Die Menschlichkeits-Simulation

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Politik (Inland)

Ältere Menschen, die durch die Coronapolitik angeblich besonders geschützt werden sollen, leiden derzeit besonders — manche sterben an Einsamkeit. Physisch weiter zu existieren, ist alles — als sozialer Mensch wirklich zu leben, nichts. Diese zynische Handlungsmaxime kulminiert in den Pflegeheimen, die man mit spitzer Zunge auch als „Sterbecenter“ bezeichnen könnte. Die mit Corona wie vom Himmel herabgefallene allgemeine Fürsorge für die Alten und Schwachen ist selbstverständlich Augenwischerei. In orwellscher Manier werden einsames Dahinsiechen, brutale Isolation und das militaristisch anmutende Verordnen von Hygieneregeln als „Fürsorge“ deklariert. Und für diesen vermeintlichen „Schutz“ wird zu allem Überfluss eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft genommen. Selbstredend wurden die betroffenen vulnerablen Gruppen gar nicht erst gefragt, ob sie das Ganze — in ihrem Namen — überhaupt wünschen. Paternalistisch werden diese Schutzmaßnahmen über diejenigen Menschen verfügt, die das Land dereinst aufgebaut haben. Zahlreiche Alternativprojekte für ältere Menschen zeigen allerdings, dass es auch ganz anders, menschlicher, funktionieren kann. Auf diese Alternativen sollten wir dringend hinarbeiten, denn der Umgang mit den Schwächsten ist der ethische Gradmesser einer Gesellschaft. Diesbezüglich könnte uns schon seit Jahren ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt werden. Unsere Versäumnisse holen uns nun in den Corona-Jahren ein. Victoria Walz

 

„Wir schützen unsere Oma!“, lächelt die junge Frau mit dem mausartigen Mundschutz und einer Spritze in der Hand vom Plakat in allen U-Bahn-Stationen.

Szenenwechsel:

„Na, da wollen wir mal!“ Auf der Pflegestation, Demenzabteilung, ein „Patient“, liegend, im Bett, ein erschreckter Blick, abwehrende Hände. Um ihn herum Menschen in Raumanzügen, Soldaten. Die ihm einzig bekannte Pflegeschwester hält ihn fest. Zack! Der Einstich! Zittern, ein rasendes Herz, Luft!!! Eine Ausnahme? Nur ein kleiner Schmerz? Oder das letzte Trauma?

Was passiert hier eigentlich?

„Corona hat die Dichteform der Kasernierung nur noch auf die Spitze getrieben und uns damit einen Spiegel vorgehalten. Denn die Gesellschaft ist in Bezug auf die Würde des älteren und alten Menschen nicht gut aufgestellt“, führte Professor Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Vorstandsvorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) in einer Pressemeldung bereits am 28. Mai 2020 aus. Weiter heißt es dort: „Die COVID-19-Pandemie bringt die Gesellschaft in einen fundamentalen Zielkonflikt. Einerseits gilt die Sorge explizit dem Schutz vulnerabler Gruppen und insbesondere dem hohen Alter. Andererseits werden Menschen im hohen Alter in den Pflegeheimen verstärkt dem sozialen Tod infolge von sozialen Ausgrenzungen ausgesetzt. Die Vermeidung des biologischen Todes wird teuer erkauft mit dem sozialen Tod“* (1).

Handelt es sich nicht eher noch um Geiselhaft?

Die „vulnerable Gruppe“

2019 sind 18 Millionen Menschen, fast 22 Prozent unserer Gesellschaft, über 65 Jahre alt. Die Einsicht, dass in unseren reichen Ländern die Gesellschaft älter wird, hat zur Einführung der Pflegeversicherung geführt. Mehr als 4 Millionen, also etwa ein Viertel dieser älteren Menschen, insbesondere die Gruppe der sogenannten Hochaltrigen über 80 Jahre, etwa 2,4 Millionen Menschen, gelten als hilfs- oder pflegebedürftig. Etwas mehr als 100.000 Menschen sind es wegen einer Demenz (2). Auch viele Menschen der ehemaligen Gastarbeitergeneration fallen inzwischen unter solche Hilfs- und Pflegebedürftigkeit. Vor allem sie fürchten sich vor einer Heimunterbringung.

Was sind eigentlich ihre größten Probleme?

Es ist neben Einsamkeit vor allem Altersarmut, die deutsche Senioren und Seniorinnen zu 18 Prozent, also etwa 3 Millionen Menschen betrifft. Bei älteren Menschen mit Migrationshintergrund liegt der Wert sogar bei 33,4 Prozent, das sind etwa 0,73 Millionen Menschen. Alleinstehende Frauen sind am stärksten betroffen.

Als relativ arm gilt, wenn das Einkommen weniger als 1.176 Euro beträgt. Mehr als eine halbe Million Menschen über 65 Jahren benötigen Grundsicherung im Alter (3).

Im bundesweiten Schnitt kostet ein Platz im Pflegeheim monatlich zwischen 1.700 und 2.000 Euro (4). Dazu reicht ein solches Minimaleinkommen nicht, trotz Pflegeversicherung. Wo die Innenstädte immer teurer werden, kann die Miete und somit das Verbleiben in der eigenen Wohnung deshalb für viele zu einem großen Problem werden. Trotzdem leben 2,52 Millionen der hilfs- und pflegebedürftigen Menschen in stationärer Heimunterbringung (5).

Was sind eigentlich ihre Wünsche und Bedürfnisse?

Werden unsere älteren Menschen einmal befragt, wie sie ihren letzten Lebensabschnitt leben möchten, dann ist die Antwort eindeutig: Egal wie hilfsbedürftig, sie möchten zu Hause sein, in der eigenen Wohnung und Umgebung leben (95 Prozent), in der Nähe ihrer Familien und in einer lebendigen Nachbarschaft (94 Prozent).

Vor allem möchten sie möglichst lange mobil und aktiv am allgemeinen kulturellen und sozialen Leben teilnehmen können. Über 80 Prozent wünschen sich die Bereitstellung altersgerechter, barrierefreier Wohnungen und ebensolcher Zugänge im öffentlichen Raum und die Bereitstellung entsprechender Hilfsmittel (6).

Das alles gilt für alle gleichermaßen, egal mit welchem ethnischen, kulturellen, religiösen oder sozialen Hintergrund. Niemand möchte gerne seine letzten Jahre anonym in einem Altenheim, isoliert und ausgeschlossen vom gewohnten Umfeld verbringen müssen. Vor allem die inzwischen alt gewordene ehemalige Gastarbeitergeneration fürchtet sich vor einem Leben in einer Einrichtung, die nicht auf ihre sprachlichen und kulturellen Bedürfnisse eingeht.

Der Mangel an kultursensibler Orientierung in den meisten Pflegeeinrichtungen führt zu Problemen bei der Kommunikation, der Organisation, der Versorgung, und es wird auch von Intoleranz, insbesondere vonseiten der deutschen Heimbewohner, gegenüber Migranten berichtet. Das kann zu deren verstärkter Isolation führen. Und wenn es um schwere Demenz geht, kommt zu der bestehenden und zunehmenden innereigenen Konfusion auch noch die durch die furchteinflößende Kasernenumgebung erzeugte hinzu (7).

Dieser „vulnerablen Gruppe“, die nie gefragt wurde, gilt also unsere größte Sorge in der aktuellen Krise, wenn man die Kanzlerin hört.

Ach! Auf einmal gilt die Sorge unseren alten Menschen? Oder sind sie nur ein Objekt, in Geiselhaft genommen, um uns alle zu den AHA-Regeln, zu Quarantäne und schließlich zur Injektion, dem immer wieder notwendigen „Shot“ zu zwingen?

Wie hätte es aussehen müssen, nimmt man die Kanzlerin beim Wort?

Beschreibung einer Utopie (siehe Anmerkungen):

Ankündigung der Bundesregierung im März 2020 in der Presse unter „Eilnachricht“:

„Wir krempeln Hilfe und Pflege um!
Millionen für die Senioren und Seniorinnen!

Wir wollen ein gesundes, mobiles und würdiges Leben im Alter als Regel, egal ob in der Familie, zu Hause mit ambulanter Hilfe, in einer Wohngruppe oder auch in einem schönen, kultursensiblen Seniorenwohnheim im lebendigen Quartier!

Corona? Wir wollen die gefährdeten Menschen schützen, indem wir sie geistig und körperlich kräftigen und verstärkt auf die wohlerprobten Mittel der Hygiene achten.
Jetzt ist die Stunde gekommen, alles für das Altern in Würde zu tun!

I Soforthilfe

Die Bundesregierung ruft sämtliche Menschen aus dem medizinischen und Pflegebereich auf, die aus Altersgründen nicht mehr arbeiten, sich ab sofort für das Hilfeprogramm bei den stationären und ambulanten Seniorendiensten zur Verfügung zu stellen. Die Gesundheitsämter sind beauftragt, Teams zusammenzustellen, die die einschlägigen Institutionen personell verstärken und diese dabei unterstützen sollen, eine gesunde und aktive Betreuung der „Vulnerablen“ nach den neuesten Erkenntnissen sicherzustellen. Ab sofort werden dafür die notwendigen Informationen und Mittel bereitgestellt, an erster Stelle das Personal und die erprobten Mittel zur Stärkung des Immunsystems durch eine gesunde und aktive Lebensführung. Nur so werden wir Vertrauen schaffen und die Krankheitserreger wirksam zurückdrängen!

II Dreijahresprogramm

Die Bundesregierung und das Parlament haben in Abstimmung mit den Ressorts und den Verbänden ein Dreijahresprogramm zur Beseitigung der strukturellen Defizite in der Altershilfe und —pflege beschlossen. Die folgenden Schritte werden ab sofort eingeleitet und schrittweise umgesetzt. Damit nehmen wir die Krise zum Anlass, die 2015 in dem Pilotprogramm ‚Altersgerechte Stadt im Lichte des demografischen Wandels‘ gesammelten Erkenntnisse beschleunigt zu realisieren. Im Folgenden die Eckpunkte. Eine detaillierte Übersicht finden Sie in den Mitteilungen der Bundesregierung.

I. Die 50.000 fehlenden Pflegekräfte im Seniorenbereich werden ab sofort in möglichst kurzen Etappen eingestellt (8)!

  • Dazu dient eine groß angelegte Mobilisierungs- und Werbekampagne ehemaliger und neuer an der Pflege interessierter Menschen.
  • Die Arbeitsbedingungen werden ab sofort attraktiv gestaltet, vor allem auf eine Work-Life-Balance geachtet.
  • Sämtliche Pflegekräfte werden ab sofort tariflich höhergestuft.
  • Qualifizierte Ausbildung zu erweiterten Themen wie Fragen geistiger und körperlicher Mobilität, gesunder Ernährung und kultureller Sensibilität wird obligatorisch, laufende Weiterbildung wird ermöglicht.
  • * Pflegekräfte aus dem Ausland werden tarifrechtlich und arbeitsrechtlich gleichgestellt und erhalten entsprechende Aufenthaltstitel.*
  • Ein neues Berechnungssystem soll die Pflege ebenso in den Krankenhäusern regeln, um die auch dort fehlenden Kräfte zu gewinnen (8). Die weitere Anpassung an den Bedarf erfolgt fortlaufend.

II. Die ambulante Versorgung der Hilfs- und Pflegebedürftigen zu Hause im Quartier hat Vorrang!

  • Der Bund übernimmt die Kosten und fördert die Kommunen ab sofort bei der Umsetzung der im Pilotprogramm ‚Altersgerechte Stadt im Lichte des demografischen Wandels‘ erarbeiten Vorschläge für einen seniorengerechten Stadtumbau.
  • Der Bund fördert dabei Maßnahmen, die vor allem der Entschleunigung der Stadt dienen mit mehr Aufenthaltsqualität, mehr Grünflächen, quartiersnaher Versorgung und barrierefreiem Zugang zu den relevanten Einrichtungen sowie im ÖPNV.
  • Der Bund fördert ab sofort ein Soforthilfeprogramm für den Bau kommunaler Wohnprojekte mit je einem Viertel seniorengerechter und bezahlbarer Wohnungen.
  • Die Kommunen unterstützen die zugehende Sozialarbeit und errichten Quartiers-Hilfezentren, um darüber eine ambulante Unterstützung der hilfs- und pflegebedürftigen Bewohner, vor allem von Senioren und Seniorinnen, zu gewährleisten; Quartiere gelten für Gebietsgrößen bis zu 5.000 Einwohnern.
  • Die Quartiers-Hilfezentren sind Teil von Begegnungszentren mit diversen kulturellen und sozialen Angeboten, Mittagstisch, Abholservice und mehr.

III. Vor einer stationären Versorgung der Hilfs- und Pflegebedürftigen hat das Leben in Wohngruppen im Quartier Vorrang!

  • Der Bund fördert den kommunalen Ankauf von Wohnhäusern und finanziert neue Projekte, die Wohngruppen auch für diverse Hilfs- und Pflegebedürftige wie zum Beispiel Demenzgruppen oder Queergruppen und für Menschen aus anderen Kulturkreisen anbieten und in den Wohnquartieren sichern.

IV. Die stationäre Hilfe und Pflege wird langfristig verringert und abgebaut.

  • Die bestehenden Einrichtungen werden ab sofort einer Überprüfung unterzogen, inwieweit sie ergänzt und verbessert werden müssen; dazu werden die personellen und finanziellen Mittel bereitgestellt.

V Sämtliche Maßnahmen sollen eine kultursensible Hilfe und Pflege ermöglichen, das heißt, dass die sozialen und kulturellen Bedürfnisse in allen Institutionen berücksichtigt werden!

  • Bei der Suche nach neuen Kräften sollen mehrsprachige bevorzugt werden, vor allem Menschen mit Migrationserfahrung.
  • Bei der Einrichtung von Wohngruppen sollen Möglichkeiten geschaffen werden, dass eine ausreichende Zahl an ethnisch geprägten Gruppen entstehen können, in denen vertraute Gewohnheiten und kulturelle oder religiöse Vorlieben und Gewohnheiten zum Normalstandard gehören. Hier können die Erfahrungen aus Bremen, Duisburg und Frankfurt sowie aus Amsterdam genutzt werden; Material zur Planung stellt die Bundesregierung zur Verfügung.
  • Besonders in diesem Zusammenhang sollen die vorhandenen ethnischen Vereine bei der Werbung, Planung und Realisierung verantwortlich beteiligt und einbezogen werden.

Die Programmumsetzung wird evaluiert und gegebenenfalls in veränderter Form laufend fortgesetzt werden.

Die Mittel werden zunächst aus dem Militärhaushalt umgeschichtet. Wenn wir weltweit für eine gemeinsame Gesundheitssicherung der Weltbevölkerung kämpfen können, dann können wir auch die Konflikte zwischen den Ländern und Nationen ohne Kriege bewältigen! Weitere Informationen siehe in den Mitteilungen der Bundesregierung.“

Alles unrealistisch? Es gibt genügend Beispiele, die nur verstetigt und auf die jeweiligen Voraussetzungen bezogen umgesetzt werden können (siehe die Kommentare und Informationen unter Anmerkungen10 bis12).

Die Realität

Die Versorgung der vulnerablen Gruppe“ unserer Gesellschaft, der Senioren und Seniorinnen wie aller hilfs- und pflegebedürftigen Menschen und dabei auch der Gastarbeitergeneration, war mehrheitlich auch vor Corona nicht von Würde, Respekt und Menschlichkeit geprägt. Vor allem der andauernde Personalmangel, aber auch die Kommerzialisierung der Pflege und Hilfe haben, wie viele Pflegekräfte beklagen, keinen Raum beziehungsweise keine Zeit für Gespräche, Empathie, Vertrauen oder Förderung gelassen.

Was passiert denn zurzeit?

Ein paar wenige Einblicke:

  • Eine arbeitslos gewordene Therapiekraft in der Tagespflege eines Seniorenzentrums wird in die stationäre Pflege zwangsversetzt und meldet sich lieber krank, weil sie weiß, was sie erwartet: Maske, Tarnanzug, vielleicht sogar Zwangsimpfung.
  • Eine andere wird an das Nottelefon der Stadt versetzt, wo sie den vielen in Panik anrufenden überwiegend älteren Menschen keine wirkliche Antwort zu geben weiß.
  • Eine Aushilfslehrerin klagt, dass sie plötzlich zu einer kommandierenden und strafenden Person geworden ist: „Mach die Maske hoch! Wasch dir die Hände! Halte Abstand!“
  • Eine arabische Familie steht am Rande ihrer Möglichkeiten, die Demenz der Mutter schreitet fort, sie braucht rundum Betreuung. Eine Pflegekraft, die wenigstens den lebensnotwendigen Mokka richtig zuzubereiten weiß, geschweige denn arabisch spricht, findet sich nicht. Alle Familienmitglieder müssen helfen! Die Ehe ist in Gefahr!
  • Eine zunehmend demente italienische Freundin, die uns alle nicht mehr erkennt, wird ambulant durch eine alle drei Monate wechselnde Kraft einer ausländischen Agentur „gepflegt“; je nachdem, wie diese Person „gestrickt“ ist, geht es gut. Zurzeit ist wieder einmal die „strafende A.“ da. Nicht jede Frau hält es ohne Ungeduld und Zorn aus, über drei Monate 24 Stunden lang für eine hilflose Person da zu sein, die kaum noch reagiert, wenig versteht und einen trotzdem dauernd auf Trab hält.

Wie das KDA beklagt, ist die Situation jetzt wirklich besonders unmenschlich, denn vor allem die Gruppe der Hochaltrigen, der „Vulnerablen“, erlebt eine Atmosphäre der Kasernierung, ein System Krankenhaus mit Uniformierten und zunehmender Gewalt. Eine andere Sichtweise der Regierung ist nicht zu erkennen. Kasernierung und Impfflicht beherrschen das Thema. Die geschürte Angst treibt alle um.

Die „Gastarbeiter“ bleiben dabei in den Seniorenwohnanlagen und stationären Pflegeinstitutionen eine verlorene, zumeist türkische Minderheit (7). Eine Berücksichtigung ihrer Verständigungs- und Kulturnotwendigkeiten ist selten.

Und dabei geht es nicht vor allem und allein um einen Gebetsraum oder das Schweinefleischverbot. Da fehlt noch viel mehr, und mehr wäre möglich und notwendig. Musik zum Beispiel, ein Lebenselixier, und ein im nahen und fernen Osten bekanntes Heilmittel könnte zum Alltag gehören: zum Beispiel die „Türk Sanat Müziği“, klassische türkische Liedmusik genannt, die in vielen türkischen Haushalten präsent ist, gesungen wird und Heimat bedeutet.

Selbst Atatürk liebte diese Musik, und nicht alle älteren türkischen Menschen hängen an ihrer Gebetskette. Auch die Tänze der Regionen, die in jeder griechischen Generation zum kulturellen Besitz zählen, könnten in Mehrgenerationen-Wohnprojekten und in Wohnanlagen für Senioren zu den erfreulichen wiederkehrenden Ereignissen gehören und nicht nur Souvlaki oder Ouzo. In Wohngruppen wäre das alles kein Problem, wie Beispiele der jüdisch-russischen Selbsthilfeprojekte, etwa das Projekt „Nascha Kwartihra“ aus Köln, zeigen (9).

Es gibt Alternativen

Man muss die Alternativen suchen, aber es gibt sie, wie gesagt zumeist für türkische Zuwanderer, allerdings dann überwiegend als Minderheit in einem größeren deutschen Zusammenhang. Es gibt sie zum Beispiel in Frankfurt, in Bremen, Oberhausen oder Duisburg. Auf der EXPO 2000 in Hannover wurde das Pilotprojekt „Hannover-Kronsberg Habitat — Internationales Wohnen“ realisiert (10).

Einige Charakteristika:

Ein wesentliches Merkmal aller Projekte, ob in Deutschland oder in Nachbarländern, ist ein sorgfältiger Planungsprozess mit längerem Vorlauf. Sehr oft wurden Experten wie etwa Gerontologen einbezogen; der gesamte Prozess erfolgte in enger Abstimmung mit Betroffenen und ihren Vereinen, die weiterhin eingebunden beziehungsweise manchmal auch Träger sind. Die Ergebnisse können entsprechend der Situation stark unterschiedlich sein.

„Nascha Kwartihra“ in Köln etwa geht auf die Gewohnheiten der russisch-jüdischen Senioren und Seniorinnen ein, die in der Sowjetunion der Intelligenzija angehörten, eher Französisch denn Deutsch als Fremdsprache beherrschen und auf jeden Fall nicht nur Borschtsch lieben, sondern begeistert den 1. Mai, den Weltfrauentag und das Ende des Zweiten Weltkriegs feiern.

Die Vorberatungen für das „Haus am Sandberg“ in Duisburg führten zu einer ungewöhnlichen, höchst offenen, sichtbaren und transparenten Gestaltung der Gebäude wie auch der gemeinschaftlichen Flächen im Innen- und im Außenraum.

Das Projekt „Pro-Wohnen — Internationales Wohnen Oberhausen Tackenberg“ entspricht dem besonderen Bedürfnis türkischer Senioren und Seniorinnen, die von Mai bis Oktober ihr Leben viel freudvoller in der Türkei verbringen, sich aber dennoch für die Wintermonate in Deutschland bezahlbaren Wohnraum in Zusammenhang mit ihrer alten Zechensiedlung wünschen, der ihnen ganzjährig zur Verfügung steht.

Ein anderes Merkmal ist die Quartiersbezogenheit zu einer lebendigen Nachbarschaft mit eigenem Gemeindebezug, wie es im Projekt „Grimmelsiepen“ in Dortmund vorgesehen war.

Ein drittes Merkmal ist die Eingebundenheit in andere kulturelle, soziale und nachbarschaftliche Aktionsräume, beispielhaft realisiert im „Stiftungsdorf Gröpelingen“ in Bremen, wo Künstler diverser Sparten ihre Atelier- und Veranstaltungsräume haben.

Ein viertes Merkmal ist das Prinzip der Bezugnahme auf sowie das Anknüpfen an frühere Alltagstätigkeiten und Lebensgewohnheiten, die Mitmachen, Zuschauen und Dabeisein ermöglichen: der von den Bewohnern gepflegte Bonsai-Garten im Haus einer chinesischen Gruppe, die Trabi-Werkstatt in einem Haus in Jena, in der man mitmachen kann, respektive das Waschhaus mit Schwatzecke in Hannover, wo man sich dazusetzen kann, die Holzhütte mit der Bank zum Ausruhen wie auch für den Genuss einer Zigarre in Amsterdam und vieles mehr — also das Vorhalten von Räumen und Aktivitäten, die Vertrautheit bieten.

Interessant sind Projekte in Holland, wo eine ethnische Orientierung in vielen Politikfeldern historisch Tradition hat. Dort wurde eine Politik für „Allochtone Elders“ schon in den 90er-Jahren begonnen. Dabei können nach De Jong zunächst drei Typen von multikulturellen Wohnprojekten unterschieden werden:

  • an Wünsche der Migranten angepasste, multikulturelle Grundrisse;
  • sogenannte Känguruh-Wohnungen, bei denen eine größere und eine kleinere Wohnung nebeneinanderliegen und es mit einer direkten Verbindung die Möglichkeit gibt, dass Senioren und ihre Kinder zusammenleben (Harmonika);
  • Wohnkonzepte für ältere Migranten mit den Themen Wohnen, Begegnung, Fürsorge.

Dafür stehen drei Projekte unter vielen, „Wi Kontren“ für surinamische Senioren in Amsterdam, „Santosa“, eine Wohngruppe für surinamische Javaner in Rotterdam, und „Pousada“, ein Harmonika-Modell für türkische Senioren in Rotterdam. Diese Projekte wurden mit Unterstützung von Wohnungsbaugesellschaften und einem jeweiligen Verein der Gruppe verwirklicht. Vor allem die Wohngruppe Santosa möchte ausdrücklich auch mit anderen Ethnien nachbarschaftlich zusammenleben (11).

Ganz besonders aber muss das Projekt „Dementia Village“ genannt werden, das eine vollständig neue Ausrichtung der Sorge um schwer demente ältere Menschen verfolgt. In „Dementia Village“ sind die Basis des Wohnens kleine Wohngruppen unterschiedlicher Lebensstile, in denen auch ethnische Gruppen ihren Platz haben. Das Leben in diesem abgeschlossenen Dorf ist dem realen Leben nachgebildet. Das Projekt wurde von ehemaligen Heimpflegekräften in Kooperation mit Architekten geschaffen, die sich eine andere Idee vom Leben im späten Alter auch für sich selbst vorgestellt und daraus eine völlig neue Konzeption entwickelt haben (12).

Gibt es irgendein Anzeichen für eine neue „altersgerechte Stadt im Lichte des demografischen Wandels“? Sind die Sprüche der Kanzlerin nur zynische Phrasen? Von einem notwendigen Politikwandel für den Erhalt der Würde der alten Menschen gibt es jedenfalls keine Spur.

Die alten Menschen sind in eine Falle gelockt worden und mit ihnen die gesamte Gesellschaft. Wenn wir es nicht schaffen, aus dem Angst-Modus herauszukommen, beherrscht der Mythos COVID-19 das Terrain weiterhin,

 

Quellen und Anmerkungen:

Der fiktive Text „Beschreibung einer Utopie“ beruht auf Überlegungen und Szenarien des Vereins für Internationale Freundschaften (ViF) in Dortmund, eines Migranten-Senioren-Vereins seit 1989. Er wurde von Frührentnern aus geschlossenen Stahl- und Bergbaubetrieben im Zusammenhang mit der Aktion „Mach meinen Kumpel nicht an“ gegründet und hat sich bereits seit einigen Jahren mit Problemen des Alterns in der Migration beschäftigt. Die Autorin ist Mitbegründerin und heute noch aktiv im Verein.

(1) „Schutz und Sicherheit statt sozialer Kontakte. Eine kritische Analyse zur Situation von älteren Menschen in stationärer Pflege im Zeichen von Corona“. In: https://kda.de/schutz-und-sicherheit/
(2) https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aeltere-Menschen/bevoelkerung-ab-65-j.html sowie https://de.statista.com/statistik/daten/studie/730159/umfrage/migrationshintergrund-der-bevoelkerung-in-deutschland-nach-alter/
(3) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/786148/umfrage/armutsgefaehrdungsquote-von-senioren-nach-migrationsstatus-in-deutschland/quote-von-senioren-nach-migrationsstatus-in-deutschland/ sowie https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aeltere-Menschen/armutsgefaehrdung.html sowie https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Tabellen/migrationshintergrund-alter.html sowie https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Sozialhilfe/Tabellen/zgs-t06-2019-bq4-empf-bl-alter-geschl.html;jsessionid=062EC5FE0B9EC3ED66466BCB870F054E.internet722
(4) https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/04/PD20_140_228.html;jsessionid=39D662603403BC0005F7AF5C4B594E63.internet742
(5) Im Schnitt mussten Pflegebedürftige Anfang 2020 nach Angaben des Verbandes der Ersatzkassen (vdek) pro Monat 1.940 Euro aus eigener Tasche bezahlen https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Pflegeheim-Wie-teuer-ist-ein-Platz,pflegeheimkosten100.html.
(6) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/214562/umfrage/umfrage-zu-wichtigen-aspekten-fuer-ein-selbststaendiges-leben-im-alter/
sowie https://www.ifo.de/DocDL/ifodb-16-01-Marquardt-Einwandereralterung.pdf
sowie
Waltz, Viktoria, Ältere Migranten und Migrantinnen — Wo wohnen sie, wie leben sie, wie wünschen sie sich ihr Leben im Alter? In: Reuschke, Daria (Hg.), 2010, Wohnen und Gender. Theoretische, politische, soziale und räumliche Aspekte, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden ISBN 978-3-531-15910-2, S. 215-236 sowie Bursa, Ülkü, Eigentumsbildung türkischer Einwandererfamilien — ein Weg zur Befriedigung eines Grundbedürfnisses. In: Fischer-Krapohl, Ivonne, Waltz, Viktoria (Hg.), 2007, Raum und Migration. Differenz anerkennen — Vielfalt planen — Potenziale nutzen. Blaue Reihe. Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Bd. 128, S. 53-84, ISBN 978-3-88211-162-0
(7) Wie es in Seniorenwohnheimen der Minderheit geht beispielhaft hier in einer Einrichtung bei Stuttgart 2018: https://www.youtube.com/watch?v=a0u8kM3PlUE
(8) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/172651/umfrage/bedarf-an-pflegekraeften-2025/ sowie https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/108162/Neue-Erhebung-Krankenhaeusern-fehlen-mehr-als-50-000-Pflegekraefte
(9) Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Migrantenverbände LAGA (Hg.), Ältere Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen. Leben, Wohnen und Pflege zu Hause. Dokumentation der Fachtagung am 16. Januar 2008. Düsseldorf, S. 39
https://landesintegrationsrat.nrw/wp-content/uploads/2014/10/Dokumentation-Endfassung.pdf
(10) Hier eine Auswahl kultursensibler Wohnprojekte seit den 90er-Jahren in Deutschland, auf den Internetseiten sind auch YouTube-Aufzeichnungen zu finden.
Das DRK Multikulturelle Seniorenzentrum „Haus am Sandberg“ in Duisburg
https://www.drk-seniorenzentrum-am-sandberg.de/ueber-uns,
das Wohnprojekt „Stiftungsdorf Gröpelingen“ in Bremen
https://www.bremer-heimstiftung.de/wohnen/haeuser/stiftungsdorf-groepelingen/,
der Seniorenwohnkomplex des Frankfurter Verbands „Victor-Gollancz-Haus“ in Frankfurt am Main https://frankfurter-verband.de/einrichtung/victor-gollancz-haus sowie das Wohn— und Gemeindezentrum „Projekt Grimmelsiepen“ in Dortmund für eine alevitische Gemeinde. Leider bleibt davon wenig übrig, weil sich die deutsche Nachbarschaft enorm gegen die dazugehörige Moschee gewehrt hat. Da der Prozess sehr in die Länge gezogen wurde, sind viele der Wohnungsinteressenten schließlich abgesprungen, und übrig blieb nur wenig vom Konzept einer generationsübergreifenden Wohnsiedlung und schließlich noch die ungeliebte Moschee http://karatas-net.de/portfolio-view/grimmelsiepen/.
Das Projekt „Pro-Wohnen
— Internationales Wohnen Oberhausen-Tackenberg“, spezielle Wohnungen für pendelnde türkische Seniorenpaare und ihren Aufenthalt in Deutschland in den Wintermonaten ausgerichtet, in: LAGA 2008, S. 38, sowie Karhoff, Brigitte, Neues Siedlungsentwicklungsprojekt Pro-Wohnen — Internationales Wohnen Oberhausen-Tackenberg, in: IKOM Newsletter vom 27.02.2009, Bonn,
sowie ein Pflegestützpunkt in Berlin mit der ersten (!) Betreuerin mit Migrationshintergrund, 2016
https://www.youtube.com/watch?v=z0aZspyE3jI,
sowie
https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/NSP/SharedDocs/Projekte/WSProjekte_DE/Hannover_Kronsberg_Habitat_InternationalesWohnen.html.
(11) De Jong, I. E., Ethnisches und interethnisches Wohnen für ältere Migranten in den Niederlanden. Vortrag im Workshop „Zusammenleben in Nachbarschaften — Beitrag des Wohnens zur Integration von Zuwanderern“ des Amts für Stadtentwicklung und Bodenordnung der Stadt Hamburg und des Verbands Norddeutscher Wohnungsunternehmen, 3. bis 5. Mai 2004. Rotterdam http://www.wono.nl/pdf/Vortrag_De%20 Jong.pdf.
(12) The Hogeweyk® — normal life for people living with severe dementia https://hogeweyk.dementiavillage.com
Video 2013: https://www.youtube.com/watch?v=LwiOBlyWpk
Video 2019: https://www.youtube.com/watch?v=YSZhrxOkBZI

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