Die schlimmste Gewalt geht von den Herrschenden aus

 In FEATURED, Politik (Inland)

Ist “linke Gewalt” wirklich unser Hauptproblem?

Nach dem G 20-Gipfel in Hamburg veröffentlichte Albrecht von Lucke in den “Blättern für deutsche und internationale Politik” den Artikel „Die neue Linke und die alte Gewaltfrage“. Auch “Hinter den Schlagzeilen” hat auf den Artikel verlinkt. Die dort aufgeworfenen Fragen sind brisant: Ist das Gewaltmonopol des Staates in  einer Demokratie zu respektieren? Und sollte sich die Linke nach der “Randale” im Schanzenviertel verschärft mit Gewaltneigung in den eigenen Reihen auseinandersetzen? Georg Rammer wirft in seiner Erwiderung an Lucke ein paar unbequeme Fragen auf. Etwa: Wie demokratisch ist eigentlich unsere “Demokratie”? Sein Fazit: Ein idealisiertes Bild von Deutschland hilft ebenso wenig weiter wie eine übermäßige linke Selbstkritik, die die Vorwürfe des politischen Gegners lediglich internalisiert und so sein Spiel mitspielt. (Georg Rammer)

Guten Tag, Herr von Lucke!

Ihr engagierter Artikel zur „linken Gewalt“ anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg bedarf einer kritischen Gegenrede. Nicht, weil ich Gewalt befürworten würde – ganz im Gegenteil: Die brutale Polizeigewalt, die ich erlebt habe, hat in mir genauso Bestürzung hervorgerufen wie die destruktive Randale irgendwelcher Leute, die ihre Wut auf diese Weise ausagierten. Aber Ausagieren ist eben keine politische Strategie und so setzte es  sich über Anliegen und Ziele der meisten G20-GegnerInnen hinweg.

Über diese grundlegende Einschätzung können wir vielleicht Einvernehmen erzielen. Aber nicht über Ihre Begründungen und Schlussfolgerungen: Diese halte ich für einseitig und gefährlich. Ja, gefährlich, da Sie m.E. von einem vollkommen unrealistischen Idealbild politisch-wirtschaftlicher Machtverhältnisse ausgehen und diese damit verfestigen helfen.

Für Sie „ist und bleibt“ das staatliche Gewaltmonopol „eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften“ (S. 8). Formale Rechte haben nach Ihrer Darlegung im bürgerlichen Rechtsstaat „ihre Verankerung erfahren“ – deshalb fordern Sie dessen Akzeptanz. Sie postulieren eine Auseinandersetzung in rechtsstaatlichen Bahnen, „solange es sich bei der Bundesrepublik um eine Demokratie handelt“. Und Sie wagen die Behauptung, nur die „linke Gewalt“ habe eine vollkommen andere öffentliche Bewertung des G20-Gipfels verhindert. Wenn das Ihr Bild von staatlicher Gewalt, den politisch-wirtschaftlichen Machtverhältnissen und dem Funktionieren der Medien ist, dann leben wir allem Anschein nach in verschiedenen Welten.

Immerhin haben nicht zuletzt die Blätter, deren Redakteur Sie sind, Analysen in großer Zahl abgedruckt – und in den täglichen Nachrichten erfahren diese eine ständige Bestätigung -, die Ihre Sicht auf die Verhältnisse erstaunlich naiv und affirmativ erscheinen lassen. Es würde diesen Rahmen sprengen, die lange Liste erschreckender Ereignisse und Entwicklungen aufzuzählen: Die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, die von der Demokratie nur noch eine Fassade übrig lassen. Die Menschen- und Völkerrecht missachten, die den sozialen Rechtsstaat ad absurdum führen. Sie werfen den Antiimperialisten vor, ihnen seien Menschen egal: Ich kenne keine Entscheidung über Kriege und Rüstungsexporte, über Flüchtlingsabwehr und `Freihandels´verträge, zur Klimakatastrophe oder zur Begünstigung der Nahrungsmittel-, Chemie- oder Finanzindustrie, die den Menschen in den Mittelpunkt gestellt hätte. Sie sehen in Hamburg den „Vorschein des Schlimmeren“. Ist das wirklich die richtige Gewichtung angesichts der wachsenden Kriegsgefahr, der obszönen Ungleichheit und der Begünstigung menschenfeindlicher Ideologien?

Es gibt, Herr von Lucke, viele Menschen, die diesen Staat allenfalls für formal demokratisch halten, die (auch in den Blättern) eher von „tiefem Staat“ reden. Die Politik ist für viele nicht erst seit Präsident Trump menschenfeindlich und sie wissen, dass die Verwertung des „Humankapitals“ und die Bewertung der Menschen nach Nützlichkeit  Grundlage dieses neoliberalen Kapitalismus ist und zu Verrohung und Rassismus führt. Und dieser tötet Millionen von Menschen, treibt sie in die Flucht, zermürbt sie körperlich und seelisch. Auch in Deutschland leiden viele unter diesen Verhältnissen und sie wissen keinen Ausweg aus dieser Menschen verachtenden Megamaschine. Für sie hat diese Staatsgewalt keine Glaubwürdigkeit mehr, jedes Vertrauen ist verloren gegangen.

Verzweiflung und daraus resultierende Gewalt stellen keine rationale Handlungsstrategie dar. Aber ich halte Ihre Forderung für verfehlt, wonach die zentrale Aufgabe unter Linken und Liberalen „die Auseinandersetzung mit der linken Gewalt“ (S. 5) sei. Setzen wir uns mit Hintergründen und Folgen der Riots (und der Polizeigewalt!) auseinander. Aber die zentrale Aufgabe ist nach wie vor der Widerstand gegen die Politik, die in Hamburg von den zwanzig Weltherrschern vertreten wurde. Unsere Aufgabe, Herr von Lucke, als Intellektuelle, als kritisch engagierte BürgerInnen und Aktivisten, denen Menschlichkeit und echte Demokratie viel bedeuten, sollte es sein, Formen des Widerstandes und des zivilen Ungehorsams zu entwickeln, die die Ungleichheit, die Kriege, den neuen Kolonialismus und die menschenfeindlichen Ideologien zu überwinden vermögen.

Wir machen uns mitschuldig an dieser menschenverachtenden staatlichen Gewalt, wenn es – mit unsere aktiven Beteiligung – nicht gelingt, Strategien für eine Änderung dieser Welt voller Gewalt und Menschenfeindlichkeit zu planen und durchzusetzen. Solang die „westliche Wertegemeinschaft“ im Interesse von Konzernen und Banken Länder mit Krieg überzieht, durch Freihandel und Klimazerstörung Erdteile kaputt macht, die Menschen mit zynischer Gleichgültigkeit dem Verderben überlässt, müssen wir sehr wohl Antworten finden auf die Frage, ab wann Notwehr ethisch verantwortbar und notwendig wird und wie sie angepackt werden kann. Für die Ausgegrenzten hier, für die Flüchtlinge an der EU-Grenze, die Sterbenden im Jemen, die Menschen in Griechenland oder in Libyen, Syrien, Afghanistan oder im Irak oder den ausgebluteten Ländern Afrikas. „Summer of Resistance“: Damit werben die Blätter im letzten Heft.

 

 

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