DER WILDERER GEORG JENNERWEIN, DIE NAZIS & WIR
Prinz Chaos II. berichtet über eine unheimliche Begegnung auf einer bayerischen Berghütte und macht sich in diesem Zusammenhang Gedanken darüber, warum die Linken bei uns so wenig Zulauf haben. Dabei würden linke Themen auf den Nägeln brennen. Vielleicht liegt es auch der „Kultur“ des Umgangs miteinander.
Mein Bruder war mit seiner Freundin vorgestern auf der Bodenschneid. Die Bodenschneid im Mangfallgebirge ist ein zentraler Ort meiner Kindheit. Denn das Bodenschneidhaus ist die Hütte jener Sektion des Deutschen Alpenvereins, in die mich mein Vater am Tage meiner Geburt als Mitglied einzutragen für unverzichtbar gehalten hat: der Mann wusste wahrlich Prioritäten zu setzen.
Diese Sektion gehört zu den mitgliederstärksten des DAV. Die Bodenschneid selbst, auf der das Bodenschneidhaus liegt, ist ein langgezogener Bergrücken von 1668 Meter Höhe mit fantastischer Aussicht. Denn sie erhebt sich über den Schliersee, den Tegernsee und den Spitzingsee. Der berühmte Peißenberg mit seiner vielbesuchten Gedenktafel an jener Stelle, wo der bis heute als Volksheld verehrte Wilderer Georg Jennerwein im November 1877 von Königlich-Bayerischen Forstbeamten rücklings erschossen wurde, ist ein Bergkamm der Bodenschneid. Das Gipfelkreuz (mit Buch!) auf der Bodenschneid ist eines der größten Gipfelkreuze in den gesamten bayerischen Alpen. Und nicht alle haben ein Gipfelbuch.
Ich will damit sagen: wenn man das Bodenschneidhaus betreibt, kann man an sich nicht viel falsch machen, aber siehe da – es geht eben doch. Als mein Bruder ankam, stornierte gerade eine ganze Gruppe Bergsteiger ihre Buchung und begründete das wütend mit der mangelnden Gastfreundschaft des Betreibers. Mein Bruder konnte die Anwürfe der Gruppe dann im Nachhinein lebhaft bestätigen.
Überraschend ist nun allerdings die Erklärung des Wirts. Er führt die Tatsache, dass die Geschäfte auf der Bodenschneid schlecht gehen, nämlich darauf zurück, dass “die Leut heutigentags nimmer zum Bergsteigen geh’n”.
Es ist faszinierend. Niemand außer ihm wäre vermutlich auf diese so naheliegende Begründung gekommen. Schon, weil sie offensichtlich kompletter Blödsinn ist. Der Alpentourismus boomt wie deppert und man könnte berechtigt kritisieren, dass heutige “Bergsportler” einen Berg als Trainingsgerät missverstehen und in ihrer sportiven Hektik jede Verbindung mit der Heiligkeit eines solchen Naturphänomens weiträumig verpassen. Aber auf die Idee, dass “die Leut heutigentags nimmer zum Bergsteigen geh’n” kann wirklich nur ein restlos Irrsinniger verfallen (wenngleich ihm die schöne Vokabel “heutigentags” gut geschrieben sei).
Als mir mein Bruder übrigens diese traurige Geschichte von den Zuständen auf unserer alten, geliebten Bodenschneid erzählte, fiel mir aber auch wirklich sofort die deutsche Linke ein. Denn auch sie unterhält ganz ausgefallene Erklärungen für die Tatsache, dass neue Gäste ausbleiben. Erklärungen, auf die außerhalb der deutschen Linken kaum einer so ohne weiteres käme, etwa:
die Leut sind nimmer so kritisch wie früher!
die Leut glauben alles, was ihnen erzählt wird
den Leuten geht’s einfach viel zu gut
wehren wollen sich die Leute sowieso nimmer
Alle diese Beobachtungen kann so nur tätigen, wer missmutig und gastfeindlich auf seiner Berghütte hockt und keine Ahnung von den wirklichen Prozessen weiter unten in der Welt hat. Alle anderen sind sich einig, dass die Leute so kritisch sind wie lange nicht mehr, dass die Leute fast gar nix mehr glauben, was ihnen erzählt wird, dass es den Leuten nicht zu gut geht, sondern immer schlechter, dass die Leute zunehmend sauer sind, dass es einen Aufschwung von Kämpfen unterschiedlichster Art gibt und dass der Wunsch nach Widerstand weitverbreitet ist.
Aber während die Nazis ein gutes Frühstück anbieten und schöne Bergführungen, in denen sie dann so nebenhin daherlügen, der Wilderer Georg Jennerwein sei 1877 gar nicht von Königlich-Bayerischen Forstbeamten hinterrücks erschossen worden, sondern von einem Flüchtling aus dem Westbalkan – währenddessen wähnt sich die deutsche Linke weiterhin tief unten im Jammertal – dabei hätte sie die schönste Aussicht!
Das Thema “Willkommenskultur” könnte für diesen Zweck allerdings sowohl den Betreiber der Bodenschneid als auch die Linke in Deutschland ruhig etwas umfassender beschäftigen.
Und hinschauen müsste man halt schon, wenn man etwas sehen will von der schönen Landschaft.
Dermalen genauso wie heutigentags.