Durch alles geht ein Riss

 In FEATURED, Kultur

Leonard Cohens Song „Anthem“ spendet trotz melancholischer Grundstimmung Hoffnung. Es ist nicht schwer, melancholisch zu werden dieser Tage angesichts der Brutalität des Krieges — vor allem der immerwährenden Wiederholung, mit der er sich durch die Geschichte der Menschheit zieht. Es ist eine Melancholie, entstehend aus jener destruktiven Sinnlosigkeit, jener Absurdität menschlicher Grausamkeiten, die auch einen großen Teil des musikalischen Werkes von Leonard Cohen prägt. Der Song „Anthem“ von 1992 ist dabei einer seiner bekanntesten und paradoxerweise hoffnungsvollsten Songs. Bei ihm handelt es sich keineswegs um eine Kapitulationserklärung. Ganz im Gegenteil, mit „There is a crack in everything, that’s how the light gets in“ („Durch alles geht ein Riss, so kommt das Licht herein“) formuliert er einen der schönsten und gleichzeitig wahrsten Sätze musikalischer Poesie. Er ist vielleicht vergleichbar mit Hölderlins „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Ein Text zu der Aktion #Friedensnoten. Madita Hampe

 

Das Traurige ist gerade die Berechnung und Systematik, die immer wieder hinter kriegerischen Auseinandersetzungen steckt. Es ist ein Paradox, dass das eigentlich Primitivste und Unzivilisierteste im Repertoire menschlicher Handlungen, nämlich Gewalt und Gemetzel, auf so komplexe Weise mit allen Mitteln der Zivilisation berechnend geplant, inszeniert und umgesetzt wird.

Was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bereits 1944 als Dialektik von Kultur und Barbarei erkannten, ist in unserer bis zum Erbrechen verdinglichten, technisierten und digitalisierten Welt längst in Vergessenheit geraten. Ein weiteres Mal scheint der Mensch seine Schaffenskraft in etwas zutiefst Destruktives zu lenken. Doch das ist weder etwas, worüber es sich lohnt zu verzweifeln, noch etwas, dessen ewige Fortsetzung wir akzeptieren müssen.

Mit seiner gewohnt kraftvollen, sonoren Stimmfarbe singt Leonard Cohen, begleitet von Band und Chor, von Mördern in hohen Positionen, die eine Gewitterwolke heraufbeschwören, und dem metaphorischen Bild der geschundenen Friedenstaube, die immer wieder gekauft, verkauft und verletzt wird. Doch es gibt Hoffnung in der Dunkelheit. Cohen singt: „Ring the bells that still can ring“ („Läute die Glocken, die noch klingen können“).

Uns mag es vorkommen, als hätten wir nicht viel Macht, um diesen Krieg zu beenden, und dennoch müssen wir die Glocken des Friedens läuten, die noch klingen können, weil uns schlicht nichts anderes übrig bleibt. Über jene Glocken aus dieser Textzeile soll Cohen, der es sonst strikt ablehnte, seine oft vielschichtigen Texte zu erklären, gesagt haben: „Sie sind rar gesät, aber wir können sie finden.“

Anthem ist eine Absage an Perfektion und Ansprüche. Eine friedliche und grundsätzlich gute Gesellschaft existiert zumindest noch nicht. Letztlich ist das Versehrte das Einzige, womit wir im Leben arbeiten können, weil der Mensch an sich versehrt ist. Man kann eben nur mit dem Material arbeiten, das man hat. Paradoxerweise, und das bringt Cohen so schön und poetisch zum Ausdruck, ist es aber das Versehrte, in dem wir die Schönheit und das Licht finden, nämlich das, was den Menschen im Positiven ausmacht — nicht zivilisatorische Kulturleistungen, sondern dass universal Allgemeingültige, was uns zu Menschen macht: Liebe, Rührung, Musik, Hingabe, Humor.

All das finden wir nicht immer da, wo wir es suchen oder wenn wir es suchen. Oft kommt es durch die Risse der Grausamkeit und Destruktivität zu uns. Hier können wir beginnen uns ihm zu widmen. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht.

Krieg braucht drei bis vier Generationen, bis das transgenerationale Grauen aus einer Gesellschaft entwachsen ist. 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg könnte die erste Generation, die der Kriegsururenkel, ein Leben führen, dass nicht mehr durch die Nachwehen dieses Krieges in Mitleidenschaft gezogen wird. Dass diese Ururenkel wieder zu neuen Kriegskindern werden könnten, ist eine zutiefst traurige Vorstellung, und es gilt alles daran zu setzen, sie zu verhindern.

Vielleicht vermag es die Hoffnung, die in diesem Lied zum Tragen kommt, einen auf diesem Weg zu begleiten.

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