Der tägliche Tod

 In FEATURED, Kultur, Medien, Politik

Diesmal kein Corona. Auch um tote Flüchtlinge geht es in diesem Beitrag nur am Rande. Obwohl auch diese natürlich ein Symptom sind: der allgemeinen Verrohung in unserem Land. Der Autor spürt sie täglich in Form des täglichen Kriegs auf den Straßen, der zunehmenden Rücksichtslosigkeit der Autofahrer. Vor allem aber springt uns die Gewalt täglich auf den Bildschirmen an. Fast jede zweite Handlung in einem Fernsehfilm oder einer Serie hat mit Mord, Totschlag oder anderen furchbaren Verbrechen zu tun. Glauben wir im Ernst, dass dieses Bombardement mit bösen Bildern mit unserer Seele nichts macht? Glauben wir, dass da kein Zusammenhang besteht zu Gewalt und Verrohung, die auch in der Realität zunehmen? Rüdiger Schaller

Nein es geht nicht um ertrinkende Menschen im Mittelmeer. Es geht nicht um die Opfer auf den Schlachtfeldern der Neuzeit.

Was läuft falsch in der Gesellschaft? Diese Eiseskälte gegenüber den Flüchtlingen, hartherzig und ungerührt lassen wir sie in den Lagen von Europas Außengrenzen vegetieren. Parallel steigen die Rüstungsexporte und die Profite.

Profit, darum wird wie um das goldene Kalb getanzt: CumEx feiert fröhliche Urstände, befeuert von Finanzministern und teuren Finanzberatern – Freshfields, eine vom Namen her renommierte international agierende Wirtschaftskanzlei; im Schulterschluss der BlackRocks. Sensationelle Ergebnisse: Nicht gezahlte Steuer, die wird rückerstattet – obwohl doch nicht etwas rückerstattet werden kann, was nie gezahlt wurde. Das muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen.

Und dann noch schnell gesetzlich regeln, dass das alles schnell verjährt, die Gelder nicht zurückgezahlt werden müssen. Gelder die im Gesundheitswesen, in der Bildung oder in der Infrastruktur sinnvoll investiert gewesen wären. Wieder Profite zu Lasten der Schwachen. Und die Politiker agieren eher zu ihrem eigenen Wohl, gekauft von Lobbyisten. Nur einige Beispiele: Die Verschleuderung von Millionen beim Mautdebakel. Konzernwohl rangiert vor Tier- und Menschenwohl. Bundeswehr und Beraterverträge ohne Kontrolle. Konsequenzen haben diese Politiker nicht zu fürchten. Schlimmstenfalls werden sie nach Brüssel abgeschoben, in hochdotiere Posten. So wird die Gesellschaft von innen heraus zerfressen. Mein Wohl geht über das Gemeinwohl. Warum wohl ist Deutschland ein Geldwäscheparadies? Whirecard und die Clankriminellen lassen grüßen. Wieso gehen unsere Politiker dieses Thema nicht konsequent an? Es geht. Das zeigt Italien, das jetzt die „Vermögen“ der Mafia angreift.

Auch im Straßenverkehr ist gerade innerstädtisch eine zunehmende Verrohung, ja Rücksichtslosigkeit wahrzunehmen. Ein Spiegel der Gesellschaft. Bei den Autos braucht man nur auf die Kühlergrille und das Design zu schauen – Zeichen wahnhafter Wehrkraft. Manche Autos sehen aus wie Panzerwagen. Selbst die Kleinwagen werden wie mit Anabolika aufgepumpt. Doch wozu braucht man einen 2,5 Tonnen schweren Panzerwagen, wenn nur 80 kg Fleisch, 10 kg Muskeln und ein paar Gramm Hirn von „A“ nach „B“ bewegt werden müssen?

So stirbt das Gemeinwesen, täglich ein Stück mehr.

Doch es geht mir heute um eine andere Art von Tod. Es geht dabei auch um den Verlust von Empathie gegenüber Menschen in Not. Ausgenommen sind die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ziemlich wenigen Menschen, die sich in vielfältiger Weise einbringen, um Not zu lindern. Die sich vom Leid berühren lassen – und handeln. Stellvertretend der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und das Kirchenschiff zur Rettung von Menschen in Seenot. Allen, die bei dieser Aktion helfen und spenden, gilt meine tiefe Dankbarkeit.

Es ist skandalös, dass die EU seit Jahren zuschaut, wie an den Grenzen Europas Menschen ertrinken. Das ist ein Armutszeugnis für Europa – auch dass es eine Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache gibt und gerettete Menschen nach Libyen, in den Bürgerkrieg, zurückschickt werden. Dort passieren extreme Menschenrechtsverletzungen. Wofür hat die EU denn eigentlich den Friedensnobelpreis bekommen? So sind es die zivilen Seenotretter, die Menschen retten. Die das tun, was eigentlich eine staatliche Aufgabe wäre. Unfassbar, dass dem Ratsvorsitzenden Morddrohungen zugestellt wurden.

Unfassbar? Wieder handelt es sich nur um den kleinen, sichtbaren Teil eines Eisberges; und nicht um Einzelfälle wie die NSU-Morde, Kassel, Hanau, der Anschlag auf die Synagoge. Politiker geben sich bei jedem dieser von ihnen so genannten Einzelfälle entsetzt und fordern Konsequenzen. Doch wo bleiben diese? Schon 1980, nach dem Anschlag auf dem Oktoberfest, war dies die Frage. Die braune Brühe kocht wieder an vielen Stellen hoch (ein paar weitere Gedanken dazu auch in meinem Blogeintrag „Die Stunde Null, NSU und Polizeicomputer“).

Nun zum täglichen Tod, den ich zu Beginn meiner Überlegungen im Sinne hatte. Der unterschwellig viel mehr bewirkt, als uns bewusst ist. Der tägliche zelebrierte Tod im Fernsehen: Alleine in ZDF und ZDFneo wurden im Jahr 2015 mehr als viereinhalbtausend Morde gezeigt. Auch in der ARD wird mit großem Fleiß gestorben. Der Tatort ist unangefochten das Flaggschiff im deutschen Fernsehen. Ein aktueller Blick vor kurzem in alle Programme eines Freitags zeigte: insgesamt wurden sieben Mordserien oder Krimis an einem Abend ausgestrahlt. Alle nach dem gleichen Muster gestrickt, in einem sehr engen Handlungsrahmen: Der Ermittler, und mit ihm der Zuschauer, sieht in jedem Gegenüber das Böse, die Abgründe der menschlichen Seele. In jedem Gegenüber!

Je mehr Ängste bei den Zuschauern – es sind Millionen Bundesbürger – bespielt werden, desto höher ist die Spannung. Und der Ermittler ist in vielen privaten und beruflichen Facetten zu sehen. Er ist ein Mensch wie wir, mit allen Sorgen und Nöten. Mit Alkohol- und Eheproblemen, Übergewicht, Stress mit pubertierenden Kindern und mehr. Auch dienstliche Schwierigkeiten, Begrenzungen durch Vorschriften und Gesetze, werden gezeigt. Die Figuren sind vielschichtig, haben Abgründe, auch Zweifel. Dies alles führt zu einer hohen Identifikation der Zuschauer mit den Ermittlern. Je bekannter die Ermittler durch viele Folgen geworden sind, desto höher ist der Grad der Identifikation.

Doch diese Ermittler sind im Auftrage einer höheren Macht unterwegs. Suggeriert wird: im Auftrag des „Guten“ – und sie müssen alle Fälle aufklären. Oft führen nur Grenzüberschreitungen zum Erfolg. Die Krimi-Figuren zeigen uns: Erfolgreiche Polizeiarbeit gibt es nur, wenn man Regel bricht. Der ganze Plot basiert auf Vorlagen: Auf den noch bis heute bewunderten „Dirty Harry“ Clint Easwoods – Urvater aller brutal durchgreifenden Cops – folgte in Deutschland Schimanski. Millionen haben begeistert zugeschaut, wie anderen „die Fresse poliert“ wurde. In all dieser Gewalt und der Bilderflut geht die Empathie mit den Opfern der Gewalt völlig verloren. Nur ein Gedanke: Wer würde sich gerne „die Fresse“ polieren lassen? Ja, wie würde sich das anfühlen, so als Opfer?

Es ist in diesem schematisch produzieren Mainstream eine Tendenz entstanden, nur das Verderbte zu entdecken. Herbeifantasierte böse Machenschaften, voller Pessimismus und Aggression. Und die Helden der Zuschauer sind alle Vertreter der Staatsmacht. Es wird anscheinend eine alte Sehnsucht der Deutschen nach Unterordnung unter eine Autorität bespielt. Wer sich in einer hoch komplexen Wirklichkeit dem freien Leben nicht gewachsen fühlt, der sucht eben nach Feinbildern und nach Autoritäten. Reduziert auf eine duale Weltsicht: Verbrechen vs. ordnende Staatsmacht. Offensichtlich brauchen die Deutschen eine höhere Instanz, um Halt und Orientierung zu haben.

Eine Folge: Misstrauen gegen das Fremde wird geschürt. In so einer erzeugten Welt voller dunkler Absichten, in der Gewalt alltäglich ist, wird am Ende eben das Fremde als besondere Bedrohung wahrgenommen. Im wahren Leben geht das Grundvertrauen in andere Menschen verloren. Aufklärung, Humanismus sind längst nur noch ferne Ideen. (Mehr in dem Blog “Hoffnung”).

Fatale Parallelen zum Entstehen der Naziherrschaft. Lehrreich das Kino der Weimarer Zeit, das damalige Massenmedium. Auch dieses hatte seinen Anteil an der unheilvollen Entwicklung. In den 15 Jahren vor der Machtübernahme eine beinahe obsessive Wiederholung von ständig denselben Motiven. Als Ausweg aus den Unwägbarkeiten der damaligen Zeiten wurde der Alte Fritz beinahe infantil verklärt als „guter Herrscher“. Parallel dazu wurde eine düstere Faszination für wahngetriebene genialische Herrenmenschen wie “Nosferatu” geschürt. Das Kino wirkte damals als Brandbeschleuniger einer unguten Entwicklung.

Es fiel aber auch auf fruchtbaren Boden: auf die Unreife der deutschen Charakterentwicklung. Wie steht es mit dieser heute? Ist Moria der Inbegriff eines neuzeitlichen Konzentrationslagers? Welches sind die Wurzeln der Neonazis und ihrer Bewunderer und Förderer? Die Brandbeschleuniger heute sind das Fernsehen mit seiner wahnsinnigen Bilderflut vom täglichen Tod, sind die sogenannten Sozialen Medien. Diese wirken über die vielen Wiederholungen von Mustern massiv auf das Unterbewusste.

Nochmals: Wie sieht es heute mit der Reife der deutschen Charakterentwicklung aus? Leben jenseits des gestanzten Mainstreams, das kommt kaum mehr vor. Doch gelingendes Leben ist möglich. In Freiheit und Verantwortung, geboren aus Liebe. Es ist eine andere Art von Liebe als in „Bauer sucht Nackedei“. Sie ist möglich, immer wieder und jeden Tag.

Weitere Blogeinträge: https://indiestille.perfectsounds.de/index.php/blog

Rüdiger Schaller, 16.10.2020

Autor des Buches: “In die Stille”

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • cource
    Antworten
    es ist viel profaner: die süchtigen erdenwürmer sind gelangweilt und ständig auf der suche nach abenteuer/neuem/anreiz usw. , diese sucht ist die grundlage für alle anderen süchte/fress-/kauf-/sex-/sport-/arbeits-/drogen-/spielsucht usw.–die deutsche kultur/erziehung/dressur führt zu einer ständigen zwanghaften unzufriedenheit/gefühl unbedingt noch mehr haben/leisten zu müssen—Jesus/Gandhi usw. hatten versucht dem volk mit innerer zufriedenheit auf die sprünge zu helfen und wurden dafür verraten/ermordet—-die gemeinschaft profitiert davon wenn der einzelne mehr will/leistet als er zum glücklichsein/zufriedenheit bräuchte, deshalb werden auch solche hedonisten/fkkler/veganer/gesundheitspropheten/yogis usw. die glücklich mit den von der natur kostenlos zur verfügung gestellten bedürfnisbefriedigungen wie sonne/bewegung/sex/pflanzen+tiere usw. sind, von der gesellschaft wie todfeinde bekämpft und alle möglichen ersatzbefriedigungen wie rivalität/konkurenzkampf/macho-getue/imponiergehabe/geltungssucht usw. exorbitant gefördert
  • Volker
    Antworten

    Auch im Straßenverkehr ist gerade innerstädtisch eine zunehmende Verrohung, ja Rücksichtslosigkeit wahrzunehmen (…)

    Jo. War heute 45 Minuten unterwegs und viermal kurz vor Krankenhaus. Vor einer Woche mehrmals kurz vor Krankenhaus oder Friedhof. Is nix Neues, fahre seit 14 Jahren Fahrrad, aber seit Ausrufung der Jahrhundertseuche köcheln Aggressionen, Tendenz steigend.
    Wer oder was bedroht mich eigentlich, ein Virus oder höchst aggressive Rücksichtslosigkeit wegen einem Virus, ausgelöst durch gezielte Angst-Panik- und Strangulationspolitik. Fragezeichen. Gott sei Dank haben wir keine Verhältnisse wie im Great Again- Land, wäre schon längst durchlöchert, befürchte allerdings, dass wir nicht weit davon entfernt sind, einige Politiker üben sich schon im Scharfschießen.

    Wofür hat die EU denn eigentlich den Friedensnobelpreis bekommen?

    Für ihre Friedenspolitik. Wenn alle Feinde ringsum tot sind, gibt’s einen extra Zuschlag Friedenstauben Drohnen, bis der letzte Bauer im Aufstand geläutert ist. Frag Obama, der kennt sich aus mit Friedenspreis, nobel sind selbst Mord und Folter.

    Die Brandbeschleuniger heute sind das Fernsehen mit seiner wahnsinnigen Bilderflut vom täglichen Tod, sind die sogenannten Sozialen Medien.

    HdS ist auch Teil sozialer Medien. Aber gut, alle mal über einen Kamm scheren ist einfacher, man nimmt es heute nicht so genau mehr. Oh, ein Versehen, dann bitte sorry ++glucks ++

    Was Fernsehen und Gruseln betrifft, hat Tradition seit Erfindung der Glotze. Samstags saß Familie zitternd in Wohnstube, starrten auf Klaus Kinzki, Nebelschwaden über der Themse, ein langgezogener Schrei aus Frauenkehle, dramatischer Sound, Schrei aus Kinderzimmer, und nach neunzig Minuten Abmurks mit Geballer hatten alle Hosen voll.

    Ohne Krimi
    geht die Mimi
    nie ins Bett.

    Hoss Cartwright von Bonaza verprügelte seinen kleinen Bruder im Pferdestall sogar, dem wiederum saß der Colt locker, alle hauten sich gegenseitig auf die Fresse, hier und da fiel einer um, von einer Kugel hingestreckt – ach wie lustig.

    ARD und ZDF haben nix dazugelernt, heutzutage laufen Killer mit Hartz IV- Leistungsbescheide herum, machen Randale in Jobcenter, Nebelschwaden, Schreie … wo bleibt der Kommissar*in, Sigsauer*in 9 mm?

    Schimanski bitte zum Dienst, hau mal auf Fresse, heute ist Samstag.

     

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