Die Globalisierung kommt bei uns an

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"Babylonische Sprachverwirrung" - gar nicht so schlimm, wenn man auf Gesten und Blicke achtet und das Ganze mit Humor nimmt.

„Babylonische Sprachverwirrung“ – gar nicht so schlimm, wenn man auf Gesten und Blicke achtet und das Ganze mit Humor nimmt.

Dieser Artikel ist nicht nur der dritte Teil von Wolf Schneiders Erlebnisbericht über das Leben mit Flüchtlingen unter einem Dach; der Autor spannt auch einen weiten analytischen Bogen. Einem Exkurs über die „Babylonische Sprachverwirrung“ und ihre überraschenden Vorzüge folgen allgemeine Anmerkungen über Globalisierung. Eigentlich war es an der Zeit, dass die Grenzen der globalen Reichen- und Armenghettos aufbrechen, dass sich nach Informations- und Warenströmen nun auch Menschen ströme mischen. (Wolf Schneider, www.connection.de)

Als gäbe es kaum etwas anderes mehr zu berichten, sind die Medien voll mit dem Flüchtlingsthema. Deutschland ist davon extrem betroffen, aber auch für die ausländischen Medien ist es ein Megathema, ob »Merkel es schafft«.

Für mich ist das Leben mit den Flüchtlingen kein »Leben mit Flüchtlingen« mehr, sondern ein Leben mit Maxem, Ray, Abdul, Payam, Roqia, Rahmad, Amir, Zain und den anderen geworden. Dieses Zusammenleben ist nicht so viel anders als mit meinen deutschen Mitmenschen. Wer einem Menschen näher kommt, steht dann vor einem Menschen und nicht mehr vor einem »Flüchtling« oder »Ausländer« – einem Menschen mit diesem oder jenem Bildungshintergrund, Alter und Geschlecht, dieser oder jener Sprachfähigkeit, diesem oder jenem Charakter. Und hinter diesem Menschen, bei Einheimischen ebenso wie bei Ausländern, steht seine Geschichte. Die Geschichte einer Bewegung, einer Flucht oder Ausreise, von mehr oder weniger radikalen Brüchen und Wendepunkten, so ist das bei jedem von uns.

Die Erwartungsfalle

Immer wieder wird gesagt: Als erstes müssen sie Deutsch lernen! Das stimmt, die Sprache ist eine Hürde. Wie immer enthält aber auch hier das Problem eine Chance, man braucht dafür nur ein bisschen die Perspektive zu wechseln.

Bei uns im Haus treffen Menschen mit sehr verschiedenen Herkunftsprachen aufeinander, verschiedenener als etwa Deutsch und Englisch. Aber auch diese Verschiedenheit ist nicht so fundamental anders bei meinem deutschen Mitmenschen, wie das auf Anhieb erscheinen mag. Mit wem verstehe ich mich schon wirklich gut? Das sind immer nur wenige. Jeder Konflkte erzählt eine Geschichte von Missverständnissen, in der Politik ist das ebenso wie im Privaten. Die Begegnung mit fremdsprachigen Menschen aus anderen Kulturen erweckt nicht die Erwartung, dass die Verständigung gleich klappt. Bei der Begegnung mit einem Deutschen hingegen glaubt man, die Verständigung müsse eigentlich klappen. Meistens täuscht man sich dabei. Wer die Möglichkeit von Missverständnissen immer im Auge behält, erfährt in der Kommunikation mit Ausländern weniger Enttäuschungen, weil da die übliche Falle der Erwartung eines Verständnisses sich nicht gar so verführerisch anbietet, dass eine gemeinsame Muttersprache ein gegenseitiges Verstehen zur Folge haben muss.

Körpersprache

Mit den Afghanen und Syrern in unserem Haus verständige ich mich mehr körpersprachlich als verbalsprachlich. Das ist notgedrungen so, aber die Not macht erfinderisch und die pantomimischen Verständigungsversuche führen sehr oft in witzige Situationen; wir lachen dann und haben Freude aneinander. Manchmal führen diese Versuche auch in die Stille. Wenn die Verbalsprachverständigung deutlich genug gescheitert ist und man dann nur in die Augen des anderen sieht, seine Körperbewegungen in sich aufnimmt und dabei still wird, können sehr schöne Situationen entstehen. Mit Worten versuchen wir »einen Draht zueinander zu finden« und wenden uns, wenn das nicht gelingt, meist ab. Doch vielleicht ist der Draht schon da, ehe wir ihn suchen, und die Worte stören dabei nur.

Die Stille, in die man dabei reinrutschen kann, ist es das, worin Taubstumme beheimatet sind? Wir hatten hier im Connectionhaus mal für eine Woche ein paar Taubstimme als Mitbewohner. Einer von ihnen konnte als Erwachsener durch einen medizinischen Eingriff plötzlich wieder hören, wollte dann aber wieder zurück in die Welt der Stille, sich bewegender Körper und visuellen Zeichen. Aus der Welt der Worte fliehen zu wollen, dieses Gefühl kenne ich gut. Rilke hat dem 1898 in Berlin-Wilmersdorf in einem Wort-Gedicht – wer hätte einen schweigenden Rilke schon verstanden – Ausdruck gegeben:

Killerworte

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Verstehen und Verstandenwerden

Wenn aus einem Mund mir gegenüber Sprachlaute purzeln, habe ich meist das Bedürfnis zu verstehen, was sie bedeuten. Wenn das nicht möglich ist, kommt manchmal in mir der Wunsch auf, nur die Melodie dieser Sprache in mich aufzunehmen. Lustig kann es werden, wenn ich dann die Laute des Gegenüber imitiere (auf einem Frachtschiff mit lauter Koreanern habe ich das mal gemacht), ohne das geringste Verständnis. Dann das Gesicht des Gegenüber beobachten: Ist da Freude? Irritation? Ganze Geschichten spielen sich in diesem Gesicht ab.

Mein Bedürfnis selbst verstanden zu werden, ist viel geringer. Ausnahme: Ich will was erreichen. Zum Beispiel, wenn ich erreichen will, dass meine neuen Mitbewohner den Müll korrekt trennen, dann schicke ich Stoßgebete zum Himmel, dass sie mich doch bitte verstehen mögen. Je mehr ich dabei unter zeitlichem oder Leistungs-Druck stehe, umso stärker ist mein Drang, verstanden zu werden.

Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, was für mich das größte Glück ist, und immer wieder führt mich das zum Wunsch zu verstehen und verstanden zu werden. Würde die Märchenfee mir nur eine Wunscherfüllung gewähren, stünde wahrscheinlich das bei mir ganz oben. Und eher das Verstehen als das Verstandenwerden.

In meiner aktuellen Situation der existenziellen Neugründung kann ich meiner Lust, fremde Menschen und ihre Sprachen zu verstehen nur eingeschränkt nachgehen. Doch der Reiz ist da, und ich gönne mir dann und wann hier ein bisschen Arabisch und dort ein bisschen Persisch zu lernen, so wie andere sich vielleicht hier und da einen Cognac gönnen.

Das Feld

Die folgende wahre Geschichte hat mir ein befreundeter Wissenschaftler vor ein paar Tagen erzählt. Einer seiner Studenten, ein warmherziger, intelligenter Perser, nennen wir ihn Ali, war schon viele Jahre in Deutschland und sprach perfekt Deutsch. Auf den ersten Blick ein voll integrierter Deutscher, von seiner körperlichen Erscheinung und Sprache her war er kaum als fremdstämmig zu erkennen. Ali verliebte sich in eine deutsche Mitstudentin, das Feuer entflammte auf beiden Seiten, sie heirateten, und nach Abschluss des Studiums wollte sie ihm in sein Heimatland folgen. Den Umzug nutzten sie zur Überführung eines Fahrzeugs, das sie im neuen Land würden gut verwenden oder günstig verkaufen können.

Die Reise verlief gut. Sie waren in einer kleinen Gruppe von Deutschen, die sich gut kannte und miteinander Deutsch sprach. Abends in einer Stadt im Osten der Türkei angekommen, bot sich ein Hotel als Unterkunft an. Ali wollte noch im Teehaus mit seinen Mitreisenden einen Tee trinken und bat seine Frau, doch eben die Koffer ins Hotel raufzutragen, die Männer würden dann nebenan noch was trinken gehen. Waaaaas? Bei so viel mitreisenden Männern sollte sie die Koffer hoch tragen? Da war er aber an die Falsche geraten. Es gab heftigen Streit, und Ali musste die Koffer selbst rauftragen. In Deutschland wäre er nicht auf die Idee gekommen, seine Frau die schweren Koffer tragen zu lassen. In dem Maße aber, wie die Reisegesellschaft sich in Anatolien ostwärts bewegt hatte, war er, ohne dass ihm das bewusst geworden wäre, in ein anderes kulturelles Feld geraten. Dort benimmt man sich eben so: Frauen tragen die Sachen, und der Mann geht mit seinen männlichen Freunden ins Teehaus. Zurück in Deutschland war Ali wieder ein Deutscher. In Persien aber schmiegte er sich den dortigen Gepflogenheiten an, und seine Frau floh nach ein paar Jahren aus der Ehe.

Die Globalisierung kommt im Menschlichen an
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Viele Jahre lange haben das Nordamerika jenseits des Rio Grande (USA und Kanada) ebenso wie das sich nach Osten erweiternde Europa in einer Art Ghetto der Reichen gelebt und die von Süden her anbrandenden Migrantenströme großenteils abhalten können. Seit dem arabischen Frühling und den teils daraus resultierenden Bürgerkriegen in Nahost hält die Barriere im Süden und Südosten Europas nicht mehr Stand. Die Globalisierung, die sich bisher vor allem im freien Warenverkehr gezeigt hatte, kommt nun auch menschlich bei uns an. Jahrhunderte lang hatten die Kolonialreiche die Trennung zwischen armen und reichen Ländern aufrecht erhalten können, ebenso wie die Trennung zwischen arm und reich in den eigenen Ländern. Die Auflösung der Kolonialreiche im 20. Jahrhundert hat diese Klüfte nicht beseitigt. Die ehemaligen Kolonien werden seitdem durch einheimischen Eliten beherrscht und ausgebeutet; außerdem weiterhin durch die Global Player, denen es egal war, ob dort einheimische oder fremde Eliten herrschten, so lange sie nur von dort wie bisher die Rohstoffe abtransportieren konnten.
Das Internet als Auslöser

Nun brechen die Dämme vor den kontinentalen Ghettos der Reichen. Der Grund für den Dammbruch bei uns sind nicht nur die Kriege und Bürgerkriege im arabischen Raum, sondern auch die weltweite Zugänglichkeit zu Informationen durch TV, Telefon und Internet. Auf den Philippinen bekommt man übers Smartphon den Reichtum am persischen Gold mit und in Eritrea, dass es in Deutschland Jobs gibt und neuerdings eine »Willkommenskultur«, während die Hollywood-Filme suggerieren, dass der durchschnittliche Westler ein schickes Auto fährt, viel Freizeit hat, sich Hotelübernachtungen leisten kann und teure Restaurantbesuche. Die Pornografie im Internet fügt dem Sex-Appeal des Reichtums noch den Sex-Appeal der durch keine Moral eingeschränkten körperlichen Begegnung hinzu. Kein Wunder, dass man aus der eisenhaltigen Luft in einem Vorort von Kabul mit zerbomten Häusern und verhüllten Frauen lieber dorthin will, in diese wunderbaren westlichen Länder, über die man durch Internet und TV doch schon so viel erfahren hat!

Medienkompetenz gibt es in Deutschland kaum, in Afrika, Nahost und Südasien noch weniger. Auch bei uns wird ja das, was im Internet steht, viel zu oft für die Wahrheit gehalten – solange dem nicht andere Wahrheiten (aus dem Internet) widersprechen. Und wenn dann eine Wahrheit gegen die andere antritt, ist man verwirrt und beschimpft lieber die Lügenpresse als die eigene Verführbarkeit. Der High-Tech-Status des Internets mit den zu ihm Zugang verschaffenden, mobilen Kleincomputern, die inzwischen außer Rückenmassage fast alles können, suggeriert offenbar, dass das, was dort an Information verfügbar ist, eben so hoch entwickelt und mächtig sein muss, wie die Technik dieser Geräte.

Globalisierung gibt es seit Jahrtausenden

Wenn man den Auszug des Menschen aus Afrika vor etwa 60.000 Jahren nicht mit dazu rechnen will, geschah eine erste Globalisierung vielleicht seit der Antike durch Handelswege wie die Seidenstraße und den Seehandel entlang der Küsten des indischen Ozeans. Dann fuhr Kolumbus über den Atlantik, Vasco da Gama um Afrika herum, und die Europäer unterjochten sich aufgrund ihrer erst vor allem militärischen, dann wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und allgemein technischen Überlegenheit, die zur industriellen Revolution führte, den Rest der Welt. Die heutigen Migrantenströme sind eine späte Folge der diversen Globalisierungsbewegungen der vergangenen fünf Jahrhunderte. Die meisten der Leser dieses Blogs haben schon als Touristen einige arme Länder bereist, wo sie für ihre DM oder € viel Gegenwert bekamen, manchmal so viel, dass ein Tag Arbeit in Deutschland einem dortigen Monatslohn entsprach. Solche Höhenunterschade lassen sich in einem eng vernetzten globalen Dorf nicht lange halten.

Historische Bewegungen

Das Gefühl, dass die Migrantenströme aus menschlichen und wirtschaftlichen Gründen eigentlich überfällig waren, begleitet mein Zusammenleben mit den Afghanen und Syrern hier im Haus. Vor vierzig Jahren war ich als vergleichsweise reicher Deutscher (Tramper) in diesen Ländern unterwegs. Heute ist der Unterschied zwischen uns und den Syrern nicht mehr so groß wie die zwischen uns und den Afghanen, und die Tatsache, dass beide Unterschiede erodieren, macht mir keine Angst, sondern ich empfinde diese Erosion als natürlichen Vorgang, der uns verschieden akkulturierte Menschen einander näher bringt. Außerdem sehe ich darin auch eine unausweichliche Folge historischer Bewegungen, zu denen der phönizische und venezianische Handel gehören, Konquistadoren wie Kolumbus und Vasco da Gama, und natürlich die Jahrhunderte des Kapitalismus und Kolonialismus der Neuzeit sowie die beiden von Deutschland initiierten Weltkriege.

Sie sollten arbeiten dürfen!

Und jetzt wieder ganz praktisch: Ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) für alle wäre das Beste, fast egal wie niedrig es ausfällt, solange es nicht unter den Satz fällt, der jetzt für die Flüchtlinge gilt (oder, minimal höher, für die Hartz-IV-ler). Das müsste vorläufig noch national oder regional geregelt werden, aber bald international, weltweit, denn regionale Differenzen im Grundeinkommen würden wieder zu Migrantenbewegungen führen.

Und es müsste jeder dazuverdienen können ohne Mindestlohngrenze! Dass die Asylbewerber jetzt nicht arbeiten dürfen, ist für sie schrecklich. Da sitzen sie nun, die Tatkräftigsten, Mutigsten ihrer Länder, haben große Risiken für den weiten Weg auf sich genommen, sind voller Energie, aber sie dürfen nichts tun. Ein Wunder, wenn da »nichts passiert«. Und wenn »nur wenig passiert« (an Unruhe und Krawall) ist das ein Zeichen für die Friedfertigkeit dieser Flüchtlinge.

Sie sollten arbeiten dürfen, und sei es für 1 € pro Stunde, und damit ihren niedrigen Satz aufstocken. Das würde die Chancen für die Deutschen auf einen Arbeitsplatz nicht durch Billiglohnkonkurrenz einschränken, sondern im Gegenteil, es würde die Wirtschaft so beleben, dass viele Deutsche, die jetzt keinen Job bekommen, erst dann eine Chance auf einen Arbeitsplatz hätten. Vielleicht könnte man wenigstens für die Ausländer die Mindestlohngrenze aufheben. Es gibt doch so unendlich viel zu tun! Diese Leute kosten den Staat eine Menge Geld, und dann dürfen sie nichts tun, obwohl sie das so sehr wollen? Schrecklich. Und mit BGE gelänge das alles noch viel besser. Es wäre gerechter, leichter zu handhaben, unbürokratischer. Weg mit dem Dschungel an komplizierten Regelungen, der dann doch nur wieder eine Elite an Dschungelexperten erzeugt und die einfacher tickenden Menschen benachteiligt.

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