Die Glaubensdiktatur

 In FEATURED, Politik

Großinquisitor Kardinal Guevara, Gemälde: El Greco

Autoritärer Irrationalismus erobert die Politik. Der Drang, Fragen zu stellen und kausale Beziehungen zu verstehen, gehört zur natürlichen Neigung jedes Menschen, dessen Neugier und Wahrheitstreue nicht korrumpiert wurden. Die wissenschaftliche Methode – als bewährtes Mittel der Erkenntnisse – steht heute unter Beschuss. (Elias Davidsson)

Dieser Beitrag befasst sich also nicht mit Fake News, Euphemismen oder mit der Orwellschen Sprache. Diese Mittel, so verwerflich sie sind, unterminieren nicht die wissenschaftliche Methode. Die Korruption der wissenschaftlichen Methode liegt anderswo und wird selten wahrgenommen.

Ein Beispiel soll diese Aussage belegen. Es handelt sich um eine Aussage des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die belegt, wie unverfroren der Sicherheitsrat die Faktenlage missachtet.

Mehrfach deklarierte der Sicherheitsrat, dass „internationaler Terrorismus eine der ernsthaftesten Bedrohungen des [Welt-]Friedens und der Sicherheit” sei. Der Sicherheitsrat stellte damit eine vermeintliche Kausalität zwischen dem „internationalen Terrorismus” (wie immer dieser Begriff verstanden wird) und dem Weltfrieden und der Sicherheit (wie immer diese Begriffe verstanden werden) als nachgewiesene Tatsache dar. Wir können vorerst die genaue Bedeutung der einzelnen Begriffe offen lassen.

Zunächst nehmen wir einfach zur Kenntnis, dass der Sicherheitsrat eine faktische Feststellung gemacht, die er als eine offenkundig nachgewiesene Tatsache geäußert hat. Das hat er ohne jeglichen Vorbehalt und ohne Hinweise auf Belege sowie mehrfach gemacht (1). (siehe auch Anhang). Fragen dazu seitens der Mitgliedstaaten gab es nicht.

Aufgrund dieser Behauptung verordnete der Sicherheitsrat allen Staaten, in ihrem eigenen Bereich gesetzliche Maßnahmen gegen die beschworene Bedrohung des internationalen Terrorismus vorzunehmen. Diese gesetzlichen Maßnahmen schwächen die Rechtssicherheit der Bewohner und ermöglichen den Aufbau eines Überwachungsstaates. Die Behauptung des Sicherheitsrats hat also erhebliche und schädliche Folgen.

Der Sicherheitsrat ignorierte durch sein Vorgehen die wissenschaftliche Methode, das heißt, Schlüsse und politischen Maßnahmen auf Fakten zu begründen. Stattdessen einigte er sich auf diese Formulierung, um bestimmte politische Ziele zu verfolgen. Das ist zwar nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die Obrigkeit Fakten dekretiert: Die Kirche und Könige nutzen seit jeher völlig unbegründete Behauptungen, um ihre Macht zu stärken.

Beim UN-Sicherheitsrat haben wir trotzdem eine neue Entwicklung. Denn alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen übernahmen diese Erklärung als bare Münze und zwar nicht bloß rhetorisch, sondern durch die Verabschiedung gesetzlicher Maßnahmen. Aus einer politisch motivierten Behauptung wurde ein Glaubenssatz an die Unfehlbarkeit und Aufrichtigkeit des Sicherheitsrats.

Wenn die politische und intellektuelle Elite einer Nation selbst nicht mehr gewillt ist, zwischen Autoritätsglauben und empirisch begründeten Tatsachen zu unterscheiden, wird diese Elite zur Gefahr für die Gesellschaft, weil sie dem Irrationalismus verfallen ist.

Es gibt im Grunde kaum einen Unterschied zwischen dem Glauben an die Unfehlbarkeit und Aufrichtigkeit einer menschlichen oder einer göttlichen Autorität. Wenn die Entscheidungen einer Elite auf Glaubenssätzen beruhen, werden sie unberechenbar. Jeder sollte sich daher davor hüten, diese Irrationalität zu verharmlosen, denn der irrationale Machthaber, der über Nuklearwaffen verfügt, gefährdet die menschliche Spezies.

Die Annahme, dass diese Elite ihre angebliche Irrationalität nur vorspielt, um uns alle zu täuschen, würde bedeuten, dass alle Staaten, Medien, Politiker und Professoren sich zu einer Täuschungskampagne der Öffentlichkeit verschworen hätten, was kaum nachvollziehbar ist.

Viel wahrscheinlicher erscheint mir, dass die Behauptung des Sicherheitsrats tatsächlich ein Glaubenssatz geworden ist, dass seine Behauptung als begründet wahrgenommen wird. Die Heftigkeit, mit der dieser Glaubenssatz verteidigt wird, zeigt, wie tief er verwurzelt ist. Wer diesen Glaubenssatz auch mit den besten Argumenten in Zweifel zieht, trifft nur auf Unverständnis oder wird als Verschwörungstheoretiker abgewertet. So agieren Menschen, deren tiefster Glauben in Frage gestellt wird.

Haben wir es aber mit einem allgemeinen Phänomen zu tun, oder beschränkt sich diese irrationale Haltung auf besondere Themen wie 9/11 und Terrorismus?

Es scheint mir, dass sich diese Entwicklung schleichend auf andere Themenbereiche ausbreitet. Das sehen wir aktuell in der Bundesrepublik bezüglich der Themen Israel und Russland. Wo einst immer noch Fakten zur Kenntnis genommen wurden, spielen diese mittlerweile eine immer kleinere Rolle bei der Konzipierung politischer Richtlinien und in der medialen Berichterstattung.

Versuche, Fakten als Basis für eine vernünftige Politik gegenüber Israel oder Russland zu nehmen, treffen auf heftige, gefühlsbeladene Reaktionen bis zur offensichtlichen Zensur – eine Abwehr gegen Fakten. So ersetzen Glaubensbekenntnisse die sachliche Begründung.

Die Abneigung dagegen, Schlussfolgerungen aus nachweisbaren Fakten abzuleiten, sickert von oben nach unten. Sie verbreitet sich in den letzten Jahren nicht nur in einigen Bereichen der Geisteswissenschaften. Die Neigung von Wissenschaftlern Autoritätsargumente vorzubringen, das heißt, sich ohne Vorbehalt auf Feststellungen von Politikern oder von selbst erklärten Experten zu verlassen, unterminiert das öffentliche Vertrauen in die Integrität der wissenschaftlichen Zunft und gefährdet letztendlich die Sicherheit der Menschen, die auf die Expertise von Wissenschaftlern in der Technik und im Gesundheitswesen angewiesen sind.

Menschen, die sich uneigennützig um eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft bemühen, sollten die hier beschriebene Entwicklung als Warnung begreifen. Der Korruption des politischen Diskurses und der politischen Praxis durch irrationale Glaubensbekenntnisse muss Einhalt geboten werden.

Die wissenschaftliche Methode, die darauf beruht, Theorien und Modelle auf nachprüfbaren Tatsachen aufzubauen, muss wieder als Maßstab zur Bewertung von politischen Behauptungen, Medienberichten und akademischen Schriften gelten. Akteure des öffentlichen Lebens und Experten, die diesen Maßstab nicht respektieren, sollten von ihren Ämtern entfernt werden.

Hier kommt Freidenkern in der Gesellschaft eine dringende zivilisatorische Aufgabe zu.

Anhang

Als Beispiel für die Korruption der Rationalität möchte ich die bereits angeführte Behauptung des Sicherheitsrats näher betrachten. Hier zur Erinnerung:

Der „internationaler Terrorismus stellt eine der ernsthaftesten Bedrohungen des [Welt-]Friedens und der Sicherheit” dar.

Man kann wohl davon auszugehen, dass die Mitglieder des Sicherheitsrats intelligente, gebildete Menschen sind. Darüber hinaus können sie sich auf ein Expertenteam in New York und auf hochkarätige Beamte in ihren eigenen Staaten verlassen. Ihre Beschlüsse basieren deshalb nicht auf persönlichen Wünschen. Sie sind, so kann man erwarten, das Resultat von Abwägung und Reflexion.

Die angeführte Behauptung – die der Sicherheitsrat regelmäßig wiederholt – reflektiert daher einen politischen Willen. Ob die Adressaten dieser Botschaft an die Wahrheit dieser Behauptung glauben oder nicht, spielt dabei keine Rolle, denn auch wenn sie selbst nicht an den Wahrheitsgehalt dieser Aussage glauben, nehmen sie die weltweite Akzeptanz dieser Behauptung im Kauf.

Oder irre ich mich? Stimmt die viel zitierte Behauptung des Sicherheitsrats vielleicht doch? Die Frage ist berechtigt. Als Empiriker habe ich daher diese Behauptung mit der Realität verglichen und mir selbst folgende Fragen gestellt:

(a) Wie umfangreich sind die Folgen des sogenannten internationalen Terrorismus? Ein bewährter Maßstab dazu wäre zum Beispiel die Zahl der Todesopfer durch Terrorismus.

(b) Unter welchen Umständen kann Terrorismus den Weltfrieden und die Sicherheit tatsächlich bedrohen? Ein bewährter Maßstab dafür wären beispielsweise Belege, dass terroristische Taten zu zwischenstaatlichen Konflikten geführt haben.

Als erster Schritt schrieb ich dem Sicherheitsrat und bat um die empirischen Daten zur Begründung der zitierten Erklärung, insbesondere um eine Statistik über die Anzahl der Todesopfer des internationalen Terrorismus, möglichst gegliedert nach Jahren und Regionen. Ich erhielt zwar eine Antwort vom Sekretariat des Sicherheitsrats, aber diese war höchst seltsam: Der Rat besitze keine solche Zahlen. Der internationale Terrorismus gefährde zwar den Weltfrieden, behauptet der Sicherheitsrat, aber das könne er leider nicht belegen. Alice im Wunderland lässt grüßen.

Es muss ergänzt werden, dass der Sicherheitsrat eine besondere Anti-Terror-Kommission einrichtete, die befugt ist, Staaten zwingend Richtlinien zur Bekämpfung des Terrorismus zu verordnen.

Ich begnügte mich nicht mit der Antwort, sondern ermittelte anschließend selbst die nötigen Daten für eine Statistik über die tödlichen Folgen des internationalen Terrorismus. Tatsächlich gibt es eine relativ verlässliche Datenbank in den USA, die Einzelheiten über jede terroristische Tat weltweit (das heißt, über Taten, die als terroristisch eingestuft werden) sammelt (2). Die Ergebnisse meiner Recherche deckten sich einigermaßen mit der Statistik über den weltweiten Terrorismus, die das US-amerikanische Außenministerium jährlich veröffentlich (3).

Diese Ergebnisse zeigen, dass die große Mehrheit der Terroropfer weltweit (etwa 90 Prozent) in muslimischen Ländern sterben, insbesondere im Irak, in Afghanistan, Syrien, Nigeria, Somalia, Jemen und Pakistan. Die aufgeführten Taten werden in der Regel im Kampf gegen ausländische Besatzung oder im Kontext von Bürgerkriegen begangen und haben daher nichts mit einer angeblichen Verwerfung der westlichen Zivilisation zu tun. Diese Anschläge sind für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine Tragödie.

So abscheulich diese Taten auch sind, sie gefährden keineswegs den internationalen Frieden. Weder Irak, Afghanistan, Syrien, Nigeria, Somalia, Jemen noch Pakistan haben anderen Staaten den Krieg erklärt. Die Regierungen dieser Länder stehen selbst unter Beschuss und versuchen einigermaßen die Sicherheit der eigenen Bevölkerung gegen Terroristen zu wahren. Sogar in diesen Staaten gefährden „normale” Verbrechen, Straßenunfälle und Krankheiten die Menschen sehr viel mehr als Terroristen.

Was den „internationalen Terrorismus” außerhalb dieser Krisenregionen angeht, zum Beispiel in Europa oder Nordamerika, so ist das Phänomen des Terrorismus so gering, dass es in Kriminalstatistiken nicht mal als eigenständiger Eintrag angeführt wird.

In Europa – mit seinen ungefähr 500.000.000 Bewohnern – sterben jährlich im Durchschnitt 39 Menschen durch terroristische Anschläge, wobei die Vermutung nicht abgetan werden kann, dass zumindest ein Teil der Terroranschläge von staatlichen Instanzen inszeniert wurde (4). Falls dies der Fall ist, geht die Zahl der tödlichen Terroropfer in Europa gegen null. Für die Bekämpfung dieser fiktiven Gefahr vergeuden NATO-Staaten jährlich Milliarden Dollar. Es ist daher kein Wunder, dass kein Staat eine Statistik über die Zahl der Terroropfer veröffentlicht.

Die Behauptung des Sicherheitsrats ist daher eine vorsätzliche Irreführung der Menschheit. Diese Behauptung hat keinen Bezug zur Realität. Wenn diese Weltinstanz so leichtsinnig mit Fakten umgeht, ist es kein Wunder, dass sich Staaten das ebenso erlauben, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Irrationalität wird damit zur Handlungsnorm erkoren und kann die Gesellschaft ins tiefste Mittelalter zurückbringen, wo Glaubenssätze (der Glaube an Gott und den Teufel) das Leben ordneten.

Übrigens veröffentlichte ich als erster in meinem Buch “Psychologische Kriegsführung und gesellschaftliche Leugnung” eine vollständige Statistik über Todesopfer des Terrorismus in Europa für die Jahre 2001 bis 2016 (4,5). Die Tatsache, dass ein unabhängiger Bürger als erster eine solche Statistik veröffentlichte, sollte jeden Demokraten zum Nachdenken bringen.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) Resolutionen des UN-Sicherheitsrats No. 731 (1992), 1269 (1999), 1377 (2001), 1456 (2003), 1535 (2004), 1566 (2004), 1617 (2005), 1735 (2006), 1787 (2007), 1822 (2008), 1904 (2009), 1963 (2010), 2083 (2012), 2129 (2013), 2133 (2014), 2195 (2014), 2249 (2015), 2319 (2016), 2396 (2017)

(2) Global Terrorism Database (GTD), University of Maryland, USA, https://www.start.umd.edu/gtd

(3) Country Reports on Terrorism, U.S. Department of State, https://www.state.gov/j/ct/rls/crt/

(4) Elias Davidsson, „Psychologische Kriegsführung und gesellschaftliche Leugnung“, Zambon Verlag, 2017, S. 200

(5) Die Zahlen bis zum Jahre 2016 wurden in meinem Buch „Der gelbe Bus“, Zambon Verlag, 2018, S. 346, veröffentlicht.

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

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