Die Reformation – eine dauerhafte Beunruhigung der Gesellschaft

 In FEATURED, Ludwig Schumann, Politik (Inland), Spiritualität

Friedrich Schorlemmer, Bildquelle: „Stiftung ÜBERBRÜCKEN“

Ludwig Schumann im Gespräch mit Friedrich Schorlemmer. Luthers Antisemitismus ist ein gar nicht so geheimes peinliches Geheimnis, das man bei Reformationsfeierlichkeiten gern unter den Tisch fallen lässt. Ohne, dass dies eine Entschuldigung wäre, steht die Verirrung des Reformators im Kontext einer mit Antisemitismus stark kontaminierten Gesamtgeschichte Deutschlands, die bis in die Gegenwart reicht. In seinem ausführlichen und tief gehenden Gespräch mit dem renommierten Theologen Friedrich Schorlemmer spricht Ludwig Schumann aber auch noch andere Aspekte an: das Ende der DDR und die Folgen, AfD und Flüchtlingsfrage, Bildung als gesellschaftliche Aufgabe sowie eine „romantische Weltsicht“, die Ehrfurcht vor dem Leben miteinschließt. (Ludwig Schumann)

Kürzlich kam Dr. Stefan Rhein, Vorstand und Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, in einem Gespräch, das ich für eine regionale Zeitung mit Blick auf das Reformationsjubiläum mit ihm führte, auf die Wittenberger „Judensau“ zu sprechen. Es war, wie gesagt, eine regionale Zeitung. Als diese aber das Interview auf ihre Facebook-Seite stellte, kamen Beiträge aus Großbritannien, aus der Schweiz und aus Österreich, in denen die Schreiber dringlich die Abnahme dieses Reliefs an der Wittenberger Stadtkirche St. Marien, Luthers Predigtkirche, forderten. Die Diskussion um dieses im 14. Jahrhundert angebrachte Relief hat im Vorfeld des Reformationsjubiläums ohnehin an Heftigkeit zugenommen. Man möge doch nun endlich dieses „Schandmal“ und „öffentliche Ärgernis“ von der Kirche nehmen und in ein Museum schaffen.

Schorlemmer: Der Antijudaismus Martin Luthers ist erschreckend. Das Wissen darum ist freilich nicht neu. Mir scheint, die sich da an Luthers Aussagen dazu goutieren, fragen nicht, wer zu dieser Zeit kein Antijudaist war. Die Humanisten, wie Erasmus von Rotterdam oder der Lehrer Philipp Melanchthons, der Philosoph und Jurist Johannes Reuchlin, mehr oder weniger alle, die sich in dieser Zeit geäußert haben, haben das so getan. Luther selbst hat am Ende seines Lebens in einer furchtbaren und erschreckenden Weise dazu geschrieben: „Warum soll es also vor allem den Fürsten nicht gestattet sein, so ausgesprochene Feinde, so grimmige Bestien auszustoßen, warum sie nicht aus den Gebieten der Christen austreiben? Man muss jenen ekelhaftesten Auswurf in kümmerliche Finsternis versinken lassen. Auch wenn man diesen unendlichen Pöbel von Beschnittenen unter den Christen nicht mehr duldet, wird es immer noch viele von diesen Scheusalen geben, die sich unter den Heiden herumtreiben können.“ (zitiert nach Guido Kisch, Zäsius und Reuchlin: eine rechtsgeschichtlich-vergleichende Studie zum Toleranzproblem, Pforzheim 1961).

Aber gab es diese Diskussion um die Abnahme des Reliefs nicht schon vor dem politischen Umbruch?

An der südlichen Außenwand der Marienkirche, das wusste jeder Wittenberger, ist oben ein aus dem 14. Jahrhundert stammendes Relief angebracht. Es ist aber von unten nicht zu erkennen, was es darstellt. Insofern blieb die „Judensau“ eher unentdeckt. Dieses antisemitische Motiv wurde im Mittelalter populär. Es „zierte“ (teilweise bis heute) öffentliche Gebäude und Kirchen und diente damals dazu, Juden zu verunglimpfen und zu verspotten Erst als die Restaurationsarbeiten an der Stadtkirche begannen und sie eingerüstet war, wurde das Thema des Reliefs publik und führte sofort auch zu leidenschaftlichen Gesprächen. In einem langen Diskussionsprozess, in den Jahren 1978 bis 1988, haben wir über das Thema, aber auch über die Abnahme dieses Schandmals diskutiert. Wie gesagt, das Relief ist ein Ausdruck der antijudaistischen Grundströmung der Zeit. Dieser Sündenbock-Mechanismus, der die Juden für alles verantwortlich machte, für Missernten und Kindersterblichkeit, für Pest, Cholera und Krieg, entschuldigt freilich weder Luther noch die Humanisten als die entscheidenden Denker der Renaissance. Auch für sie als Kinder ihrer Zeit galten die Juden als die Sündenböcke. Das muss man im Umfeld von 500 Jahren Reformation mitbedenken! Ebenso: Der Nationalsozialismus, der vor drei, vier Generationen Judenvertreibung und den Holocaust in deutschem Namen betrieb, fand in Deutschland leider auch Mehrheiten. Die Mehrheit der evangelischen Christen in Deutschland wählte anlässlich der Kirchenwahlen 1933 die mit den Nationalsozialisten paktierenden Deutschen Christen. Für die Bekennende Kirche gingen diese Wahlen verheerend aus. Noch in dem im Jahre 1945 veröffentlichten Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland werden die Verbrechen an den Juden mit keinem Wort erwähnt. Wir konnte das Martin Niemöller, der von 1937 bis 1945 im KZ inhaftiert war, unterzeichnen?
Ich will damit sagen: Wenn man sich zu diesem Thema eine Person herauspickt, dann muss man zugleich sagen: Seht her, das ist unsere gemeinsame, erschreckende Geschichte. Die reicht bis in unsere Zeit! Ich kann nur hoffen, ich bin mir aber nicht sicher, ob Christen, die für Freiheit und Gerechtigkeit eintreten, bei heutigen Kirchenwahlen wirklich mehrheitsfähig sind.
Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zu kommen: Als Ergebnis dieses lang andauernden Wittenberger Diskussionsprozesses um das Schandmal an der Marienkirche kamen wir zu dem Schluss, dass man Geschichte, auch wenn sie unangenehm ist, nicht wegbauen kann. 1988 wurde darum im Auftrag der Stadtkirchengemeinde unterhalb der „Judensau“-Darstellung eine Gedenkplatte des Bildhauers Wieland Schmiedel, die den Holocaust zum Thema hatte, in den Boden eingelassen, auf dem auch die Reformatoren gelaufen sind, um auf die historischen Folgen des Judenhasses aufmerksam zu machen.

Das Reformationsjubiläum naht zu einer Zeit, in der es scheint, dass es den Menschen eher gleichgültig ist, weil sie sich angesichts der vielen Flüchtlinge in Angst bewegen, weil für sie seit den Jahren, in denen soziale Rückwärtsbewegungen als politische Reformen verkauft wurden, verschaukelt fühlen, in der sich die Gesellschaft immer stärker aufspaltet in besitzende und nicht besitzende Schichten. Ich höre wenig Visionäres zum Thema Reformation. Dient das Jubiläum lediglich dem Glanz vergangener Tage?

Martin Luther hat seinen Reformansatz immer als einen von innen kommenden Prozess beschrieben: Du als Mensch vor Gott kommst zu einer Erneuerung in deinem Denken, Fühlen, Trachten, Hoffen und Glauben. Du bist jemand, der als ein befreiter Mensch sich die Freiheit nimmt, weil sie ihm geschenkt ist, und der eingedenk dessen in der Welt handelt. In seiner berühmten Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ legt er dar, dass niemand dem einzelnen Menschen Vorschriften machen kann, schon gar nicht die Mächtigen, auch nicht die Kirche. Vor Gott wird der einzelne Mensch frei. Weil er frei ist, handelt er auch wie ein Befreiter. Der Grundsatz Luthers ist: Vertrau dem Gott, der dir gnädig ist. Und dann tu das Fällige. Das Fällige ist nach Luther, „was Christum treibet“, was also seine Sache weiterbringt. Der protestantische Begriff von Freiheit ist immer die Freiheit von etwas und für etwas. Es ist die Freiheit von Bevormundung und für das Wohl des Nächsten. Das ganze Gesetz und die Botschaft der Propheten lassen sich in dem Satz zusammenfassen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Die Freiheit wird uns geschenkt, dass wir uns aneinander als Mitmenschen erfahren. Wenn wir unsere gegenwärtige Situation verfolgen, können wir kaum zeitgemäßer denken.
Wenn wir das begreifen, dass Freiheit immer eine Freiheit für etwas ist, wissen wir auch, dass der Prozess der Reformation von Kirche und Gesellschaft gar nicht zu Ende gehen kann.

1989, das Jahr des politischen Umbruchs, steht für eine Zeitenwende. Die Gesellschaft, die eigentlich die Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte, endete in der Freiheit, in welche die Menschen aufbrachen. Die Zeit der Bevormundung war mit diesem Datum vorbei. Welchen Themen müssten sich Kirche und Gesellschaft nun anlässlich des Jubiläums zuwenden?

Luther wandte sich damals gegen den Ablasshandel seiner Zeit. Ablass kaufen und verkaufen ist nicht Sache des befreiten Menschen, er wird damit vielmehr zum Teil eines Schachers gemacht: Gibst du mir Geld, kaufst du dich oder deine Eltern von Jahren des Fegefeuers frei. Im Ablasshandel seiner Zeit sieht Luther, dass Gott mit diesem Denken zum Großbanker gemacht wird, der vorzeigbare Guttaten aufrechnet gegen getane Sünden. Luther hat nun grundlegend versucht, der Kirche zu sagen: Dieses Ablasswesen macht Gott zu einem Scharlatan.
Wer nun aber meint, das wäre ein Gedankengut der Vergangenheit, der irrt. Dieses Denken umfasst inzwischen die ganze Welt. Der große Weltschacher, gegen den müssen wir heute angehen. Wer heute seinen Nächsten liebt, der muss auch in die Zeitung sehen und sich fragen: Was ist los mit und in dieser Welt? Weshalb sind so viele Länder auf dieser Welt so arm gemacht? Weil wir, die Länder der westlichen Hemisphäre, nach wie vor die Welt als unser Ausbeutungsobjekt betrachten und danach auch handeln. Ob sie ausgefischt oder ausgeschürft wird, das Ergebnis dieses Tuns landet bei uns. Ich habe in Mosambik riesige Sojafelder gesehen. Da wurden die Kleinbauern, die vorher das Land bebaut hatten, von den Großkonzernen von ihrem Land verjagt, weil es dort keine Grundbücher gibt, mit denen sie ihren Besitz hätten nachweisen können. Das dort angebaute Soja dient als Futter für die schweinische Massentierhaltung bei uns. Diese Tiere werden ja nicht als unsere Mitkreaturen behandelt, sondern als „Vorfleischprodukte“. Dafür werden in Afrika Menschen verjagt, in Südamerika wird der Regenwald gefällt und die dort lebenden Einheimischen werden vertrieben. Die Kleinbauern dort haben keine Stimme, weil es keine funktionierende Gerichtsbarkeit gibt. Bei aller Unvollkommenheit, aber das ist ein Pfand, diese Unterscheidung in die drei Gewalten, in Legislative, Exekutive und Judikative, für das wir dankbar sein können!
Die Frage nach der Gerechtigkeit muss wieder auf den Tisch. In meinem Buch „Unsere Erde ist zu retten“ habe ich geschrieben: „Wir brauchen eine Haltung, die puren Egoismus verhindert, die materialistische Gier nicht legitimiert und Verantwortung für die künftigen Generationen übernimmt.“

PEGIDA in Dresden, auf AfD-Wahlversammlungen sind hetzerische Rede zu hören, aber auch Menschen zu sehen, die von der Realpolitik tief verunsichert sind, die über viele Jahre ihre Wut in sich hineingefressen haben und nun denken, ein Ventil dafür gefunden zu haben.

Der Mensch, der so handeln kann, wie ich es beschreibe, hat ein Fundament. Er weiß, dass er befreit ist. Und er weiß, dass er aus diesem Wissen heraus eine Verantwortung wahrnehmen will. Er ist nicht verführbar. Er tritt nicht nach denen unter ihm, seine Kritik trifft die Richtigen: Die Großkonzerne, die an einem Frieden nicht interessiert sind, weil sie mit der Herstellung von Waffen und militärischem Gerät in solchen Zeiten geradezu Geld scheffeln können. Er sieht, was die technisch hochgerüsteten Trawler vor den Küsten Afrikas anrichten: Erst fischten sie die Küsten Somalias leer und alle Welt wunderte sich, wieso es auf einmal diesen Zuwachs an Piraterie gab. Ietzt wiederholt sich das Drama vor den Küsten Mauretaniens und Senegals. Unser Problem sind nicht die Menschen, die zu uns kommen, weil sie um Leib und Leben fürchten, sondern die, die an diesem Unglück, an diesen Verbrechen Geld verdienen.
Da besetzen wir zwei Kernthemen der Reformation und haben sogleich die Begründung dafür, dass der Prozess der Reformation weitergehen muss: Die Verantwortung für die Schöpfung und die Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen, zu denen der Mitmensch zählt.

Verantwortung für die Schöpfung: Worüber haben wir da zu reden?

Unser heutiger Begriff Kultur leitet sich vom lateinischen agricultura her, der Pflege des Ackers, zu dem eine Bildung gehört. Das umfasst der Begriff Landwirtschaft. Das älteste überlieferte lateinische Buch stammt von Cato dem Älteren (234 v. Chr.-149 v.Chr.) und heißt: „De agri cultura“, also „Über die Landwirtschaft“. Was die Pflege des Ackers betrifft, denkt der Landwirt, der Bauer, in Generationen: Er pflegt den Boden für die jeweils künftige Generation. Wobei „Bauer“ der alte Begriff ist, der aus dem Mittelhochdeutschen kommt. von „gebure“, also dem Mitbewohner oder Nachbarn, einem Begriff, der die Übernahme von Verantwortung für den anderen in seiner Bedeutung trägt, während „Landwirt“ aus den beiden Worten „Land“ (beinhaltet auch „Landschaft“) und „Wirt“, also „Wirtschafter“, auch „Ökonom“, hergeleitet ist. Bereits in der Berufsbezeichnung schwingt die Verantwortung für die Schöpfung mit, für den verantwortungsvollen Umgang mit ihr samt allen Kreaturen.
Nun frage ich: Wo bleiben denn die Bauern, die wissen, dass der Boden auch Erholung braucht, weil er auch in Generationen noch tragen soll? Alle Schöpfung bedarf der Ruhezeiten. Für eine kurze Zeit nach 1990 gab es tatsächlich blühende Landschaften, in allen Farben. Damals erhielten die Bauern von der EU Geld für stillgelegte Flächen. Es gab diesen kurzen Moment, in dem wir sehen konnten, wie eine Landschaft aussieht, wenn statt der Profitgier die Vernunft Ackerbau betreibt. Heute werden die Wiesen umgepflügt, um Mais anzusäen. Jahr um Jahr Mais. Gedüngt mit Unmassen Gülle, mit der sich der Boden wieder mit Nitrat anreichert. Die Verrapsung und Vermaisung unserer Landschaften ist ein Verbrechen am Mutterboden, dessen Folgen die nächste Generation in aller Härte treffen wird. Aber auch die Rodung des Regenwaldes, die Vertreibung der afrikanischen Kleinbauern für die unsägliche Produktion unseres Billigfleisches wird auf uns, mindestens auf die nächste Generation zurückfallen. Die wird auslöffeln müssen, was wir gegen jeden Verstand einbrocken.
Dazu gehört auch, dass sich heute die Bauern im Namen eines unbewiesenen Fortschritts bestechen lassen, überall im Land, selbst in der Börde, wertvolles Land mit Beton zu überziehen, dass man diese 200 Meter hohen Riesenwindräder aufstellen kann! Unterhalb der Windräder jagt kein Milan mehr, so dass man zu allem Überfluss Gift streuen muss, um die Zahl der Mäuse zu begrenzen.
Wie gesagt: Unser Umgang mit der Schöpfung ist ein bleibendes Thema der Reformation. Dazu gehört die Frage, wie wir mit den Ressourcen dieser Erde umgehen, beispielsweise mit dem Wasser.
Hoimar von Ditfurths Buch „Lasst uns ein Apfelbäumchen pflanzen – es ist soweit“ erschien bereits 1985. Jetzt ist es tatsächlich höchste Zeit!
Und noch eines muss man sagen:
Es ist diese rücksichtslose Verfügungsgewalt über das Eigentum durch etliche MEGA-Konzerte, diese nicht mehr zu übersehende individuelle, kollektive und strukturelle Gier, welche die gesamte Gesellschaft ergreift und zerstört, die nun andererseits zu einer unausweichlichen Frage führt: „Wer verfügt über wie viel“, habe ich sie in meinem Buch benannt. „Und welcher Besitz hat welche politischen, rechtlichen, ökonomischen, ökologischen, psychologischen, militärischen Folgen?“ Das muss man konsequenterweise dann auch fragen. Mit anderen Worten, ich zitiere noch mal: „Zukunftshoffnungen gibt es nicht mehr ohne Kapitalismuskritik, die durchaus an den Systemgrundlagen rüttelt.“ Carl-Friedrich von Weizsäcker sagte bereits 1986, dass neben der Friedensfrage für ihn, für das Überleben der Menschheit, die ausbleibende Weltgerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung in all ihrer Vielfalt ganz oben auf der Agenda stehe.

Wir haben kein Defizit an Informationen. Auch keines an Informationsmöglichkeiten. Wie schafft man es, aus dem, was der Einzelne weiß, eine gesellschaftliche Handlungsoption zu gewinnen?

Die Welt ist ein Gegenstand der finanziellen Aufteilung geworden. Alles wird unter Gewinngesichtspunkten gesehen und bewertet. Wir sind, um das biblisch zu sagen, einer der Hauptsünden, nach katholischer Tradition einer der sieben Todsünden, verfallen, der Gier. Gier würde ich so definieren: Mehr haben wollen, als man je gebrauchen kann, bei gleichzeitigem Wissen, dass andere nicht einmal das haben, was sie zum täglichen Leben brauchten. In meinem Buch habe ich es mit Bezug auf die gewünschte Kommunikation so beschrieben: „Wer die Welt ändern will, wer den großen Zukunftsproblemen begegnen will, muss es als jemand tun, der die Welt liebt, der ein gutes Verhältnis zu seinen eigenen Bedürfnissen, zu seiner Sinnlichkeit findet. Die Voraussetzung dafür ist Staunen, Danken und Sich-Freuen, was an dieser Welt einfach unglaublich ist zu sehen und zu schmecken, zu riechen, zu betasten und zu hören ist.“ Das setzt freilich voraus, dass wir Befreiung erlebt haben. Unter dem Gesichtspunkt, dass bei Luther der Reformprozess ein innerer ist, heißt das: Wir sollen nicht beklagen, was wir nicht haben, sondern dankbar sein für das, was wir haben.
Das heißt: Wir haben nichts schönzureden. Was auf dem Spiel steht, muss in aller Härte benannt werden. Aber wir müssen die Hoffnung behalten, auch wenn vieles gegen die Hoffnung spricht.
Und noch etwas: Was wir wieder brauchen, ist eine Mundkultur. Die hatten wir in der DDR. Damals mussten wir uns mithilfe der Mundkultur verständigen, weil wir keine anderen Medien zur Verfügung hatten. Das klappte hervorragend. Heute brauchen wir sie wieder, weil wir uns bei der Fülle und Beliebigkeit der erreichbaren Informationen sagen müssen, welche Informationen es lohnt, wahrzunehmen. Wir brauchen die Mundkultur als Kompass durch die Flut der vorhandenen Informationen.

Wir haben über ein Dauerthema der Reformation noch nicht gesprochen: die Bildung. Mit der Reformation, mit dem neuen Selbstverständnis der Gemeinden, wurde Bildung zu einer Grundvoraussetzung, teilzuhaben. Ich will keinen Bildungspessimismus verbreiten, aber mir scheint, die Familie fällt heute beim Einüben kommunikativer und ethischer Fähigkeiten in erschreckendem Maße aus. Für einen qualifizierten Austausch stelle ich mir das Einüben in einem „Lebensunterricht“ vor: Kochen, Schulgarten, Werken, Begegnungen mit der Arbeitswelt der Erwachsenen, Deeskalationsunterricht.

Vor der Reformation war Bildung eine Sache der Eliten. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Reformation war, die Bildung zu demokratisieren. Ich denke, dass die so genannten Nebenfächer wie Musik, Sport, aber auch Kochen und Backen, wieder stärker ins Blickfeld rücken müssen, weil man da so vieles nebenbei lernt: Fairness beispielsweise beim Sport, Singen im Fach Musik. Die motorischen, die reflexiblen Dinge sind dabei wichtig. Das Wissen und das Entwickeln des Gefühls für die Verletzlichkeit der Natur. Carl Friedrich von Weizsäcker hat das einmal sehr schön gesagt, indem er die Schule als ein ganzheitliches Betrachten dieser Welt genannt hat, das den Menschen frei macht. Sprache! Die Schüler begeistern, Luther, Goethe, Nietzsche, Brecht zu lesen und so den Sprachschatz zu erweitern. Wer seinen Sprachschatz erweitert, erweitert seinen Horizont, erweitert die Wahrnehmung seines Lebens. Mit diesem gewonnenen Sprachschatz kann man eben nicht nur beschreiben, dass eine Blume blüht, sondern die Farbenpracht einer Wiese besingen, sofern es noch farbige Wiesen gibt. Eine solche aber könnte man zumindest im Schulgarten anlegen. Die Kinder müssen im Unterricht wieder lernen, dass hinter jedem Lebensmittel, das ich einkaufe, ein Herstellungsprozess liegt, der einen Boden braucht, der auch in Generationen noch bebaubar sein muss, dass wir Mitgeschöpfe haben, die einen Anspruch auf ein gutes Leben haben, auch oder gerade, weil wir sie irgendwann einmal essen werden.

Das heißt, wenn wir heute Reformation als fortlaufenden Prozess begreifen, müssen wir heute, was die Gesellschaft betrifft, wie damals auch, bei der Bildung wieder anfangen?

Ja, natürlich. Sich ein Bild von der Welt machen und überprüfen, ob das Bild, das man sich von der Welt gemacht hat, auch stimmt. Das Bild von der Welt müssen wir uns selbst machen, indem wir sehr frühzeitig etwas von ihr erfahren. Wobei wir dabei sofort auch erfahren, dass es nicht geht, wenn wir unser Teil nicht dazu tun.
Novalis hat das bereits 1800 in seinem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ sehr schön beschrieben:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Die romantische Weltsicht ist eine, die von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ herkommt, auch wenn sie später „faschistisch nutzbar“ gemacht wurde. Sie ist eine Weltsicht, die, was ist, durchleben will. Die ganze romantische Literatur hat sich stark auf Frühling und Herbst bezogen. Es gibt in der deutschen Romantik unendlich viele Herbstgedichte. Sie haben in der Literatur ihre Spuren hinterlassen. Beispielsweise bei Rilke. Wer das in der Natur erlebt, in der Literatur widergespiegelt findet und das in sich aufnimmt, merkt, was für einen inneren Reichtum er hat. Der muss das Leben nicht mehr im Smartphone suchen.
Das Lösungswort ist die unmittelbare Begegnung mit Natur, mit Kultur. Zum Lebensunterricht gehören Besuche in Altersheimen, Behindertenheimen, Jugendheimen, eines Krankenhauses, oder auch einer Produktionsstätte, gehört die Kommunikation mit Menschen unterschiedlicher Generationen. Ich wollte nur sagen: Der Ansatz der Polytechnischen Oberschule, wenn man mal von deren ideologischer Aufladung absieht, war nicht so schlecht. Da bekamen auch die Kinder von betuchten Leuten beim Aufsammeln von Kartoffeln, Herausreißen von Rüben, wenn sie dann das Grün abhackten, Schwielen an den Händen. Wir brauchen eine Schule, welche der Entfremdung der Kinder von den natürlichen Lebens- und Herstellungsprozessen gegensteuert.
Dafür brauchen wir in der Politik, unabhängig von der Parteifarbe, Menschen, die wissen, dass es nicht reicht, beim Ökobauern und im Reformhaus einzukaufen, sondern die das Soziale gleichzeitig auch mit im Blick haben. Da wären wir wieder bei der Gerechtigkeitsfrage. Bildung. Ja, ein bleibender Auftrag der Reformation: Die Reform der Bildung.

Wenn ich das zusammenfassen darf, scheint mir, dass die Reformation so etwas wie eine dauerhafte Beunruhigung der Gesellschaft ist.

Schorlemmer: Der Gesellschaft und der Kirche. Eine Beunruhigung mit dem Ziel, dass man ehrlicher zu sich, zu seiner Welt, zu seinen Mitmenschen ist und sich des Reichtums der Welt vergewissert, der wunderbaren Schöpfung, in die uns Gott gestellt hat.
Mit der Demokratisierung der Bildung begann der Weg in die Demokratie. Insofern ist das Reformationsjubiläum auch der Ruf nach den Menschen, die Demokratie gestalten, verändern, die eingreifen, sich Tradition aneignen, aber auch das Eigne hinzufügen, die Verkrustungen aufbrechen wollen. Mit dem Verdienst der Reformatoren, Bildung zum Allgemeingut unabhängig von Geburt und Stand werden zu lassen, wurde die Grundlage der demokratischen Gesellschaft gelegt. Wir sollten uns dessen wieder vergewissern, dass Bildung keine Selbstverständlichkeit ist, aber die Möglichkeit, sie zu erwerben, uns dankbar machen sollte.

Erschienen in „oda“ (Ort der Augen) – Literatur aus Sachsen-Anhalt 1/2017

Buchtipp: Friedrich Schorlemmer, Luther: Leben und Wirkung, atb Verlag

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