Der Wasserverkäufer am Fluss
Das Dao, über das man sprechen kann, ist nicht das wahre Dao. Diesen ersten Satz aus dem Daodejing (nach der Bibel das meistübersetzte Buch der Welt) werde ich nie vergessen. Dass man diesen ersten Satz aus dem Altchinesischen auch noch ganz anders übersetzen kann, weiß ich, es gibt da eine Fülle von Varianten, die der Essenz des eben Gesagten aber nicht widersprechen. Schon diese Hunderten von Übersetzungen scheinen zu bestätigen, dass man über das Wesentliche nicht sprechen kann. Oder soll ich vielleicht den großen Wittgenstein noch mit dazuholen, der 1921 schrieb: Was sich überhaupt sagen lässt, kann man klar sagen, und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen? Nein, ich werde nicht schweigen, sondern euch die Geschichte vom Wasserverkäufer am Fluss erzählen.
Alle haben Durst
Jener Wasserverkäufer sah, dass die Menschen Durst hatten. Wo man auch hinschaut, überall sind Durstige – Tanha, Begehren, nannte der Buddha diesen Durst in seiner Muttersprache Pali. Wenn dann einer drauf kommt, dass man zum Fluss gehen kann und trinken, dass das Wasser dort klar ist und gut bekömmlich und den Durst löscht – wunderbar! Ist doch egal wie er drauf gekommen ist, ob ihm jemand den Tipp gegeben hat, oder er es von allein herausgefunden hat. Das Wasser ist köstlich, es löscht den Durst, und jeder kann hingehen und davon trinken, so viel er will; kein Zaun hindert uns und kein Schild »Privatgrund, Trinken verboten!«.
Nun sah dieser Mensch aber, dass kaum einer seiner Mitmenschen, die doch so durstig waren, dort hingingen und tranken. Vielleicht wussten sie gar nicht von diesem Fluss und der Qualität seines Wassers. Und wenn doch, warum gingen sie dann nicht hin? Wussten sie vielleicht nicht, wie man dort hingelangt? Oder fürchteten sie, dass das Wasser vergiftet sein könnte? Vielleicht kamen sie einfach nicht darauf, dass ihr Durst löschbar war, weil sie mit so viel anderem, Alltäglichen beschäftigt waren. Vielleicht dachten sie, das sei eben so; die menschliche Existenz, la condition humaine, sei so, dass man durstig sei und Sehnsucht nach Wasser habe, und dass das eine im Diesseits, in dieser Welt nicht erfüllbare Sehnsucht wäre. Er aber wusste, wie gut es sich anfühlte, von diesem Wasser zu trinken. Es löschte den Durst, und es war genug da für alle. Und es schmerzte ihn, dass kaum jemand davon trank.
Die frohe Botschaft
Deshalb sprach er immer öfter davon, mit einfachen, klaren Worten. Er lobte das Wasser, er beschrieb, wie es seine Kehle hinunterrann, und wie gut man sich danach fühlte, wenn man davon getrunken hatte. Die Menschen hörten ihm fasziniert zu. So schön hatten sie nur selten jemand vom Wasser sprechen hören. Besonders dann, wenn er immer wieder sagte, dass jeder selbst zum Wasser gehen könne, zum Trinken, dass sie ihn dazu gar nicht bräuchten und es nichts koste, lobten sie ihn und seine Bescheidenheit. So ein großer Redner! Und er predigte so ganz ohne Arroganz, das gefiel ihnen. Er sprach zu ihnen auf Augenhöhe, hatte nichts zu verkaufen und fühlte sich dabei auch nicht als was Besseres, deshalb versammelten sie sich um ihn in immer größeren Mengen, lauschten seiner Rede und empfahlen ihn weiter. Immer mehr kamen, und sie fragten nach den Terminen, wann er denn wieder sprechen würde, damit sie ihre Freunde und die anderen Durstigen mitbringen könnten.
Aber keiner von ihnen ging zum Fluss, um zu trinken.
Zeig es ihnen!
Diesen großartigen Redner, wir könnten ihn Adam nennen, auch wenn sie vielleicht eine Frau war, das soll jetzt keine Rolle spielen. Vielleicht war es ja Lilith, die erste Frau, oder Inanna, die große Göttin. Sie hatte erst noch so gerne von dem Wasser gesprochen, wurde nun aber allmählich immer unwilliger, diese Reden fortzusetzen. Sollte sie selbst hingehen und trinken, um es ihnen zu zeigen? Reden genügt nicht, du musst es ihnen zeigen, hatten so viele Coaches ihr immer wieder gesagt. Also versuchte sie das nun. Als sie sich aber zum Wasser hinunterbeugte, um ihnen das Trinken zu zeigen, sorgten sich die Menschen um ihren Nacken, der sich dabei verspannen könnte, denn viele von ihnen waren in den Körpertherapien bewandert. Außerdem könnte man hineinfallen, fürchteten sie, deshalb riefen sie vorsorglich die Ambulanz. Keiner wollte es ihr nachmachen. Es selbst zu tun erschien ihnen dann doch zu gefährlich.
Die Portitionierung
Daraufhin besorgte Adam sich Flaschen, die er mit diesem köstlichen Wasser befüllen konnte. Ein paar hundert davon, das müsste reichen. Jede konnte einen Liter Wasser fassen. Und er besorgte sich Etiketten, auf denen stand »köstliches Wasser«. Das müsste genügen, um die Menschen zu überzeugen, dachte er. Hundert dieser Flaschen stellte er bei seiner nächsten Rede auf, aber trotz seiner großen Beredtheit griffen nur vier der Zuhörer zu den Flaschen. Sie nahmen sie mit nach Hause und tranken in kleinen Schlucken davon, so kostbar war dieses Wasser für sie; es sollte ja noch lange reichen, wer weiß, wann sie wieder welches bekämen. Vier von hundert? Adam war enttäuscht.
Der Verkauf gelingt
Als nächstes probierte er es mit einem noch ausgefeilteren Trick. Wieder besorgte er sich Etiketten, auf denen aber stand diesmal »Wasser zum Sonderpreis von 1 €! Nur heute, und nur für die Kunden des besten Wasserverkäufers der Welt!« Kaum hatte er den Tisch aufgebaut und die Hörer seiner Rede sich versammelt, standen sie Schlange vor seinem Tisch und wollten das Wasser kaufen. Noch ehe er mit seiner Rede geendet hatte, waren alle Flaschen verkauft. Das setzte sich so bei den weiteren Veranstaltungen fort, so dass er nun kaum mehr dazu kam, seine Rede zu halten, denn nun brauchte er eine Kasse und Wechselgeld, und die Leute wollten wissen, wann der Stand wieder offen sei, wann es Nachschub gäbe, und ob sie bei Abnahme von fünf oder zehn Flaschen einen Rabatt bekämen. Das Geschäft war eröffnet, und es lief gut. Immerhin tranken die Leute nun Wasser, doch Adam war enttäuscht. Wegen des Geschäftes hatte er nun nicht mehr so viel Zeit, das Wasser zu loben, kaum dass er selbst zum Trinken kam, und an einem Ort tief in seiner Brust fühlte er sich mit seiner Idee verraten.
Die wenige Zeit, die ihm noch neben dem Wassergeschäft blieb, saß er zuhause mit Lilith und träumte von einer Welt, in der jeder von allein zum Fluss gehen und Wasser trinken würde. Von einer Welt, in der nicht nur dieses ganze Wassergeschäft überflüssig wäre, sondern sogar alle Lobesreden über das Wasser, weil einfach jeder Durstige das Rauschen des Flusses hörte und dann von selbst hinginge, um auszuprobieren, ob es trinkbar ist.
Das spirituelle Geschäft
Wer auch immer sich mit Tiefenspiritualität befasst hat – manche nennen es »Mystik« –, weiß, wovon ich hier spreche. Ich bin ja nicht der Wasserverkäufer, und ihr seid die Durstigen, so einfach ist es nicht. Wir alle sind durstig, und wir alle können zum Fluss gehen und Wasser trinken. Und diejenigen unter uns, die sich ein bisschen eingehender mit dem Durst und dem Wasser beschäftigen, kommen früher oder später darauf, dass es nicht so leicht ist, vom Wasser zu sprechen und von seiner Trinkbarkeit, geschweige denn andere dazu zu bringen, selbst davon zu trinken. Dann entsteht das spirituelle Geschäft. Wer etwas gegen Geschäftemacherei mit dem für alle zugänglichen Wasser hat, schweigt daraufhin – und leidet, weil nur so wenige zum Trinken an den Fluss gehen. Die anderen mühen sich damit ab, die Flaschen zu befüllen und zeitgemäße, attraktive Etiketten zu entwerfen, damit das Wasser auch gekauft wird. Manche von ihnen vergessen bei dieser doch recht anspruchsvollen Geschäftemacherei selber das Trinken – und sogar das Wesentliche: dass nach wie vor jeder allein zum Fluss gehen kann und dort seinen Durst stillen kann.
Der Preis
Wie soll man ein Magazin vermarkten, das von der Köstlichkeit des Wassers spricht und davon, dass es für jeden frei verfügbar ist? Würde ich diese Zeitschrift verschenken, hätte ich zwei Probleme. Das eine: Wer bezahlt die Herstellungskosten und darunter auch die Lebenshaltung die Menschen, die es erstellen? Das zweite: Die Zeitschrift würde nicht beachtet. Die weitaus meisten spirituellen Zeitschriften werden verschenkt, sie finanzieren sich über Anzeigen. Auch dort stehen inmitten der Anzeigen oft gute Texte über die Köstlichkeit des Wassers, aber sie werden ein bisschen weniger ernst genommen, weil es doch »nur Anzeigenblätter« sind, die spirituelle Angebote vermarkten. Ist 9 € teuer genug für eine Zeitschrift, die im Wesentlichen nur von der Köstlichkeit und Erreichbarkeit des Wassers spricht?
Alles ist erlaubt
Jesus hat in Gleichnissen gesprochen. Das Daodejing spricht in vielfältig schillernden Begriffen. Manche schweigen: Meher Baba, die Vipassana-Lehrer, viele Zenmeister. Ach, Wittgenstein, du hattest wohl doch recht. Aber darf man dann nicht wenigstens gegen diejenigen wettern, die falsche Botschaften verbreiten, die nur Ersatz anbieten statt des Echten? Die uns damit zustopfen und glauben machen, wir hätten und wüssten es schon? Ja, man darf wettern, ebenso wie Verkäufer der Ersatzmittel diese anbieten und verkaufen dürfen. Schaut euch die Wirtschaftsstatistiken an: Ich glaube sogar, dass die Flaschen sich noch besser verkaufen, wenn sie nicht »köstliches Wasser« enthalten, sondern Zuckerwasser, mit Etiketten wie Coca-Cola sie verwendet und Werbeslogans, die darauf hinweisen, dass man hier nicht getäuscht wird: »It’s the real thing« (Coca Cola Werbeslogan 1969), »Life tastes good« (2001) oder einfach »Real« (2003) oder »Make it real« (2005).
Blasphemie
Mein eigener Groll gegen das Unechte und dessen Erfolge auf dem Markt lässt mich nun auch verstehen, warum es im alten Testament heißt »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz führen« oder du dürfest diesen Namen nicht einmal nennen, oder er hieße nur »Ich bin, der ich bin«. Und warum es religiöse Richtungen gibt, die trotz all der doch angeblich von Gott selbst geschaffenen Fülle und Schönheit der Dinge der Welt sich gegen Idolatrie wenden, gegen Bilderverehrung. Für sie lässt sich Gott, das Ganze, das Tao, die Wahrheit hinter den Dingen nicht durch einen Gegenstand darstellen – ebensowenig übrigens durch ein Wort, meine ich, und das meint auch das Daodejing, so dass es dementsprechend auch kein Gotteswort geben kann. Dieses Bedürfnis nach dem Schutz des Kostbaren, Ganzen, Unsagbaren, Heiligen steht hinter den diversen »Blasphemie«-Gesetzen, diesen schrecklichen Verboten einer Gotteslästerung, von denen manche sogar die Tötung der Delinquenten verlangen – was meist Menschen waren, die dem Tao, Gott, der Wahrheit näher waren als ihre Richter, weil sie von allein, ohne Anleitung und ohne priesterlichen Segen zum Fluss gegangen waren und dort Wasser getrunken hatten.
Heiliger Geist
Nein, kein Verbot von Unsinn, Irrtum und Lästerung sollte es geben, alles muss erlaubt sein, alles außer Gewalt. Ich bin Fundamentalist nur in einer Hinsicht: was den Humor betrifft (und während ich dies sage, fühle ich mich dabei schon lächerlich.) Man muss über alles lästern dürfen: über den Markt und jedwede Anbetung und Vergötterung von Diesseitigem und Jenseitigem. Man muss es nicht tun, oft kreiert man damit doch nur unnötige Konflikte, weil man Menschen in ihrem Heimatgefühl verletzt, aber es muss grundsätzlich erlaubt sein. Geist verlangt diese Freiheit, um sich bewegen und entwickeln zu können, auch der Heilige Geist, gerade der. Denn Geist ist die Freiheit, jeden Standpunkt einnehmen zu können, und die Radikalität in der Ausübung dieser Freiheit sollte uns heilig sein, weil sie alles transzendiert. Mit dem »Heiligen Geist« kann kein Gespenst aus einer anderen Welt gemeint sein, das wäre dann doch nur wieder ein mythischer Vogel zum Abschießen, will sagen: fürs weitere Transzendieren. Wenn man schon aus »Geist« noch etwas Heiliges herausholen und extra stellen will, dann die Radikalität und Grenzenlosigkeit in der Anwendung dieser Freiheit.
Heiliger Zorn
Ich werde deshalb weiterhin ab und zu gegen das Begaffen von Fetischen und Erleuchtungswegen ablästern, woraufhin mir dann sicherlich wieder bescheinigt wird »ein Ding damit« zu haben; meist wird mir netterweise auch noch irgendeine Therapie empfohlen, damit ich das »loslassen« und entspannen könne. Möge jeder selbst entscheiden, ob mein Zorn ein heiliger ist, wie man ihn dem mythischen-historischen Jesus andichtet, der die Händler aus dem Tempel vertrieben haben soll, oder ein zu bedauernder und zu therapierender.
Ich habe auch nicht grundsätzlich etwas gegen Pseudogurus, Rattenfänger und Scharlatane. (Die letztern sind mir sogar besonders nah ans Herz gewachsen, habe ich doch für sie neulich eine »Mysterienschule der Scharlatane« gegründet.) Sie bereichern die Szene, sie sind ein Zeichen von Vielfalt, sie bringen bunte Farben in eine Gesellschaft, die sonst vielleicht nur aus Gut- und Schlechtmenschen bestünde. Heuchelei schadet dem, der heuchelt, letztlich mehr als seinen Opfern, die ihm auf den Leim gehen. Geschäftemacherei ist nicht grundsätzlich schlecht; das Funktionieren der Wirtschaft ist nach wie vor die wichtigste Voraussetzung für unser materielles Wohlbefinden, und Märkte können so viel Gutes leisten, sie bieten Wettbewerb, Vergleichsmöglichkeiten, Alternativen. Schon immer bin ich gerne auf arabische Suqs und türkische, persische, indische Bazare gegangen, allein schon die Vielfalt der dortigen Düfte und Farben lohnt; und auch Ebay ist gelinde gesagt erstaunlich.
Wenn wir bei all der Angebotshascherei aber vergessen, dass wir Luft atmen können und das auch dürfen, ohne Genehmigung und ohne Gebrauchsanleitung; dass Wasser trinkbar und zumindest in Bergbächen noch sauber ist und dort auch nichts kostet; wenn wir vergessen, dass wir Sonnenuntergänge am Meer – noch – ohne Eintritt zu bezahlen ansehen dürfen, und dass wir lieben dürfen – und das vielleicht sogar auch können – ohne Schulabschluss, dann ist etwas faul an unserer Religiosität und Lebensphilosophie. Dafür möchte ich werben – ich als durchaus ermüdlicher Wasserverkäufer am Lebensfluss und Prediger des Selbstverständlichen.
Der Finger und der Mond
»Lesen ist leben« ist der Slogan des Herder-Verlages, der seit vielen Jahren unzählige spirituelle Bücher herausgibt und die geistige Heimat von Anselm Grün ist und von vielen weiteren großen Autoren. Jedes Jahr wieder komme ich auf der Frankfurter Buchmesse am Eingang zur Halle 3.1. am Herder-Stand vorbei und wundere mich. Wie kann das der Slogan eines spirituellen Verlages sein? Starre nicht den Finger an, der auf den Mond zeigt, heißt es im Zen. Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben, ist ein Grundsatz der Bildung. Wenn schon das Lesen übers Leben für Lebendigkeit gehalten wird, dann sind wir doch noch in Platons Reich der Schatten an der Höhlenwand. Nein, das Lesen ist nur eine kleine, sehr besondere Variante des Lebens, eine Variante, die zu Wissen führen kann – wenn denn die Texte gut sind und wahrhaftig. Das Lesen, Schreiben oder Nachdenken über das Leben sollte aber nicht mit dem Leben verwechselt werden, der Finger nicht mit dem Mond. Und eine schöne Rede über das Wasser im Fluss sollte nicht mit dem Genuss des Wassers selbst verwechselt werden. Nur das Trinken löscht den Durst, nicht das Zuhören. Also, vergesst bitte diesen Text, geht trinken!
Wolf Schneider, Jg. 1952. Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwissenschaften und Philosophie (1971-75) in München. 1975-77 in Asien. 1985 Gründung der Zeitschrift connection. Seit 2007 Theaterspiel & Kabarett. Kontakt: schneider@connection.de, www.connection.de