Die Meinung – und ihre Freiheit

 In FEATURED, Politik (Inland)

Parteien: Nicht wegzudenken aus der Demokratie? Unser Autor denkt sie weg.

“In einer ‘idealen’ Demokratie könnten unterschiedlichste Meinungen nebeneinander existieren und um Zustimmung werben. Da in dieser idealen Demokratie sichergestellt ist, dass der Wille der Mehrheit sich durchsetzt, haben die Mitglieder dieser Mehrheit niemals ein Problem mit anderen Meinungen. Innere Unruhen sind eher ein Anzeichen für suboptimale Demokratien und Diktaturen, wo wichtige Interessen wichtiger Gruppen so weit vernachlässigt werden, dass sich der Konflikt in gewaltsamen Aktionen bemerkbar macht, weil sich die ‘Benachteiligten’ auf andere Weise keine Aufmerksamkeit verschaffen können.” Plädoyer für eine Demokratie ohne Parteien. (Egon W. Kreutzer, www.egon-w-kreutzer.de)

Die freie Meinung ist zuhause in einem Lande, das “Meinland” heißt, weil darin bedingungslos gemeint werden darf. Dieses Meinland ist jedoch von allen Seiten von Feinden umzingelt. Die Meinländer stehen vor der Wahl, entweder die Flucht zu ergreifen und einen Flecken Erde zu finden, an dem die freie Meinung noch geduldet wird, oder unter Gefahr für Leib und Leben für ihre Freiheit zu kämpfen.

An der nördlichen Grenze von Meinland lauern die Tatsachenerkenner und schießen mit Kanonen auf jede Meinung, die sich in einem für sie unerträglichen Ausmaß auf Fakten bezieht, so dass die darauf aufbauende Meinung schlicht ebenfalls als Tatsachenbehauptung angesehen und entsprechend ausgemerzt wird.
Die südliche Grenze wird von den Beleidigten belagert. Wo eine Meinung mit einer persönlich abwertenden Redewendung geschmückt und bekräftigt wird, kann man sich sicher sein, dass die Beleidigten einen Sturmangriff auf Meinland befehlen und das freie Meinungsfleckchen, das neu als beleidigend ausgewiesen wird, so lange beharken, bis es auf Jahrzehnte unbewohnbar geworden ist.
Im Westen kämpfen sich die politisch Korrekten jeden Tag ein paar hundert Meter weiter ins Landesinnere vor. Sie roden die Wälder, kanalisieren die Flüsse und Bäche, ebnen Hügel ein und schütten Teiche zu, verspritzen dann tonnenweise hochtoxische Herbizide und Pestizide, um die gewachsene Landschaft in eine schön geordnete Einheitsmeinwüste zu verwandeln, deren Eintönigkeit von Horizont zu Horizont reicht und durch nichts Lebendiges mehr gestört wird.
Im Osten versammeln sich die rauflustigen Minderheiten zu immer neuen Sturmtrupps, errichten und besetzen wehrhafte Brückenköpfe mitten in Meinland und erschlagen jeden, der auch nur ein Fleckchen Boden zurückzuerobern versucht, mit der Diskriminierungskeule.
Die allermeisten Bewohner von Meinland haben inzwischen die Argumente der Invasoren verinnerlicht. Sie sagen sich:
So lange nicht hart an der Grenze zur Tatsachenbehauptung dezidierte Meinungen vorgetragen werden, solange man sich hütet, seiner Rede mit Kraftausdrücken Stärke zu verleihen, so lange man den Einheitsmeinungskonzernen das Feld überlässt und sich hütet, irgendjemandem in irgendeiner Weise in seinem vermeintlich unheilvollen Tun Einhalt zu gebieten, weil Kritik an jemandes Art und Lebensweise, die nun einmal so ist, wie sie ist, immer öfter als diskriminierend wahrgenommen wird, so lange herrscht doch Frieden. Und was kann es Schöneres geben, als inneren Frieden im Lande.
Wer so zu dem Schluss gelangt, dieses Nachgeben sei gut und richtig und diene der Erhaltung des inneren Friedens, wird kein Verständnis für jene aufbringen, die zum gegenteiligen Schluss gelangen und annehmen, dies zerstöre die Grundlagen der Demokratie.
Der ernsthafte Versuch, zwischen beiden Parteien zu schlichten führt zu der überraschenden Erkenntnis, dass beide Schlussfolgerungen zugleich richtig sind und, dass die Begrenzung der Meinungsfreiheit auf einen Zustand hinausläuft, der mit “Innerer Frieden in der Diktatur” ziemlich passgenau beschrieben werden kann.
Allerdings drängt sich die Frage auf, ob der Verzicht auf die Begrenzung der Meinungsfreiheit im Umkehrschluss automatisch “Innere Unruhen in der Demokratie” hervorbringen würde.
Diese Frage kann verneint werden.
In einer “idealen” Demokratie könnten unterschiedlichste Meinungen nebeneinander existieren und um Zustimmung werben. Da in dieser idealen Demokratie sichergestellt ist, dass der Wille der Mehrheit sich durchsetzt, haben die Mitglieder dieser Mehrheit niemals ein Problem mit anderen Meinungen. Da in dieser idealen Demokratie die Bildung von Mehrheiten nicht automatisch auf ein Parteiprogramm fixiert ist, sondern sich, abhängig von den jeweiligen Themenstellungen, immer wieder andere Koalitionen zusammenfinden können, besteht kein Anlass für Innere Unruhen. Ideale Demokratie verträgt sich mit uneingeschränkter Meinungsfreiheit sehr gut.
Innere Unruhen sind eher ein Anzeichen für suboptimale Demokratien und Diktaturen, wo wichtige Interessen wichtiger Gruppen so weit vernachlässigt werden, dass sich der Konflikt in gewaltsamen Aktionen bemerkbar macht, weil sich die “Benachteiligten” auf andere Weise keine Aufmerksamkeit verschaffen können.
Das heißt: Eine schlecht funktionierende Demokratie, welche bereits diktatorische Züge aufweist, provoziert zwangsläufig innere Unruhen.
Ein Mittel, innere Unruhen klein zu halten, bzw. zu vermeiden, besteht nun darin, das Recht auf freie Meinungsäußerung soweit zu beschneiden und durch die Pflicht zu einer politisch korrekten Ausdrucksweise zu begrenzen, dass sich Bürger gleicher Meinung im öffentlichen Raum nicht mehr zu erkennen und zusammenzuschließen vermögen.
Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Weil damit zu rechnen ist, dass Menschen gleicher Meinung ihren Austausch unter solchen Bedingungen fortsetzen, ihn jedoch vor der Öffentlichkeit verborgen halten, weil er anders nicht möglich ist, muss der Beschränkung der Meinungsfreiheit zwangsläufig der Einsatz ebenso verdeckter Ermittlungsmethoden zum Aufspüren gefährlicher Meinungen folgen.
Diese Überlegung führt mitten hinein in jenes Szenario, das in Westdeutschland bis 1989 als das Wesensmerkmal des “Unrechtsstaates” DDR bezeichnet und angeklagt wurde und seit 1989 als historische Wahrheit angesehen wird.
Neben dem Begriff “Unrechtsstaat” tauchte allerdings auch ein weiterer, sogar noch interessanterer Begriff auf, nämlich “Scheindemokratie”.
Die Scheindemokratie unterscheidet sich von einer wahren Demokratie dadurch, dass alle demokratischen Rituale – quasi im Leerlauf – vollzogen werden, wobei sichergestellt ist, dass dabei stets das gewünschte Ergebnis erzielt wird.
Scheindemokratie spiegelt der Außenwelt ein nahezu 100%iges Einverständnis der Wähler mit der Regierung vor, das aber nur zustande kommt, weil über subtile und weniger subtile Methoden der notwendige Druck ausgeübt wird, mit dem einerseits für die Öffentlichkeit ein nahezu homogenes Meinungsbild hergestellt werden kann und andererseits die veröffentlichten Wahlergebnisse exakt dieses homogene Meinungsbild wiedergeben.
Es ist leicht zu verstehen, dass der Aufwand, eine Scheindemokratie zu errichten, relativ hoch ist, verglichen mit dem Aufwand, eine echte Demokratie zu installieren und zu bewahren.
Es ist jedoch ebenso leicht zu verstehen, dass der Aufwand, eine Diktatur zu errichten und aufrecht zu erhalten, um vieles höher ist, als der Aufwand, den eine Scheindemokratie erfordert – und, dass der Widerstand der Bevölkerung gegen die Form der Scheindemokratie weitaus geringer ist als der Widerstand gegen eine Diktatur.


Mit der Scheindemokratie kann man sich arrangieren.
Mit der Diktatur nicht.
Letztlich zeigt sich am Umgang mit der Meinungsfreiheit, dass die Demokratie gescheitert ist.
Der Versuch, dem (einfachen) Volk politische Entscheidungsrechte einzuräumen, ist praktisch überall auf der Welt, wo er unternommen wurde, gescheitert und hat rauchende Trümmerhaufen hinterlassen, zwischen denen sich zwei mehr oder minder extrem verfeindete Lager gegenüberstehen, die nicht gemeinsam um optimale Lösungen ringen, sondern nur noch um die Vorherrschaft kämpfen.
Blickt man weiter in die Geschichte zurück, in vordemokratische Jahrhunderte, so standen starke Führungsfiguren starken, einigen Völkern vor, die – auch weil sie nichts anderes kannten – ihren Fürsten, Königen und Kaisern dienten und gegen deren Regierungsführung, soweit sie vom “Gewohnten” nicht allzu weit abwich, kaum Einwände erhoben.
Je länger eine starke Führungsfigur an der Macht war, je länger ein Familienclan die Krone von Generation zu Generation weiterreichte, desto segensreicher wirkte sich die damit verbundene Kontinuität auf das Staatswesen und auf die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat aus.
Die Demokratie fordert zum Gegenteil heraus. Der Widerspruch der Opposition braucht keinen anderen Anlass mehr, als den, die Chance zur Entmachtung der amtierenden Regierung zu eröffnen. Um dies zu erreichen, muss die Wahlbevölkerung gespalten werden. Ein breites Betätigungsfeld für Demagogen, denen dann regelmäßig – ohne Rücksicht auf den neben den rhetorischen Fähigkeiten eventuell auch nützlichen Sachverstand – in der Hierarchie der Parteien der Vorsitz eingeräumt wird.
Ein einiges, starkes und selbstbewusstes Volk ist dem Streben solcher Demokraten allerdings hinderlich und daher gar nicht erwünscht.

Die Demokratie bringt regelmäßig Wechsel hervor. Die segensreichen Wirkungen der Kontinuität werden durch die Demokratie beständig in Frage gestellt, stattdessen nimmt die Forderung nach der Befriedigung von Einzelegoismen zu, weil die Demokratie die Chance bietet, sie durchzusetzen.
Lebten Kaiser und Könige noch in der Überzeugung, der Staat sei letztlich ihr Eigentum und nahmen von daher auch freiwillig die Verantwortung für den Erhalt und das Gedeihen dieses Eigentums auf sich, sind Politiker, die an die Spitze eines demokratischen Staates gewählt werden, grundsätzlich erst einmal frei von solchen konservativ bewahrenden Gedanken. Für sie ist das Amt ein Job, für den sie bezahlt werden.
Ob sie durch ihre Amtsführung den Nutzen ihres Volkes mehren oder nicht, ist ohne Belang, denn niemand kann sie für angerichteten Schaden zur Verantwortung ziehen, so wie sie ebenfalls niemand – so lange nicht Korruption im Spiel ist – für hervorgebrachten Nutzen anders belohnt als mit warmen Worten und ggfs. einem Stück Blech für die Ordensschatulle.
Mit dem Rückgang der Identifikation mit dem Staat, die durch das “Nicht-Eigentum” am Staat unterstützt wird, wächst das Risiko, dass charakterschwache, wankelmütige Personen mit nichts als einer großen Klappe mit der Staatsführung betraut werden. Andere stehen allerdings auch nur in geringem Umfang zur Verfügung, weil starke, entschlusskräftige Menschen mit guter Ausbildung eher nach jenen Aufgaben streben, die nicht zweifelhafte Ehren im politischen Ränkespiel, sondern materiellen Erfolg aus unternehmerischem Handeln versprechen.
Ein in der Demokratie bestellter Regierungschef ist daher zunächst dem Führungskonsortium seiner Partei verpflichtet, denn diesem hat er seine Funktion zu verdanken – nicht dem Volk, das seine Wahlentscheidung für diese Partei mit knapper Mehrheit getroffen hat. Auch das trägt dazu bei, dass den vollmundigen Wahlversprechen – wenn überhaupt – meist nur kärgliche Taten folgen.
Der in der Demokratie bestellte Regierungschef ist seiner Partei vor allem dazu verpflichtet, die Mehrheit auch bei den nächsten Wahlen zu sichern. Ein eigener Gestaltungswille in Sachfragen ist dabei eher hinderlich, zumal Eigenmächtigkeiten in der Regel argwöhnisch betrachtet und kraftvoll sabotiert werden, bis der Übeltäter von den Schuldzuweisungen der eigenen Partei erschlagen wird.
Die Abhängigkeit von der “Willkür” der Wählerschaft zwingt dazu, die für die Öffentlichkeit bestimmte Parteimeinung mit Vehemenz zu vertreten und zu verteidigen. Stellt sich dies im offenen Wettstreit der Meinungen als schwierig oder gar riskant dar, lockt stets die Versuchung, abweichende Meinungen zu diskreditieren, sie zu verbieten und unter Strafe zu stellen.
So erzwingt Demokratie, weil ihre Mechanik so konstruiert ist, das Volk auf demokratisch-legitime Weise zu spalten, und sie erzwingt Maßnahmen, die geeignet sind, die öffentliche Meinung zu kontrollieren und zu lenken, um am Ende gegenüber dem politischen Gegner jenen minimalen Stimmenüberschuss einzuheimsen, an dem die Regierungsmacht hängt.
Weil jede Partei bestrebt ist, an die Regierung zu kommen, werden Maßnahmen zur Meinungskontrolle und -Steuerung regelmäßig auch von allen Parteien gebilligt, schon um im Wahlkampf Waffengleichheit herzustellen. Kleine Oppositionsparteien können es sich leisten, gegen Gesetze und Maßnahmen zur Beschränkung der Meinungsfreiheit zu stimmen, können sie doch gewiss sein, dass ihr heldenhafter Widerstand beim Wähler Sympathien auslöst, obwohl klar ist, dass ihr Widerstand keine Chance hat, eine geplante Einhegung der Meinungsfreiheit zu verhindern.
Somit wird erkennbar, dass in jeder noch so gut gemeinten und verfassten Demokratie der Keim schon gelegt ist, der zu ihrer eigenen Pervertierung, zur Scheindemokratie und weiter zur Diktatur führen wird.
Demokratie funktioniert nur dort, wo sie überflüssig ist.
Demokratie ist dort überflüssig, wo sich die Wählerschaft einig ist und eine nennenswerte Opposition weder existiert, noch einen Fuß auf den Boden bekommt.
Damit sind wir endlich in Bayern angekommen. Die CSU regiert das Land seit Jahrzehnten fast ausschließlich alleine. Die Bayern auf dem flachen Land sind mit ihrer CSU verbunden und überstimmen damit in landespolitischen Fragen die in den Großstädten lebenden SPD-Wähler stets mit großem Abstand.
CSU, das ist die Fortsetzung der Erbmonarchie mit anderen Mitteln, und es ist ein Erfolgsrezept, was der Vergleich mit allen anderen Bundesländern auf praktisch allen Feldern immer wieder beweist.
Der Organisationsgrad der CSU ist hoch und die Durchdringung der öffentlichen Ämter mit CSU-Leuten ebenfalls. Das macht diese Partei weitgehend unabhängig vom öffentlichen Wirken eines Parteivorsitzenden oder Ministerpräsidenten. Die für die meisten Wähler wichtigen Entscheidungen fallen in Gemeinde- und Stadträten. Dort hat die CSU wegen der hochgradig CSU wählenden Wählerschaft ein sehr viel breiteres Klientel zu vertreten, als ein mit einer knappen Mehrheit in einer Koalition mit den Grünen regierender SPD-Bürgermeister irgendeiner Gemeinde in Niedersachsen.
Und je länger die CSU den Bürgermeister stellt, desto stärker wirken die ausgleichenden Kräfte der Kontinuität. Menschen, die dieses Phänomen nicht zu würdigen wissen, sprechen gerne vom Filz, der endlich aufgelöst werden müsse, doch dieser Filz ist ein weitaus besserer Nährboden für eine zufriedene Gesellschaft als ein ständiger Hickhack sich bis aufs Messer bekämpfender Parteien, die zur Mehrheitsbildung immer noch einen Koalitionspartner brauchen.
Die Herrschaft der CSU in Bayern ist nicht, wie oft gespottet wird, eine Diktatur, sondern es ist eine außerhalb der offiziellen Strukturen etablierte, gut funktionierende, von den CSU-Mitgliedern und -Sympathisanten getragene Form der Basisdemokratie.
Demokratie muss neu gedacht werden.
Dazu gehört zunächst einmal, dass man sich ihrer grundsätzlichen Stärken und Schwächen bewusst wird. Kern und Mittelpunkt der Demokratie ist das Parlament, der Ort, an dem Argumente ausgetauscht und Lösungen gesucht werden sollten. Wo Abgeordnete jedoch einer Parteilinie und Parteizielen verpflichtet sind und unter Fraktionszwang stehend in Parlamenten sitzen, ist das Parlament überflüssig!

Wo eine Regierung, gestützt auf die Mehrheit ihrer Stimmen, die nur noch pro forma durch Abgeordnete im Parlamente repräsentiert werden, alles durchsetzen kann, sind alle Debatten nur frustrierende Pflichtübungen, die niemand braucht und niemandem nutzen.
Sollte es tatsächlich so sein, dass Parlamentarier nicht nur – zumeist in geringer Zahl – im Plenum sitzen, sondern auch in den Ausschüssen an Sachproblemen arbeiten, und sollte es so sein, dass durch die Ausschussarbeit aus ursprünglichen Gesetzesentwürfen der Regierung tatsächlich Gesetze werden, die – unabhängig von Partei-Interessen – für möglichst alle Bürger Vorteile bringen, könnte man dem Parlamentarismus doch noch etwas Gutes abgewinnen. Ich persönlich hege allerdings beträchtliche Zweifel an dieser idealisierenden Erzählung.
So wenig der heute praktizierte Parlamentarismus den Namen verdient, so unverzichtbar ist auf der anderen Seite für eine funktionierende Demokratie der Austausch über vermeintliche und tatsächliche Probleme, die Diskussion über Lösungsideen, Vorstellungen, Konzepte und Visionen zur Weiterentwicklung des Gemeinwesens.
Wir kennen diese Diskussionsrunden auf der Ebene der kleinen Einheiten. Man trifft sich informell, in unterschiedlicher Zusammensetzung, bespricht, was anliegt, einigt sich, und sorgt dann dafür, dass der gewählte Gemeinderat einen entsprechenden Beschluss fasst.
Auf dieser Ebene spielen Parteifarben praktisch keine Rolle. Über alle ideologischen Hürden hinweg wird es immer wieder möglich, gemeinsam zu pragmatischen Beschlüssen zu gelangen.
Ich möchte wetten, dass die Gemeinderäte von Kommunen mit bis zu 10.000 Einwohnern bundesweit nur in wenigen Ausnahmefällen mit anderen Menschen besetzt wären als sie es sind, hätte es seit 1949 in der Bundesrepublik niemals eine Partei gegeben.
Weil der Nachweis nicht geführt werden kann, kann ich die Wette nicht ernsthaft anbieten, aber ich bin überzeugt davon, dass vor Ort, in den kleinsten Gliederungen, überhaupt nur brauchbare Entscheidungen getroffen werden können, weil die großen ideologischen Überbauten der Parteien in der täglichen Arbeit einfach ignoriert werden.
Und wo es dennoch so aussieht, als spielte die Parteizugehörigkeit eine Rolle, sind es in der Regel persönliche Animositäten, die unter dem Deckmantel “Partei” ausgetragen werden.
Es handelt sich um eine Form, Lösungen anzustreben und Interessenkonflikte auszugleichen, die aufgrund der in den kleinen Gliederungen unvermeidlichen Transparenz (jeder kennt jeden) hilft, ohne die Reibungsverluste parteipolitischer Querelen gemeinsame Politik zu machen.
Die Frage, ob sich dieses “Muster” auch auf höhere politische Ebenen übertragen ließe, hat mich eine Weile beschäftigt. Herausgekommen ist ein Modell, dass ich vom Prinzip her zur Diskussion stellen möchte.
Dass ich darin an vielen Stellen für an sich unwichtige Details Festlegungen getroffen habe, erschien mir zum besseren Verständnis dieses Prinzips erforderlich, ich sehe jedoch in allen diesen Detailfestlegungen einen sehr weiten Gestaltungsspielraum, der letztlich in einer konstruktiven Diskussion ausgefüllt werden muss.
Demokratie ohne Parteien
Auf kommunaler Ebene sollten Parteien künftig nicht mehr in Erscheinung treten.
Gewählt wird alle zwei Jahre. Wählbar ist, wer mindestens 25 Jahre alt ist, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine vergleichbare Ausbildung nachweisen kann, mindestens 1 Jahr Wehrdienst oder einen anderen freiwilligen sozialen Dienst geleistet und sich als Kandidat angemeldet hat.
Jeder Wähler hat zwei gleichwertige Stimmen, mit denen er einen Kandidaten mit zwei Stimmen oder zwei Kandidaten mit je einer Stimme bedenken kann. Gewählt ist, wer mindestens 10 Stimmen erhalten hat. Die so Gewählten bilden den Gemeinderat.
Der Gemeinderat ist beschlussfähig, wenn nach rechtzeitiger Terminankündigung mindestens zwei Mitglieder zur Sitzung erscheinen.
Dem Gemeinderat steht ein von der Landesregierung angestellter und verwaltungstechnisch ausgebildeter Bürgermeister gegenüber, der als einziger verantwortlich für die Gemeinde Verträge schließen, Satzungen erlassen, Mitarbeiter einstellen, Hebesätze verkünden und andere “hoheitliche Akte” verbindlich in Kraft setzen kann.
Der Bürgermeister ist grundsätzlich an die Beschlüsse des Gemeinderates gebunden, muss diese aber als undurchführbar zur weiteren Beratung zurückweisen, wenn er wesentliche Hinderungsgründe rechtlicher oder materieller Natur erkennt.
Die Entlassung eines Bürgermeisters ist nur aus wichtigem Grund und nur mit 2/3 Mehrheit des Gemeinderates möglich. Der Nachfolger wird von der Landesregierung vorgeschlagen und eingesetzt. Bewerber aus der jeweiligen Gemeinde werden bevorzugt, Bewerber die nicht mindestens 10 Jahre im jeweiligen Landkreis ansässig waren, dürfen nur im äußersten Ausnahmefall in Erwägung gezogen werden.
Bitte malen Sie sich selbst aus, welche Risiken diese Neuregelung schlimmstenfalls mit sich bringen würde, und welche Chancen sich bestenfalls daraus ergeben. Für Rückmeldungen bin ich dankbar.
Mit einem sachkundigen Bürgermeister und einem engagierten Gemeinderat kann eine kleine Einheit (in der Stadt ein entsprechendes zugeschnittenes Quartier) meines Erachtens ganz ohne Partei-Richtlinien gut zurechtkommen.
Führen wir die Vorstellung einer parteilosen Politik-Organisation fort, wäre auf dem Gebiet der Landkreise eine Instanz sinnvoll, die übergeordnete Aufgaben einer eng umschriebenen geografischen Region koordiniert.
Hier sehe ich wieder den angestellten Landrat mit seinem Stab und den auf Kreisebene angesiedelten Ämtern als den Verantwortungsträger. Dem stehen, aus allen Gemeinderäten je zwei, aus der Mitte des Gemeinderates bestimmte Personen als Vertreter der Interessen der Gemeinden im Kreistag gegenüber. Sie nehmen ihr Amt für vier Jahre wahr, unabhängig davon, ob sie vor Ablauf dieser Zeit in der Gemeinde wiedergewählt werden.
Auch hier ist der Landrat an die Beschlüsse des Kreistages gebunden, soweit er nicht Hindernisse erkennt, die eine Neuberatung erforderlich machen.
Wir brauchen immer noch keine Partei!
Und wir können darauf verzichten, dass die Bürger zu einer zweiten Wahl aufgerufen werden. Sie haben mit der Wahl des Gemeinderates die möglichen Vertreter im Kreistag schon mitgewählt. Dass diese vom Gemeinderat aufgrund der tatsächlichen Zusammenarbeit wesentlich besser als “geeignet” eingeschätzt werden können, als von der Mehrzahl der Wahlberechtigten, sollte niemand ernsthaft bestreiten wollen.
Wen werden die Gemeinderäte aus ihrer Mitte denn in den Kreistag entsenden? Vermutlich jene, von denen angenommen werden kann, dass sie die Interessen ihrer Gemeinde aufgrund ihre Sachkenntnis am besten vertreten können!
Nehmen wir die nächste Stufe. Politik auf Landesebene.
Geht das immer noch ohne Parteien?
Ja.
Die Kreistage entsenden aus ihrer Mitte je 2 Personen in den Landtag. Diese nehmen ihr Amt für sechs Jahre wahr, unabhängig davon, ob sie auf den niedrigeren Ebenen wiedergewählt werden.
Der Landtag wählt aus seiner Mitte den Ministerpräsidenten. Der Ministerpräsident stellt die Ressortverantwortlichen ein und kann sie auch wieder entlassen. Er vertritt das Land gegenüber dem Bund. Auch er ist an die Beschlüsse des Landtags gebunden, soweit nicht rechtliche oder materielle Hinderungsgründe bestehen.
Die Amtszeit des Ministerpräsidenten eines Bundeslandes dauert 10 Jahre. Eine zweite Amtszeit ist ausgeschlossen.
Die große Politik – Bundestag und Bundesregierung
Die Landtage entsenden aus ihrer Mittel insgesamt 250 Abgeordnete in den Bundestag. Die Verteilung der Mandate erfolgt nach dem Bevölkerungsschlüssel. Ergeben sich daraus für ein Bundesland weniger als zehn Mandate, wird auf zehn Mandate aufgestockt. Ein Ausgleich für die anderen Bundesländer erfolgt nicht.
Die Ministerpräsidenten wählen aus ihrer Mitte den Bundeskanzler. Seine Amtszeit beträgt ebenfalls zehn Jahre. Eine zweite Amtszeit ist ausgeschlossen.
Der Bundeskanzler ist an die Entscheidungen des Bundestages gebunden, ausgenommen, es stehen dem schwerwiegende Hinderungsgründe entgegen. Er stellt die Ressortverantwortlichen für die einzelnen Ministerien ein und kann sie auch wieder entlassen.
Es geht, wie Sie sehen, auch auf Bundesebene ohne Parteien.
Statt Parteiinteressen werden die Interessen der Bevölkerung nach oben getragen. Nicht mehr der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik (ihm verbleibt allerdings ein zu begründendes Veto-Recht), sondern der Bundestag!
Wir haben auf jeder Ebene die Parlamente als Beschlussfassungsorgane und daneben echte Ausführungsorgane, als Bürgermeister, Landräte, Ministerpräsidenten und Bundeskanzler.
Die sich überlappenden und mit der Verantwortung wachsenden Amtszeiten sorgen für sehr viel Kontinuität an der Spitze und sehr viel Experimentierfreude an der Basis und ein permanentes, überlappendes Nachrücken von in echter Basisdemokratie gewählten Volksvertretern.
Die Begrenzung der Amtszeiten auf Landes- und Bundesebene wirkt, zusammen mit dem laufenden Nachschub von der Basis her, einer informellen Parteienbildung entgegen, obwohl sich Zweckbündnisse auch in diesem Modell nicht vermeiden lassen. Sie können, so sie denn weitgehend ideologiefrei bleiben, sogar nützlich sein.
Bitte malen Sie sich selbst aus, welche Risiken diese Neuregelung schlimmstenfalls mit sich bringen würde, und welche Chancen sich bestenfalls daraus ergeben. Für Rückmeldungen bin ich dankbar.
Ausgangspunkt aller Überlegungen war der systemimmanente Zwang zur Beschneidung der Meinungsfreiheit, weil nach der durch die Demokratie begünstigte Spaltung der Bevölkerung in zwei sich befehdende Lager, zur Sicherung parteilicher Mehrheiten bei demokratischen Wahlen, die Unterdrückung störender Meinungen als ein Mittel zum Zweck angesehen wird.
Eine konsequent von der Basis her mit klugen und verantwortungsbewussten Köpfen gefüttertes politisches System, die jeweils antreten, ihre regionalen Interessen bestmöglich zu vertreten, verträgt auf jeder Ebene eine offene Diskussion.
Regeln der “political correctness” würden kaum noch eine Rolle spielen, weil sie nicht mehr als ideologische Wahlkampfmunition taugen. Die Bürger wählen ausschließlich Menschen, die sie persönlich kennen (oder kennen könnten, wenn sie es wollten), und geben diesen relativ klare Aufträge für die Gestaltung der kommunalen Politik.
Ausschließlich Kommunalpolitiker werden auf regionaler und Landesebene in verantwortliche Ämter gewählt, ja sogar der Bundeskanzler kommt grundsätzlich aus der Kommunalpolitik und hat alle in diesem Modell vorgesehenen Stufen durchlaufen. Es stand ihm vom ersten Tag an stets ein in allen auf der jeweiligen Ebene wichtigen Fragen ausgebildeter Fachmann gegenüber, so dass politischer Sachverstand in allen relevanten Gebieten zwangsläufig so weit gewachsen ist, dass die nächste Verantwortungsstufe gemeistert werden kann.
Solchen fachkundigen und integren Personen gegenüber wird eine Neigung zur Beleidigung von alleine nachlassen, andererseits wird ihre Selbstsicherheit dazu führen, dass nicht jede faktische Beleidigung vom Betroffenen auch als wirksam ehrenrührig angesehen wird.
Die Vermengung von Meinungen mit Tatsachenbehauptungen wird keinen Streitpunkt mehr darstellen, weil die Neigung, sich auf allen Ebenen zu verstehen, die Neigung, sich auf allen Ebenen bloßzustellen und zu bekämpfen verdrängen wird.
Ebenso wird der Raum für die Verteidiger vermeintlich diskriminierter Minderheiten sehr schnell sehr eng werden.
Wo sich überall im Lande 1.000, 5.000 oder 10.000 Bürger aus ihrer Mitte ihre direkten Vertreter in den Gemeinderat oder die Stadtteilsversammlung wählen, wird sich schnell herausstellen, dass praktischer Sachverstand zur Lösung der kommunalen Herausforderungen weitaus wichtiger ist als ideologische Glaubenssätze. Damit wird schon an der Basis eine Themenpriorisierung vorgenommen, welche über die dort hinein gewählten Personen auch auf die höheren politischen Ebenen transportiert wird.
Weder ein auf zehn Jahre gewählter Ministerpräsident, noch ein auf zehn Jahre gewählter Bundeskanzler, beide ohne Verlängerungsoption, brauchen ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz um Fake-News und Hate-Speech zu bekämpfen!
Wer nicht weitgehend anonym nach einem nichtssagenden Wahlkampf in den Bundestag gewählt und dann mit den Stimmen seiner Fraktion zum Kanzler gewählt wird, sondern aus seiner Gemeinde heraus die Anerkennung seines Kreises, von da aus die Anerkennung seines Landes gefunden hat, muss auch nicht alle geheimdienstlichen Möglichkeiten gegen die eigene Bevölkerung ausschöpfen, um Gefahren für die Wiederwahl zu beseitigen.
Es gibt keine Wiederwahl, gewählt werden immer nur neue Köpfe – aus der Basis, für die Basis – denen der Weg nach oben offen steht, wenn sie sich in ihrem Aufgabenfeld bewährt haben.
Ich glaube, dass unser Land sehr viel mehr Meinungsfreiheit verträgt, als es die Parteiendemokratie heute zulässt.
Sagen Sie mir Ihre Meinung.

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