Die Nibelungen – viele Wunder, wenig Realität

 In Kultur, Roland Rottenfußer
Szenenfoto aus "Die Nibelungen", Fritz Lang

Szenenfoto aus “Die Nibelungen”, Fritz Lang

„Uns sind in alten Mären Wunder viel gesagt von Helden, reich an Ehren, von Kühnheit unverzagt, von Freude und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen, von kühner Recken Streiten mögt ihr nun Wunder hören sagen.“ So beginnt das „Nibelungenlied“, Anfang des 13. Jahrhunderts in mittelhochdeutscher Sprache verfasst. So ungreifbar und namenlos wie der Dichter sind auch die meisten historischen Hintergründe des Epos. Bei der Konstruktion des Mythos wurde wohl historisch nicht Zusammengehöriges vermengt, wurde mit den Stilmitteln der Verdichtung und der Personalisierung politischer Vorgänge ein explosives literarisches Gebräu angerührt, das die Fantasie der Nachwelt bis in die Gegenwart stimuliert. So wenig der Forscher auch an Konkretem aufzufinden vermag, spannend ist die Spurensuche nach den Quellen der „Nibelungen-Not“ allemal. (Roland Rottenfußer)

„Es wird einmal der größte Heroenkampf gewesen sein, der sich jemals in unserer Geschichte abgespielt hat“, rief der Reichsmarschall den versammelten Angehörigen der Wehrmacht zu. „Wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß ‚Der Kampf der Nibelungen’. Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut – aber sie kämpften und kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort.“ Gemeint war Stalingrad, wo das Debakel der 6. Armee Ende Januar 1943 schon absehbar war. Der Redner hieß Hermann Göring, und das sinnlose Morden hatte mit Stalingrad kein Ende.

Hatten die Bearbeitungen von Hebbel und Wagner im 19. Jahrhundert dem Nibelungen-Stoff weiteren künstlerischen Rang verliehen, so war das 20. Jahrhundert eine Epoche gefährlicher Missverständnisse. Knapp 30 Jahre zuvor war das Unwort von der „Nibelungentreue“ in Mode gekommen – angewandt auf die Waffenbrüder Österreich und Deutschland, die damals Seit’ an Seit’ in den bis dahin grausamsten Krieg der Weltgeschichte stolperten. Der Jura-Professor Franz von Liszt hielt am 18. November 1914 einen Vortrag im Rahmen der „Deutschen Reden in schwerer Zeit“. Darin heißt es, nie sei das „Nibelungenlied, das Hohelied von Heldenmut und Heldentreue, unserem Herzen so nahe gewesen, wie in diesen Tagen. Diese Treue zu wahren, dem Freunde Freund zu sein bis zum äußersten, dem Feinde Feind zu sein bis zum äußersten: das ist deutsche Art, das ist die Nibelungentreue. Und so soll unsere Losung auch fernerhin sein: Durch Treue zum Sieg.“

„Der deutscheste aller deutschen Stoffe“

An diesem „deutschen Wesen“, so muss man leider sagen, genas die Welt nicht. Vielmehr erkrankte sie schwer und wurde einem Abgrund zu getrieben, an dem gemessen das „Gemetzel bei Etzel“, dokumentiert im „Nibelungenlied“, wir ein harmloses Scharmützel anmutet. Fritz Lang, der geniale Schöpfer von „Metropolis“ schaffte es dann noch, den Nibelungenstoff durch eine starke rassistische Komponente zu „bereichern“. In „Kriemhilds Rache“ (1924), dem zweiten Teil seines Monumentalfilms „Die Nibelungen“, erscheinen die Hunnen wie Untermenschen, die, statt aufrecht zu gehen, wimmelnd wie Ungeziefer aus Löchern kriechen. „Ihr kennt die deutsche Seele nicht, Herr Etzel!“, sagte Dietrich von Bern dem Hunnen-König, als dieser die Auslieferung Hagens verlangte. Kein Wunder, dass das Epos im Dritten Reich geradezu lustvoll rezipiert wurde.

Zum Nationalepos in der Nachfolge Homers wurde das „Nibelungenlied“, entstanden Anfang des 13. Jahrhunderts aus der Feder eines Autors, der bis heute anonym geblieben ist, schon früh hochstilisiert. Schon Goethe hatte in „Dichtung und Wahrheit“ behauptet: „Eine Nation muss, wenn sie für irgend etwas gelten will, eine Epopöe besitzen.“ 1942, im Schatten der Hitler-Diktatur, versuchte sich Hans Naumann an einer finalen Definition des Genres: „Im Helden eines Nationalepos muss das Volk mindestens sein besseres Ich wieder erkennen, in der Gestalt überhaupt wie in den Idealen, denen sie wesentlich dient. (…) Das Volk selbst muss sich über Räume und Zeiten hinweg in Sinn und Kraft seiner geschichtlichen Erscheinung getroffen fühlen, muss deshalb die Dichtung als seinen ewigen Besitz betrachten, sich durch sie geeinigt und zusammengehalten sehen, sich daran aufrichten besonders in Zeiten der Not, muss Mut, Kraft und Selbstvertrauen immer neu daraus trinken, ewiges Bewusstsein seiner selbst.“

Selbstvertrauen? Das Nibelungenlied ist ein Epos aus Verliererperspektive, quasi eine „Ilias“ aus Sicht der Trojaner. Man lernt aus ihm, wie man sich in aussichtslose kriegerische Aktivitäten stürzt, eine Situation durch Sturheit eskalieren lässt und sich, in Blut wie in Pathos ertrinkend, niedermetzeln lässt. So klingt es wie Hohn, wenn Heiner Müller 1983 im Spiegel-Gespräch das Lied vom Untergang der Burgunden zum „deutschesten aller deutschen Stoffe“ erklärte.

Gundahars vernichtende Niederlage

„Dichtung und Wahrheit“ – im Fall des Nibelungenlieds überwiegt wohl die Dichtung. Seine historischen Ursprünge liegen tief im Dunkeln der weithin undokumentierten Jahrhunderte der Völkerwanderungszeit. Seit Ende des 4. Jahrhunderts lag burgundisches Siedlungsgebiet vermutlich im Rhein-Main-Neckar-Gebiet. Die historischen Belege für ein Burgundenreich am Mittelrhein bei Worms sind nur spärlich, als Quelle gilt u.a. eine Notiz des Prosper Tiro von Aquitanien (5. Jahrhundert). Es gibt bedeutende archäologische Funde burgundischer Herkunft wie das Gräberfeld bei Rosengarten, wo Urnen, Skelette, Waffen und Haushaltsgegenstände freigelegt wurden. Die Krieger, ursprünglich ostgermanischer Herkunft, hatten mit dem römischen Kaiser Konstantin III. einen Friedensvertrag geschlossen. Die Burgunden wurden verpflichtet, für ihr Siedlungsrecht im römischen Auftrag die Rheingrenze zu sichern. Anfang des 5. Jahrhunderts ist ein Burgunden-König namens Gundahar belegt, das Vorbild für den „Gunther“ der Sage. Gemeinsam mit dem Stamm der Alanen unter Goar ernannte Gundahar 411 den Gallorömer Jovinus zum Gegenkaiser. Dies berichtete der Geschichtsschreiber Olympiodoros von Theben.

Gundahar allerdings brach der Frieden und versuchte, seinen Einflussbereich nach Westen, in Richtung der Provinz Belgica I, auszudehnen. 406 überschritt er bei Mogontiacum (Mainz) den Rhein. Damit beschwor er einen Konflikt mit den Römern herauf. Einer der mächtigsten Männer im Reich war damals der weströmische Feldherr Flavius Aetius, der als junger Mann eine Kriegsgeisel der Hunnen gewesen war. 435 wurde ein burgundisches Heer von den Truppen des Aetius vernichtend besiegt und musste sich wieder auf sein ursprüngliches Gebiet, die Provinz Germania I, zurückziehen. Ein Jahr später vernichteten hunnische Hilfstruppen das Burgunderreich am Rhein endgültig, König Gundahar wurde dabei getötet. Die Hunnen standen im römischen Dienst und wurden nicht vom historischen Attila (Etzel) angeführt. Die verbleibenden Burgunder mussten sich daraufhin in die Region südlich des Genfer Sees zurückziehen. Um 1200, zur Zeit der Entstehung des Nibelungenlieds, lag das Herzogtum Burgund bei Arles und Dijan. Heute existiert eine französische Provinz Bourgogne, bekannt u.a. durch ausgezeichneten Wein.

Hagen bleibt im Dunkeln

Im Vergleich zu den Ereignissen des Nibelungenlieds fällt also auf, dass Gunther kein schwacher Herrscher war (ein Ruf, der ihn noch bis hinein in Wagners „Götterdämmerung“ verfolgt). Vielmehr war er eine tatkräftige und kriegerische Persönlichkeit mit fast schon zu viel Willenskraft – betrachtet man die desaströsen Ergebnisse seiner Politik. Historische Figuren, die eindeutig mit einem „Gernot“ in Verbindung gebracht werden können, gibt es nicht. In der „Lex Burgundionum“, einem römischen Rechtstext, der im Burgunderreich galt, wird allerdings ein Verwandter namens „Gislahar“ (Giselher) erwähnt.

Auch ist ein Phänomen wie die „Nibelungentreue“ aus den wenigen historischen Quellen nicht ableitbar. Es ging ja kein Volkstamm aus Solidarität mit einem anderen in den Tod, keine Einzelperson opferte sich – jedenfalls nicht historisch verbürgt – für eine andere. Hagen von Tronje, eigentlicher Gegenstand der besagten selbstzerstörerischen Treue, ist als historische Figur ohnehin kaum zu greifen. Manche führen die Herkunftsbezeichnung „Tronje“ gar auf „Troja“ zurück, was auf römische Wurzeln Hagens hinweisen würde. Es scheint damals unter Römern Mode gewesen zu sein, sich illustre Beinamen aus den homerischen Epen zu verleihen.

War die echte Kriemhild Römerin?

Kriemhild taucht in einem etwas anderen Zusammenhang auf. Der Hunnenkönig Attila soll nämlich 453 in seiner Hochzeitsnacht mit der Gotin Ildiko an einer bis heute rätselhaften Todesursache gestorben sein. „Ildiko“ erinnert klanglich an Kriemhild. Die Sage behauptet sogar, sie hätte ihren Gatten in der Brautnacht vergiftet. So spektakulär dies allerdings klingt, es hat mit der Handlung der Nibelungenlieds wenig zu tun. Etzel ist dort eine der wenigen überlebenden Figuren.

Noch eine zweite Frauengestalt könnte allerdings für Kriemhild Patin gestanden haben: Um 450 stand Attila in der Blüte seiner Macht und hatte das oströmische Imperium in der Schlacht bei den Thermophylen (447) vernichtend geschlagen. Im weströmischen Reich war derweil Honoria, die Schwester Kaiser Valentinians III., unter dem Vorwurf der Unzucht gegen ihren Willen mit einem ungeliebten Mann verlobt worden. Sie verlor damit auch ihren Anteil an Thron und Reich, weshalb man wohl auf einen Machkampf als Motiv schließen kann. Honoria bat Attila um Hilfe, sandte ihm einen Ring und bot ihm angeblich die Heirat an. Die historische Wahrheit dieser Geschichte ist oft bezweifelt worden. Sicher ist aber, dass Attila in der Folge die Hand Honorias forderte – und mit ihr die Hälfte des weströmischen Reichs. Er drohte Westrom mit Krieg, falls ihm dies verweigert würde.

Aetius, noch immer wichtigster Feldherr des Reichs, weigerte sich den Forderungen des Hunnen nachzukommen, woraufhin dieser 451 in Gallien einfiel. Bei der Entscheidungsschlacht auf den Katalaunischen Feldern wurde Attilas Heer dann von einem Verbund römischer und westgotischer Truppen zurückgeschlagen, was den hunnischen Herrscher zwang, sich in sein ursprüngliches Herrschaftsgebiet zurückzuziehen. Die grausame Schlacht, von der erzählt wurde, dass ein nahe gelegenes Bächlein vom Blut der Gefallenen anschwoll, könnte auch ein Vorbild für das „Gemetzel bei Etzel“ gewesen sein. Sollte tatsächlich eine Frau den Hunnenherrscher instrumentalisiert haben, um ihrer eigenen Familie zu schaden, so wäre dies eine auffällige Parallele zum Nibelungenstoff. Der „Nibelungenschatz“ um den es in Wahrheit ging, wäre demnach Honorias Reichshälfte.

Siegfried – historisch kaum zu fassen

Ein weiteres historisches Rätsel stellt natürlich die Namensbezeichnung „Nibelungen“ selbst dar. Dies ist in der Sage ja ursprünglich der Name für ein Zwergengeschlechte, dem Siegfried in seiner Jugend einen Schatz abspenstig gemacht haben soll. Nachdem die Burgunden um Gunther sich diesen Schatz angeeignet hatten, wurden sie selbst „Nibelungen“ genannt. An die reale Existenz von Zwergen und Drachen möchte der seriöse Historiker aber nicht gern glauben. So bleibt als eine der wenigen sinnvollen Deutungen des Begriffs „Nibelungen“ der Hinweis im „Waltharius“ (10. Jahrhundert), dem epischen Gedicht von Walther und Hildegund, das demselben Sagenkreis wie das Nibelungenlied entstammt. Die Burgunden werden dort als „Franci nebulones“ bezeichnet, nibelungische Franken. Freilich ist dies eine Antwort, die nur weitere Fragen aufwirft.

Siegfried, dem Nibelungenlied zufolge ein Prinz aus Xanthen, ist historisch beinahe so schwer fassbar wie Hagen. Dabei hilft es wenig, auf die Tradition der nordischen Sagen hinzuweisen, in denen Siegfried „Sigurd“ genannt wird und dem Geschlecht der „Völsungen“ angehört. In einigen Abschnitten der Liederedda hat Sigurd auch eine Vorgeschichte mit Brunhild, die eine Walküre ist und von dem Helden aus einer Art Dornröschenschlaf erweckt wird. Es wird angenommen, dass sich in Siegfried verschiedenen Heldenfiguren und sogar Volksstämme älterer Herkunft zu einer Kunstfigur vereinigt haben. Vielfach wird der Held als mythologischer Vertreter der Franken angesehen, die mit den Burgundern zeitweise in Konflikt standen. Besonders deren Herrscher Chlodwig I. weist in seiner Biografie einige Parallelen zu dem Drachentöter auf, er heiratete u.a. die Nichte eines Burgunderkönigs.

Nibelungentreue – bis heute

„Ich kann Euch nicht berichten, was dort noch geschehen ist, nur, dass man Ritter, Damen und auch die edlen Knappen den Tod ihrer lieben Freunde beweinen sah. Hier hat die Geschichte ein Ende. Dies ist der Nibelungen Not.“ So endet das Epos. Mit deutscher Nibelungentreue allerdings ist es möglicherweise noch nicht vorbei. Die US-Präsidenten Bush und Obama brauchen sich jedenfalls spätestens seit Installation der Merkel-Regierung über deutsche Anhänglichkeit nicht beschweren, wenn es um gefährliche Kriegseinsätze geht. Derzeit sitzt der Feind – wie damals – wieder im Osten, und das moderne Pendant zu „Treue“ heißt wohl „Verantwortung“ – hochgehalten vor allem von Bundespräsident Gauck. Es erscheint absurd, der Stimmungsmache der Kriegstreiber erneut aufzusitzen und den USA in einen neuen kalten Krieg zu folgen. Aber „Ihr kennt die deutsche Seelen nicht, Herr Putin.“

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