Die überschätzte Protestbewegung

 In FEATURED, Politik (Ausland)

Demonstranten marschieren durch Tel-Aviv. Quelle: Tomer Apfelbaum, 2023, von der Facebook-Seite von Dov Hanin.

Die Protestbewegung gegen Israels rechtsextreme Regierung ist gespalten. Die deutschen Medien überbewerten die Bedeutung der Protestbewegung in Israel gegen die neue rechtsextreme Koalition. Obwohl die Demonstranten über die Politik und die Aussagen der neuen Regierung empört sind, bieten sie keine Alternative zu ihrer rassendiskriminierenden Politik. Eine Protestbewegung ohne Beteiligung der Palästinenser kann nicht erfolgreich sein. Quelle: BIP

 

Mehr als 100 zivilgesellschaftliche Organisationen starten eine Kampagne zur Sammlung von einer Million Unterschriften von EU-Bürger*innen, um den europäischen Handel mit illegalen Siedlungen in besetzten Gebieten zu beenden.

Die Europäische Bürgerinitiative ist ein offizielles Instrument, um die Stimmen der EU-Bürger zu verstärken und ihre demokratische Beteiligung zu verbessern. Wenn die Initiative innerhalb eines Jahres nach ihrem Start eine Million Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern in allen EU-Mitgliedstaaten sammelt, ist die Europäische Kommission gesetzlich verpflichtet, den Vorschlag zu prüfen, mit den Unterzeichnern zu diskutieren und gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten.

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) unterliegt EU-Regularien:
https://www.cidse.org/de/2022/04/07/take-action-to-end-european-trade-with-illegal-settlements/
Hier kann man teilnehmen.

Deutsche Zeitungen und die ARD-Tagesschau berichten nur wenig über den Umfang der antidemokratischen Maßnahmen der neuen rechtsextremen israelischen Regierung, die Eskalation der täglichen Gewalt gegen Palästinenser und die rassistische Hetze führender Politiker. Sie berichten jedoch sehr viel über die Protestbewegung innerhalb der israelischen Gesellschaft gegen die neue Koalition und beschreiben die Massendemonstrationen.

Demonstranten marschieren durch Tel-Aviv. Quelle: Tomer Apfelbaum, 2023, von der Facebook-Seite von Dov Hanin.

Der Staat Israel erfüllt nicht die Bedingungen einer liberalen Demokratie, hat keine Verfassung, kein Wahlrecht für ein Drittel der Bevölkerung und befindet sich seit 1948 in einem ständigen Ausnahmezustand. Deutsche Journalisten wissen das, aber sie machen sich und ihren Lesern etwas vor, indem sie die Proteste als Beweis dafür anführen, dass die israelische Gesellschaft eine lebendige, heterogene Gesellschaft mit liberalen Werten und einem Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit ist. Dies entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Auch in israelischen Medien wird die Bedeutung der Protestbewegung übertrieben, und auch kritische Journalisten bewerten sie äußerst positiv, um sie nicht zu entmutigen.

Tatsächlich finden jeden Samstagabend (nach Ende des Schabbats) Demonstrationen auf dem Rabin-Platz in Tel-Aviv statt. Außerdem gibt es Proteste aus mehreren Bereichen der Gesellschaft: Hohe Beamte wie der Generalstaatsanwalt Gali Baharav-Miara sprechen sich gegen die Politik der Regierung aus. Eine Petition von Schulleitern und Bürgermeistern gegen die Ernennung von Avi Maoz (siehe BIP-Aktuell #236) zum Leiter des Bildungsministeriums wurde veröffentlicht, hochrangige Wirtschaftswissenschaftler warnten, dass die Justizreformen der Regierung die Kreditwürdigkeit Israels beeinträchtigen und Investoren dazu veranlassen würden, ihre Investitionen aus Israel abzuziehen. Prof. Dr. Moshe Hazan vom Währungsausschuss der israelischen Zentralbank trat aus Protest zurück, die israelische Botschafterin in Frankreich, Yael German, und der israelische Botschafter in Kanada, Ronen Hoffman, traten beide aus Protest zurück (Quelle auf Hebräisch). Ein Hightech-Investmentfonds namens Papaya Global kündigte am 26. Januar an, dass er seinen Hauptsitz aus Angst um seine Geschäftsaussichten ins Ausland verlegen werde, und zwei weitere Fonds folgten diesem Beispiel am selben Tag. Die israelische Währung und der Aktienmarkt stürzten ab.

Diese Entwicklungen sehen wie eine starke homogene Protestbewegung aus, aber sehen wir uns das Ganze einmal genauer an. In seinem Artikel in TheMarker vom 29. Januar (Quelle auf Hebräisch) fasste Rotem Shtarkman die Äußerungen und die Politik der neuen israelischen Regierung zusammen, die den Demonstranten so viel Angst einjagen: die Ernennung korrupter Beamter in Führungspositionen, rassistische Äußerungen gegen dunkelhäutige Juden, Geldverschwendung für Extravaganzen, einschließlich des Plans, einen Palast für die Regierung zu bauen, die Abschaffung von Umweltschutzmaßnahmen, das Sammeln von Listen von LGBTQI+-Journalisten, Schritte zur Auflösung des öffentlichen Rundfunks und mehr.

Auffällig ist, dass Shtarkman in seinem Artikel nicht ein einziges Mal die Worte “Araber” oder “Palästinenser” verwendet. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Proteste in Israel nur von gut ausgebildeten Juden aus der Mittelschicht getragen werden, die um ihre Arbeitsplatzsicherheit und ihren wirtschaftlichen Wohlstand besorgt sind, während marginalisierte Gruppen, die Opfer rassistischer Gewalt werden, nicht Teil der Protestbewegung sind. Gideon Levy bezeichnete den Protest als “nur für Zionisten”. Demonstranten, die versuchten, palästinensische Flaggen zu den Demonstrationen auf dem Rabin-Platz mitzubringen, wurden bedroht und manchmal auch körperlich angegriffen (Quelle auf Hebräisch), bis sie die Veranstaltung verließen. Keinem Palästinenser wurde erlaubt, auf der Bühne zu sprechen.

Am Freitag, dem 26. Januar, verübten israelische Truppen ein Massaker in Jenin und töteten zehn Palästinenser, darunter eine ältere Frau. Am Freitag darauf tötete ein palästinensischer Schütze sieben israelische Siedler in der Siedlung Neve Yaakov in Ostjerusalem, bevor er von der israelischen Polizei erschossen wurde. Die Familie des palästinensischen Schützen wurde verhaftet und ihr Haus mit Beton versiegelt (Kollektivstrafe ohne Prozess), aber die Soldaten, die Jenin angegriffen hatten, wurden nicht bestraft.

Als Reaktion kündigten die Demonstranten auf dem Rabin-Platz an, dass sie nur zu Ehren der jüdischen Opfer, nicht der palästinensischen Opfer der Gewalt eine Schweigeminute abhalten und während der Demonstration keine Musik spielen werden. Sie erkannten nicht an, dass die neue rechtsextreme Regierung den Kreislauf der Rache weiter anheizt.

Premierminister Netanjahu hat bereits früher die Gewalt der Besatzung erfolgreich eingesetzt, um Proteste gegen ihn zum Schweigen zu bringen. Die sozialen Proteste der Sommer 2011 und 2012 wurden beendet, als Netanjahu nach einem Terroranschlag im Süden Israels die Bombardierung des Gazastreifens anordnete. Obwohl sich herausstellte, dass der Anschlag von Ägypten ausgegangen war, schob Netanjahu die Schuld auf die Palästinenser im Gazastreifen, um israelische Vergeltungsmaßnahmen zu rechtfertigen, und die Demonstranten stellten aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen die Demonstrationen ein.

Im Jahr 2014 nutzte Netanjahu die Invasion in Gaza, um den Bruch seines Versprechens zu rechtfertigen, die Verteidigungsausgaben zu kürzen. Im Jahr 2015 gewann er die Wahlen, indem er mit den Ängsten vor der so genannten “einsamen Wolfsintifada” (bei der die meisten Angreifer unbewaffnete Jugendliche waren) spielte. Die gewalttätigen Angriffe vom Mai 2021 (siehe BIP-Aktuell #170) waren die Ausnahme – das einzige Mal, dass Netanjahu nicht in der Lage war, eine Mehrheit zu gewinnen, so dass er aus der Gewalt gegen Palästinenser hätte Kapital shlagen können.

Yossi Zabari, ein linker Aktivist, hält bei der Demonstration eine Fahne in der Hand, auf der “die Fahne Palästinas” steht, weil es ihm verboten ist, bei dem Protest gegen die Regierung eine echte palästinensische Fahne zu schwenken. Quelle: Rachel Stolero, 2023. Von der Facebook-Seite von Yossi Zabari.

Nun haben sich die Demonstranten gegen die rechtsextreme Regierung jedoch erneut dafür entschieden, mit ihrem eigenen Protest ohne die Palästinenser fortzufahren. So sind die Palästinenser gezwungen, weiter ihre eigene Demonstration in Jaffa zu organisieren. Darum haben sich die Demonstranten gegen die rechtsextreme Bewegung erneut dafür entschieden, mit einem getrennten Protest fortzufahren, das heißt die Bewegung zu spalten und keine Alternative zur rassistischen Apartheidpolitik der Regierung anzubieten.

 

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