigen Tagen ist aus einem Zellhaufen ein Schmetterling geworden.

Parallelen und Unterschiede

Perlas beschreibt aus seiner soziologischen Sicht die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen dem biologischen und dem gesellschaftlichen Transformationsprozess. Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Der Gestaltwandel bei Insekten vollzieht sich naturwüchsig. Für uns Menschen aber gilt: Ohne unser Engagement und den Einsatz unserer Fähigkeiten hat der Wandel keine Chance. Ebenso müssen wir unser Denken ändern, indem wir das materialistische Weltbild des 19. Jahrhunderts mit seiner Vorstellung von einer Welt getrennter Dinge loslassen und uns auf die neue Weltsicht der Komplexitätswissenschaften einlassen.

Von der Raupen- zur Schmetterlingsgesellschaft

Geht man den Prozess der Metamorphose des Schmetterlings einmal durch, dann sind die Parallelen zur heutigen gesellschaftlichen Situation unübersehbar. Die erste Generation von Imagozellen, die vom Immunsystem der Raupe zerstört wird, erinnert an die Kämpfer für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, die vom herrschenden System ermordet, mundtot gemacht, gesellschaftlich geächtet oder wirtschaftlich ruiniert werden. Eine weitere Parallele ist das Chaos.

Umgang mit dem Chaos

Chaotische Verhältnisse sehen wir in der Gesellschaft zuhauf. Aber die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Wir können uns beklagen und durch ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit entmutigen lassen. Aber wir können das Chaos auch als ein Symptom dafür ansehen, dass das alte System zusammenbricht und eine höhere Ebene der Komplexität und Ordnung darauf wartet, aufzutauchen. Und wir können diese chaotische Situation nutzen, um nach den „imaginalen“ Individuen und Gruppen Ausschau zu halten, die jetzt überall auftauchen.

Synergien schaffen!

Eine weitere Parallele zwischen biologischer und gesellschaftlicher Transformation ist der Zusammenschluss einzelner Akteure zu Gruppen und deren Vernetzung zu größeren Verbänden. Perlas weist jedoch darauf hin, dass eine soziale Erneuerung nur dann stattfinden wird, wenn diese Gruppen und Bewegungen Synergien untereinander erzeugen. „Denn in diesen Synergien zeigt sich oft die Gestalt der zukünftigen Gesellschaft, die zur Erscheinung drängt“ (7).

Das heißt, nur durch intensiven Austausch, durch gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung und Zusammenarbeit kann ein neues Ganzes entstehen, das mehr ist als die Summe seiner einzelnen Akteure. In diesem Übersummativen zeigt sich dann das evolutionäre Neue, die höherkomplexe Ordnung. Hier werden völlig neue Kräfte freigesetzt, zeigen sich bisher ungeahnte Möglichkeiten. Hier erkennt man, dass man nicht mehr Teil des Alten, sondern Teil von etwas Neuem, Zukunftsweisendem ist.

Wann das System als Ganzes auf eine neue Ebene springt, ist nicht voraussagbar und auch nicht planbar. Ein kleiner Auslöser wie der „Flügelschlag eines Schmetterlings“ kann genügen, um das alte System zum Kippen und das neue zum Erscheinen zu bringen.

Der Flügelschlag eines Schmetterlings

Das aus der Chaostheorie stammende und als Schmetterlingseffekt bezeichnete Phänomen besagt, dass eine winzige Ursache wie der Flügelschlag eines Schmetterlings eine Kaskade von Folgeerscheinungen auslösen und Veränderungen globalen Ausmaßes bewirken kann (8). Was dies für den gesellschaftlichen Wandel bedeuten könnte, drückte die US-amerikanische Ethnologin Margaret Mead (1901 bis 1979) einmal so aus: „Zweifeln Sie nie daran, dass eine kleine Gruppe nachdenklicher und engagierter Bürger die Welt verändern kann. Tatsächlich ist das das Einzige, was sie je verändert hat.“

Die Wiederverzauberung der Welt

Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Metamorphose des Schmetterlings, der uns Menschen mit der Erfahrung des Neuen in Kontakt bringt. Es ist der Zauber, den wir spüren, wenn wir beobachten, wie sich die einstige Raupe aus dem Kokon herauslöst, und sich als geflügeltes Kunstwerk in seiner ganzen Schönheit entfaltet.

Jede Begegnung mit dem evolutionären Neuen verzaubert. Sie verwandelt den Blick auf die Welt und das eigene Leben. Erschien mir die Welt bisher eher als feindlich, leblos und stumm, so zeigt sie sich nun wie verwandelt, wie durch einen Zauber zum Leben erweckt.

Der Dichter Joseph Freiherr von Eichendorff (1788 bis 1857) beschreibt die Befreiung der Welt aus einem unwirklichen, traumähnlichen — aus heutiger Sicht albtraumähnlichen — Zustand hin zu ihrem wahren Wesen so (9):

„Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.“

Der Ökonom und Soziologe Max Weber (1846 bis 1920) hatte einst die „Entzauberung der Welt“ beklagt. Durch eine zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung wäre im Zeitalter der Moderne alles Metaphysische, Geheimnisvolle, Unberechenbare und jedes Bedürfnis nach Sinn und Transzendenz aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt worden (10).

Hätte Max Weber gewusst, dass 50 Jahre nach seinem Tod die Komplexitätswissenschaften das Weltbild der Moderne revidieren würden, er hätte wohl gelassen und zuversichtlich in die Zukunft geschaut.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) Zu den Komplexitätswissenschaften zählen unter anderem die Allgemeine Systemtheorie von Ludwig von Bertalanffy (1968), die Theorie sich selbstorganisierender Systeme von Erich Jantsch (1979), die Ungleichgewichtsthermodynamik von Ilya Prigogine (1992), die Lasertheorie von Hermann Haken (1990), die autopoietische Systemtheorie von Umberto Maturana und Francisco Varela (1987).
(2) Die Komplexitätswissenschaften liefern Beweise dafür, dass es grundlegenden gleiche Muster für alle drei Bereiche der Evolution gibt. Damit beginnt sich die Kluft zwischen Materie, Leben und Geist zu schließen. „Die Einheit der Wissenschaft ist nicht in einer utopischen Reduzierung aller Wissenschaften auf Physik und Chemie begründet, sondern in den strukturellen Entsprechungen der verschiedenen Wirklichkeitsebenen”; Ludwig von Bertalanffy 1968, Seite 87.
(3) Wilber, Ken: Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Frankfurt am Main, Wolfgang Krüger Verlag, 1996, Seite 54 bis 57.
(4) Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, Band 1 und 2, Schaffhausen, Novalis Verlag, 1976.
(5) https://www.youtube.com/watch?v=vOlKiLq2DtQ
(6) https://40jahremomo.de/vjm-content/uploads/2020/03/Der-Schmetterlings-Effekt.pdf
(7) Ebenda, Seite 2.
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Schmetterlingseffekt
(9) https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%BCnschelrute_(Eichendorff)
(10) https://de.wikipedia.org/wiki/Entzauberung_der_Welt

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.
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